Buch, Deutsch, 375 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 214 mm, Gewicht: 472 g
Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands
Buch, Deutsch, 375 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 214 mm, Gewicht: 472 g
ISBN: 978-3-593-39054-3
Verlag: Campus Verlag GmbH
Wer die Religionslosigkeit der ostdeutschen Gesellschaft und die Säkularität ihrer Bürger begreifen will, muss sich neben der Religionspolitik der SED auch der Aneignung dieser Politik durch Individuen und Familien zuwenden. Auf der Basis von Interviews mit drei Generationen zeigen die Autorinnen und der Autor dieses Buches, in welcher Weise die Auseinandersetzung mit Religion in die grundlegende Konflikthaftigkeit des Lebens in der DDR eingebettet war. Es wird deutlich, welchen Spannungen kirchlich gebundene Menschen ausgesetzt waren, aber auch, in welchem Maße in Familien säkulare Traditionen geschaffen wurden. Nicht zuletzt in der jüngsten Generation lässt sich jedoch – in Absetzung davon – ein neu erwachtes Interesse an Religion ausmachen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religion & Politik, Religionsfreiheit
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Religionssoziologie
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Politik & Religion, Religionsfreiheit
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
Weitere Infos & Material
Inhalt
Vorwort 11
1. Einleitung: Säkularität und Religiosität im Osten Deutschlands - Zur Logik der Aneignung forcierter Säkularisierung 13
1.1 Säkularisierung im Osten Deutschlands: Ein "erfolgreiches" Experiment 13
1.2 Forcierte Säkularisierung und deren subjektive Aneignung 14
1.3 Subjektive und familiale Logiken des Säkularisierungsprozesses 18
1.4 Familien als Schnittpunkte gesellschaftlicher Generationenverhältnisse 20
1.5 Kulturelle Semantiken im religiös-weltanschaulichen Feld 23
1.6 Religiosität und Generationendynamik 26
2. Forschungspraxis und Methoden 29
2.1 Forschung nach dem Systemumbruch - Methodische Überlegungen zur Erschließung der Lebensrealität in der DDR und in Ostdeutschland 29
2.2 Vertrautheit, Distanz und Vertrauenswürdigkeit im Interview 31
2.3 Verschränkung von Individual-, Familien- und Generationenperspektive: Das biographische Familieninterview 36
2.3.1 Familienkommunikation im Interview 37
2.3.2 Rekrutierung von Familien und Einzelpersonen für Interviews 43
2.3.3 Zum Ablauf des Familieninterviews 45
2.4 Biographische Einzelinterviews als weitere Erhebungsform 50
2.5 Fragen des Samplings 51
2.6 Zur Auswertung 53
2.7 Zur Darstellung 55
3. Generationenbeziehung und Familienkommunikation 57
3.1 Der Generationenansatz 59
3.1.1 Generation als historische Generation 59
3.1.2 Generation als familiale Generation 64
3.2 Gesellschaftliche und familiale Generationen in Ostdeutschland 67
3.3 Generation als kulturelles Deutungsmuster - Zur Verknüpfung des familialen und historischen Generationenkonzeptes 73
3.4 Generationenverhältnisse in der Familienkommunikation 74
3.4.1 Familienkommunikation als Repräsentation familialer Geschlossenheit 77
3.4.2 Generationendifferenzen und ihre kommunikative Bearbeitung 83
3.4.3 Diskontinuitäten und Konflikte - Problematisierung von Differenz 108
3.5 Fazit 114
4. Religion im Konflikt: Ostdeutsche Familien zwischen Säkularisierung, kirchlicher Tradition und religiöser Neuorientierung 117
4.1. Bestandsaufnahme der religiösen Entwicklung in der DDR und in Ostdeutschland 117
4.2. Konfliktmodell des ostdeutschen Säkularisierungsprozesses 120
