Woller | Gerd Müller | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 354 Seiten

Woller Gerd Müller

oder Wie das große Geld in den Fußball kam

E-Book, Deutsch, 354 Seiten

ISBN: 978-3-406-75434-0
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Sie nannten ihn das "achte Fußball-Weltwunder" - und meinten damit Gerd Müller, der als Torjäger noch heute alle Rekorde hält. Wer war dieser Mann, der vom Provinzkicker aus ärmlichsten Verhältnissen zum Weltstar aufstieg, reich wurde und dann nach einem Ausflug in das Fußballentwicklungsland Amerika alkoholsüchtig in der Gosse landete?

Der Historiker Hans Woller schildert die Etappen dieser ungewöhnlichen Karriere - aus kritischer Distanz und zugleich voller Empathie. Die Geschichte des FC Bayern München ist dabei stets präsent. Müllers Verein etablierte sich in den 1960er und 1970er Jahren an der Spitze des europäischen Fußballs, bewegte sich aber immer am Rande des finanziellen Ruins. Wie die Insolvenz abgewendet werden konnte, welche zwielichtige Rolle dabei die bayerische Staatsregierung und die CSU spielten und in welchem Maße Superstars wie Müller oder Beckenbauer von diesen Machenschaften profitierten, ist bisher noch nie so eindringlich dargestellt worden. Fußballgeschichte wird hier zur Zeitgeschichte, die damit eine neue wissenschaftliche Dimension gewinnt.
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1. Reiz und Tücken einer Fußballerbiografie
56. Spielminute: Der Ball ist lange in der Luft. Gerd Müller weiß genau, wo er nach der weiten Flanke von Jupp Kapellmann landen wird. Seine Gegenspieler hingegen haben die Ordnung in der Abwehr verloren. Sie sind die Beute völliger Konfusion und erkennen nicht, dass sich auf der rechten Außenbahn der gefürchtete Torjäger des FC Bayern München dem Strafraum nähert. Dann geht, wie häufig, alles so schnell, dass selbst der routinierte Fernsehkommentator den Faden verliert: Müller ist bereits auf der Höhe des Elfmeterpunkts und dringt im nächsten Moment in den Fünfmeterraum ein. Dort stoppt er den Ball in vollem Lauf mit dem rechten Innenrist, lässt ihn kurz vor der Auslinie aufspringen und «kanoniert» ihn dann, «kalt bis ans Herz», aus spitzem Winkel links unter den Querbalken.[1] Der Torhüter hatte gegen den Kunstschuss keine Chance. Der FC Bayern München gewann an diesem 17. Mai 1974 das Endspiel im Europapokal der Landesmeister gegen Atlético Madrid mit 4:0, Müller steuerte mit einem genialen Heber aus zehn Meter Entfernung noch ein weiteres Tor zu dem legendären Sieg bei.[2] Alles andere wäre eine Überraschung gewesen. Seit Gerd Müller zehn Jahre zuvor zu den Bayern gekommen war, schoss er ein Tor nach dem anderen. Er nutzte fast jede Gelegenheit, die sich ihm bot.[3] Viele Treffer waren spektakulär, voller Witz und Eleganz, zahlreiche fein herausgespielt. Dazu kam eine Unmenge Abstaubertore, die ihn als «Genie des Ungenialen»[4] erscheinen ließen und den frühen Ruhm des FC Bayern begründeten. Es habe «gemüllert»,[5] sagte man, um ein Phänomen zu beschreiben, das die Fußballwelt erstaunte, die Bayern-Fans entzückte und die gegnerischen Mannschaften in die Verzweiflung trieb. Müller ist bis heute der einzige Fußballspieler, «dessen besondere Kunst nicht nur mit einem schmückenden Beiwort, sondern mit einem Verb verewigt wurde».