E-Book, Deutsch, 366 Seiten
Xue Schattenvolk
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7518-0980-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 366 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0980-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Ratte streift durch die dunklen Gassen und Häuser eines unterirdischen Slums und berichtet von ihren Ängsten und Erinnerungen, Sehnsüchten und skurrilen Begegnungen. Zwei Jungen dringen nachts in eine fremde Küche ein und finden sich in einem finsteren Raum wieder, inmitten unsichtbarer Köche und verführerischer Gerüche. Eine alte Zikade, Vorsängerin eines Chors, wird im Kampf mit einer Spinne zerlegt, nur ihr großer Kopf überlebt, und so konzentriert sie ihr Denken nun darauf, den eigenen Körper wieder auszubilden. Diese und andere Figuren, die alltäglicher und zugleich fantastischer nicht sein könnten, bewegen sich traumwandlerisch in einer von den Gesetzen der Logik befreiten, in schillernden Tönen erzählten Welt. Can Xue, eine Meisterin der Erzählkunst, nimmt die Leserinnen und Leser in ihren Prosastücken mit auf eine atemberaubende Reise durch innere und äußere Landschaften und erkundet aus ganz eigenen Perspektiven das große Ganze unserer Existenz.
Can Xue (??) ist Nom de Plume der 1953 in Changsha geborenen chinesischen Autorin Deng Xiaohua. Ihre Eltern, beide Verleger, fielen als Intellektuelle in den späten 1950er Jahren Maos Kampagne gegen Rechtsabweichler und zehn Jahre später der Kulturrevolution zum Opfer. Seit mehreren Jahrzehnten ist Can Xue die wichtigste Vertreterin der experimentellen literarischen Avantgarde in China. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihr Roman Liebe im neuen Jahrtausend wurde für den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt 2022 nominiert.
Weitere Infos & Material
Geschichten aus dem Slum
Teil 1
Der Slum ist mein Zuhause. Ich wohne dort nicht in einem bestimmten Haus; solange es ein Zimmer mit einem Ofen gibt, kann ich überall bleiben. Hier wird Kohle gefördert, und alle lassen nachts ein Feuer an. Ich lege mich in eine Ecke der Herdstelle, um nicht zu frieren; nachts habe ich Angst vor der Kälte. Am unteren Ende der Treppe ist eine große Senke, und genau in dieser Senke liegt der Slum. Für die Menschen ist dieser Ort eine Qual, besonders die Kinder finden nachts kaum Schlaf. Sie schreien vor Schreck auf, springen aus dem Bett und rennen barfuß aus dem Haus. Sie laufen und laufen durch die engen Gassen, sobald sie stehen bleiben, erstarren sie vor Kälte. Ihre Eltern kommen erst im Morgengrauen, um sie einzusammeln. Die Väter und Mütter sind ganz schwarze, ganz magere Leute, solche, in deren Gesichtern man nur noch die Augäpfel hin und her rollen sieht. Meiner Beobachtung nach schlafen sie nachts nicht wirklich, sondern liegen nur halb wach auf dem Bett. Obwohl sie halb wach sind, träumen sie viel, und nicht nur Eheleute reden miteinander im Traum, sondern auch zwischen Nachbarn ergeben sich hinter dünnen, aus Bambusstäbchen gewebten Trennwänden Gespräche. Sobald ich höre, worum es geht, weiß ich, dass es Traumreden sind. Manchmal streiten sie im Traum, prügeln sich, doch ihre Körper berühren sich dabei nicht, jeder Faustschlag geht ins Leere. Ich habe vergessen, die Häuser zu erwähnen. Sie sind alle miteinander verbunden und in langen Reihen angeordnet. Haben diese Menschen ihre Häuser vielleicht aus Angst so gebaut? Ich habe das Gefühl, wenn man ein solches Haus bewohnt, dann ist es, als lebe man mit allen anderen zusammen. Jedes Haus hat eine große Tür, doch die Zimmer darin haben nur wenige, kleine Fenster und sind dunkel und dämmrig. Im Winter kann ich mich nie ganz daran erinnern, welches Haus einen Ofen hat und welches nicht. Wenn ich aus Versehen in ein Haus ohne Ofen gehe, dann halten die kleinen Kinder im Haus oft meine Füße fest und lassen mich nicht wieder fort. Wenn ich mich gewaltsam befreie, reiße ich mir die Haut an den