4.2.1 Die ostdeutsche Säkularisierung als Problem der Religionssoziologie 120
4.2.2 Konflikttheoretische Perspektiven in der Religionssoziologie 125
4.2.3 Säkularisierung als Konflikt: Das Modell 128
4.2.4 Säkularisierung als Konflikt: Der Fall der DDR 131
4.3. Säkularisierungsprozesse in ostdeutschen Familien 137
4.3.1 Konflikt um Mitgliedschaft und rituelle Partizipation 139
4.3.2 Konflikt um Weltdeutungen 147
4.3.3 Konflikt um Ethik und Moral 154
4.3.4 Veränderung der Konfliktlinien in den Generationslagerungen 158
4.3.5 Sicherung der Säkularität nach 1989 164
4.4. Zwischen "Durchhalten" und "Jetzt erst recht". Strategien der Aufrechterhaltung von Religiositätund Kirchenbindung in der DDR 167
4.4.1 Erhaltung und Behauptung der Kirchenbindung 168
4.4.2 Zuwendung zur Kirche aufgrund ihrer politischen Rolle in der DDR 179
4.4.3 Kirche und Kirchenbindung nach 1989 185
4.5 Fazit 193
5. "Was glauben Sie, kommt nach dem Tod?" - Große Transzendenz in der postsozialistischen Gesellschaft
(mit Christine Schaumburg) 197
5.1 Große Transzendenz in säkularisierten Kontexten 197
5.2 "Was glauben Sie, kommt nach dem Tod?" 200
5.2.1 Christlich geprägte Semantiken: Vom Auferstehungsglauben zum "Offenlassen" der Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode 204
5.2.2 Atheistische Semantiken: Vom Ende der Person zum biologischen Kreislauf 207
5.2.3 Agnostische Spiritualität: Analogieschlüsse, Plausibilitäten, Semantiken 212
5.3 Agnostische Spiritualität: Transzendente Orientierungen auf dem philosophisch-weltanschaulichen Markt 223
6. Religiöse Neuorientierungen in der jüngsten Generation (mit Anja Frank) 225
6.1 Ausgangslage 225
6.2 Religiöse Neuorientierungen im Postsozialismus 230
6.2.1 Religion als Kulturgut, Mythos und ästhetische Erfahrung 231
6.2.2 Religion als Medium gesellschaftlicher Utopien und der Arbeit an sich selbst 238
6.2.3 Religion als charismatische Vergemeinschaftung 248
6.2.4 Religion als transzendente Spekulation 252
6.3 Konsequenzen für das Generationenverhältnis 256
6.3.1 Abgrenzung vom Materialismus der Älteren 256
6.3.2 Überbrückung familialer Differenzen 258
6.4 Fazit 259
7. Gemeinschaft, Ehrlichkeit, Arbeit: Mittlere Transzendenzen in der postsozialistischen Gesellschaft 263
7.1 Mittlere Transzendenzen in postsozialistischen und postreligiösen Kontexten 263
7.2 Gemeinschaft, Ehrlichkeit, Arbeit - "Mittlere Transzendenzen" in der postsozialistischen und postreligiösen Gesellschaft 266
7.2.1 "Gesellschaft als Gemeinschaft" und die Kritik des Materialismus 267
7.2.2 "Ehrlichkeit" 278
7.2.3 "Arbeit" 282
7.3 Gemeinschaft, Ehrlichkeit, Arbeit - Identitäre Verankerungen im Prozess des langen, schnellen Übergangs 290
8. Gesellschaftlicher Konflikt und kulturelle Semantik: Zu einer Kultursoziologie forcierter Säkularität 293
8.1 Bekenntnis(zwang), "Zweigleisigkeit" und die Suche nach Räumen der Authentizität 294
8.1.1 Bekenntniszwang und Neutralisierung konkurrierender Bindungen 296
8.1.2 Das Äußere im Inneren 298
8.1.3 Zweigleisigkeit 299
8.1.4 Räume der Authentizität 301
8.1.5 Semantische Grenzziehungen 303
8.2 Theoretische Bestimmung: Gesellschaftsstruktur, soziale Deutungsmuster, situiertes Handeln 303
8.3 Gesellschaftsstruktur 308
8.3.1 Die Ausdifferenzierung von Subwelten: Öffentlichkeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit 308
8.3.2 Kreise als "authentische" Gegenwelten und die Unhintergehbarkeit des Gesellschaftlichen 311
8.4 Soziale Grenzziehungen und kulturelle Deutungsmuster 323