[6] Thomas, der neue Müller, stellt sich in diese Tradition innovativer Wortschöpfung, die nichts mit ihm zu tun hat. Er heißt seinen Twitter-Account «esmuellert» und müsste dafür eigentlich Tantiemen an einen viel Größeren entrichten.[7] Nicht umsonst nannte man Gerd Müller das «achte Fußball-Weltwunder».[8] Jedes Kind kannte ihn – aus der Presse, aus dem Radio, aus dem Fernsehen, aus der Werbung. Müller war fast überall. 1974 stand er im Zenit seines Könnens und seines Ruhms. Er überragte sogar den «Kaiser» Franz Beckenbauer, den Kapitän des FC Bayern und der Nationalmannschaft, ebenfalls ein Jahrhundertfußballer. Gerd Müller gewann damals binnen weniger Monate alles: Er wurde mit dem FC Bayern deutscher Meister, seine Mannschaft errang – als erster deutscher Klub – den Europapokal der Landesmeister, die heutige Champions League, und mit der Nationalmannschaft wurde er Weltmeister. Franz Beckenbauer, Paul Breitner, Uli Hoeneß, Sepp Maier und Georg «Katsche» Schwarzenbeck waren ebenso erfolgreich,[9] doch Gerd Müller feierte darüber hinaus ganz persönliche Triumphe: Er schoss in fast allen Wettbewerben die wichtigen Tore – auch der Siegtreffer beim 2:1 gegen die Niederlande im Finale der Weltmeisterschaft im Münchner Olympiastadion war sein Werk. Im Trikot der Nationalmannschaft erzielte er 68 Tore bei nur 62 Einsätzen. In der Bundesliga war er ebenfalls der Schrecken der Torhüter, in 427 Spielen traf er 365 Mal. «Es gibt kein Rezept gegen die Tore von Gerd Müller», erkannte die Münchner «Abendzeitung» im März 1972. «Man betrachtet sie auf den Schauplätzen der Bundesliga schon als höhere Gewalt.»[10] Kein anderer Spieler trug sich häufiger in die Torjägerliste der Bundesliga ein; siebenmal war er erfolgreichster Schütze der Saison. Experten billigen Müllers Rekorden Ewigkeitswert zu.[11] Sein Leben als Fußballer war lange ein Traum, er selbst ein privilegiertes Schoßkind des Glücks – so schien es wenigstens. Dass den Toren, dem Traum und den glamourösen Begleiterscheinungen des Erfolgs eine Tragödie folgte, wurde kaum bekannt – ihr schrecklicher Schluss fast ganz ignoriert. Die Karriere ging Anfang der 1980er Jahre nach einem Ausflug in das Fußballentwicklungsland Amerika zu Ende, das Experiment als Geschäftsmann scheiterte kurz danach. Müller taumelte in eine schwere Krise und griff immer öfter zur Flasche. Seine Ehe stand vor dem Aus, das Geld wurde knapp, der Alkohol beherrschte sein Leben und drohte es schließlich zu ruinieren. Selbstmord schien der einzige Ausweg zu sein – Müller hätte ihn beinahe eingeschlagen. Vor dem Sturz ins Nichts bewahrte ihn sein alter Verein. Der FC Bayern holte Gerd Müller 1991 aus der Gosse, als der einstige Weltstar nur noch besaß, was er am Leibe trug. Uli Hoeneß überredete ihn zu einer Entziehungskur und bot ihm eine berufliche Perspektive als Trainer. Die Bayern betreuten ihn auch dann noch, als sich eine schwere Demenzerkrankung meldete und nicht mehr stoppen ließ. Wer war dieser Mann, von dem der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit schrieb, er sei «seiner Zeit im Erspüren von Energielinien und Kraftfeldern weit voraus» gewesen und habe ein «Auge, mit dem man mehr sieht auf dem Feld, als eigentlich zu sehen ist»?[12] Der Torjäger stammte aus kleinsten Verhältnissen, sein Bildungskapital war gleich null. Viele beschrieben ihn deshalb als weltfremden Tropf, der mit unendlichem Glück zahlreiche Abstaubertore erzielt habe, im Leben abseits des Platzes aber nicht zurechtgekommen sei. Der Aufstieg vom Provinzkicker zum Weltstar habe ihn ebenso überfordert wie das große Geld und die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde. Gerd Müller ließ sich so einfach in die Schubladen der Klischees stecken – und er half dabei selbst noch kräftig mit. Spekulation, Vorurteil und Dramatisierung ersetzten wie selbstverständlich das Argument. Müller hatte sein Etikett als eindimensionaler Abstauber und Mensch – fertig, aus. Die Gründe für seinen Absturz wurden meist nicht einmal erwogen, man hätte sonst äußerst heikle Fragen stellen müssen. Hatte sein Schicksal vielleicht etwas mit dem Haifischbecken FC Bayern zu tun? Mit gewissenlosen Beratern, die ihm das Geld aus der Tasche zogen? Mit zwielichtigen Freunden aus der Politik? Mit seiner Ehe? Pleiten und Katastrophen sind im bezahlten Fußball wahrhaft keine seltenen Phänomene. Der neue Markt der Medien- und Fernsehgesellschaft stellte viele Profis vor unlösbare Probleme. Müller steht deshalb mitnichten nur für sich allein. An seinem Beispiel zeigen sich vielmehr die Licht- und Schattenseiten des Profifußballs, die Aufstiegs- und Erfolgschancen sowie die Strapazen und Risiken, die das Leben im permanenten Ausnahmezustand mit sich brachte – immer im Fokus der Öffentlichkeit, immer in der Kritik und immer unter höchstem Rivalitäts- und Erfolgsdruck. Gerade Topstars wie Müller gestand man keine Atempause und keine Schwäche zu. Diese Themen stehen im Mittelpunkt dieses Buches über eine Fußballlegende, die noch immer der Richtwert ist, an dem die Fachleute und der Stammtisch Müllers Nachfolger messen. Das Urteil «einer wie Müller oder keiner wie Müller» entscheidet bis heute über den historischen Rang eines Torjägers. Das Buch möchte aber bei der Nachzeichnung der wechselvollen Biografie voller Dramatik und bitterer Melancholie nicht stehen bleiben. Neben Müller geht es auch um die Geschichte des erfolgreichsten deutschen Fußballvereins, und es geht um die Gesellschaft, in welcher Gerd Müller und der FC Bayern München in den 1960er und 1970er Jahren agierten. Die Bayern machten damals den letzten Schritt vom Amateur- zum Profifußball – ohne zu wissen, was die Zukunft bereithielt. Der Beruf des bezahlten Fußballspielers bildete sich ja erst heraus, auch das Anforderungsprofil für Manager, Vereinsärzte und das sonstige Personal am Hofe von König Fußball. Hätte den Verantwortlichen des FC Bayern 1965, im Jahr des Aufstiegs in die Bundesliga, jemand prophezeit, ihr Verein werde binnen weniger Jahre der scheinbar übermächtigen Konkurrenz des TSV 1860 München den Rang ablaufen, danach rasch zu einem europäischen Spitzenklub avancieren und Millionen umsetzen – der Bayern-Präsident und seine Mitarbeiter hätten solche Vorhersagen als Hirngespinste abgetan. Es waren aber keine. Die Geschichte dieser Erfolge und ihrer Voraussetzungen muss noch geschrieben werden. Am Beispiel Müllers wird hier ein Anfang gemacht und erstmals hineingeleuchtet in das soziale, politische und kulturelle Milieu des Profifußballs der 1960er und 1970er Jahre, der als ehrlich, volksnah und vor allem transparent galt ...


"Hans Woller war lange Jahre Mitarbeiter im Institut für Zeitgeschichte und von 1994 bis 2015 Chefredakteur der "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte".


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