8.4.1 Exklusion: "Man kann nur einem Herren dienen" / "Irgendwann musste dich bekennen" 325
8.4.2 Sphärendifferenzierung und geteilte Loyalitäten: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist"/ "Wessen Brot ich ess', dessen Lied ich sing" 331
8.4.3 Integrationismus: "Sozialität und Religiosität" 343
8.5 Semantiken der Diktatur und was aus ihnen geworden ist 346
9. Forcierte Säkularität: Das erzwungene Eigene 349
Anhang 353
Literatur 357
1. Einleitung: Säkularität und Religiosität im Osten Deutschlands - Zur Logik der Aneignung forcierter Säkularisierung
1.1 Säkularisierung im Osten Deutschlands: Ein ›erfolgreiches‹ Experiment
Im Hinblick auf den Prozess der Säkularisierung erscheint die Entwicklung im Osten Deutschlands wie ein riesiges Experiment, das in relativ kurzer Zeit unter Realbedingungen durchgeführt wurde. Im ersten Teil des Experiments ging es darum, wie und in welchem Maße es dem Staat gelingen würde, die kirchlichen und religiösen Bindungen und Überzeugungen der Bevölkerung zu minimieren. Vor diesem Hintergrund erscheint der Prozess, der gegenwärtig im Gange ist, wie der zweite Teil des Experiments: Die Frage ist nun, was geschieht, nachdem die säkularistische Politik an ihr Ende gekommen ist.
Was den ersten Teil des Experiments angeht, steht dessen Erfolg außer Zweifel: Es ist dem Staat gelungen, Kirchenmitgliedschaft, religiöse Praxis und Glaubensüberzeugungen der Bewohner auf einen weltweiten Tiefstand zu bringen. Ostdeutschland gehört zu den Regionen mit der niedrigsten Rate der Kirchenmitgliedschaft und dem höchsten Anteil von Personen, die sich selbst als "Atheisten" bezeichnen (Zulehner/Denz 1994; Tomka/Zulehner 1999: 27; 2000). Im Hinblick auf die gegenwärtige Entwicklung - um im Bild zu bleiben: den zweiten Teil des Experiments - ist zu sagen, dass die Politik des Staates auch insofern erfolgreich war, als es ihr gelang, einen dauerhaften Effekt zu erzeugen. Was einige Beobachter, insbesondere aus dem kirchlichen Bereich, nach der deutschen Vereinigung erwarteten, dass nämlich Sekten und religiöse Bewegungen die ostdeutsche Bevölkerung überfluten und ›verführen‹ würden - eine Bevölkerung, die als gleichermaßen bedürftig nach Religion wie als unfähig angesehen wurde, die diversen Angebote zu beurteilen - trat offensichtlich nicht ein. Zwar hat sich die religiöse Landschaft in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung merklich pluralisiert - gemessen an den verschiedenen Gruppierungen, die mittlerweile Dependancen in ostdeutschen Städten haben (vgl. zum Beispiel re.form leipzig 2003) - dennoch scheint dieser Landstrich von der vielfach beschworenen "Wiederkehr der Religion" (Graf 2004) insgesamt wenig berührt. Lediglich in den jüngeren Altersgruppen stellt sich die Sache mittlerweile etwas anders dar. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf mögliche Generationenunterschiede und deren Dynamiken.
Durch die hartnäckige Säkularität des Ostens hat sich nach der Vereinigung auch die religiöse Verteilung in Gesamtdeutschland verschoben: Ein stabiles Drittel der Deutschen ist heute konfessionslos und - wenn auch damit nicht ganz deckungsgleich - etwa ein Drittel der Deutschen kann man auch als dezidiert "nicht religiös" bezeichnen (Wohlrab-Sahr 2009). Die Religionspolitik der SED scheint daher - was ihre langfristigen Folgen angeht - eines der ›erfolgreichsten‹ Projekte der ehemaligen DDR gewesen zu sein. Das Experiment der nachhaltigen Säkularisierung scheint gelungen. Aber gibt es dann überhaupt noch etwas zu verstehen?