Füßen auf. Die Familien, die nicht am Herd kochen, essen wahrscheinlich rohe Speisen und sind nur deshalb so wild. Die Hausratte lernte ich am helllichten Tag kennen. Am helllichten Tag war es im Haus nicht recht viel heller als nachts. Ich hörte etwas an einem Knochen nagen und dachte, es sei die Katze. Also sprang ich vom Ofen hinunter und lief hin, um nachzusehen. Ah, es war nicht die Katze, es war eine Hausratte, sie war doppelt so groß wie eine gewöhnliche Hausratte. Verdammt! Sie nagte an Großväterchens Ferse. Ich sah den nackten weißen Knochen, doch kein Blut. Die Hausratte war freudig erregt, zitterte am ganzen Körper, als knaknakna-knabbere sie am besten Knochen der Welt. Ich kannte Großväterchen ziemlich gut. Hinter dem Haus hielt er zwei Schweine, und gerade schrien sie in ihrem Stall vor Hunger. Er war doch nicht etwa tot? Ich lief ans Kopfende seines Betts und sah nach. Er war nicht tot, er spielte mit seiner Brille gegen Alterssichtigkeit. Normalerweise trug er diese Brille, wenn er mit einem Blatt Papier in Händen vor der Haustür saß und das Muster darauf betrachtete, sehr, sehr lange. Wie sollte er mit einer abgeknabberten Ferse seine Schweine füttern gehen? Schließlich war die Hausratte satt, drehte sich zu mir um, nickte unmerklich und fiel – beschämt über ihren vollgefressenen Bauch – mit einem Knall zu Boden. Ich fragte mich neugierig, wie sie wohl zurück in ihr Loch schlüpfen würde. In diesem Raum gab es vermutlich gar kein so großes Loch. Doch die Hausratte schlüpfte in überhaupt kein Loch. Behäbig drehte sie eine Runde durch das Haus, und fast schien es, als habe sie Schmerzen vom vielen Essen. Bei dem Gedanken, was sie alles gefressen hatte, wurde mir speiübel. Nachdem sie ihre Runde gelaufen war, fühlte sie sich vom Essen müde, nickte gegen eine Wand gelehnt ein und würdigte mich keines Blickes mehr. Großväterchen erhob sich vom Bett und wollte einen Lappen um seine Ferse wickeln, den er als Verband bereits zurechtgelegt hatte. Ritsch, ratsch zerriss er den Stoff und war offensichtlich gut bei Kräften. Er wickelte und wickelte, bis er seine Ferse zu einem großen Stoffbündel geschnürt hatte. Die Schweine im Pferch quiekten immer lauter, als würden sie gleich über den Zaun springen. Er stieg aus dem Bett. An den verletzten Fuß zog er keinen Schuh, sondern trat damit direkt auf den Boden. Tatsächlich ging er hinter das Haus, um die Schweine zu füttern. Was war hier eigentlich los? Warum hatte er zugelassen, dass die Hausratte an seinem Fuß nagte? War es möglich, dass dort ein Tumor wuchs und er die Hausratte einen chirurgischen Eingriff an sich vornehmen ließ? Was für eine beachtliche Willenskraft! Als ich wieder auf die Hausratte blickte, stellte ich fest, dass ihr Körper ganz deutlich angeschwollen war und auch ihre Beine dick geworden waren. Ob das Zeug, das sie gefressen hatte, giftig war? Sie schlief. Ich fühlte mich bedrückt. Mit schwerem Herzen ging ich vor die Tür, um Luft zu schnappen. Der Winter war vorbei. Die Kinder, die draußen hin und her rannten, wollten nicht ins Haus zurückkommen. Manche schliefen sogar am Straßenrand. Ihre Eltern hatten es gar nicht eilig, sie hereinzuholen, und ließen sie so lange schlafen, wie sie wollten. Die Kinder mussten ohnehin nicht arbeiten. Wenn sie nicht herumliefen, schliefen sie. Manche konnten wahrscheinlich Tag und Nacht nicht voneinander unterscheiden, was sie nicht weiter interessierte. Es gab nur eine Sache, die sie interessierte, und das war die Ankunft des Schubkarrenkonvois. Wenn der Konvoi von Schubkarren, die Getreide geladen hatten, mit quietschenden Rädern durch die engen Gassen gefahren kam, liefen alle Kinder herbei, kletterten jeweils auf einen Karren und setzten sich stolz und hohen Mutes auf das Mehl. Die Kärrner, die aus fremden Provinzen stammten, lächelten geradeheraus und jagten sie nicht fort. Dem Hörensagen nach stammten sie aus den Ebenen von ewigem Schnee und Eis. Beim Abladen des Mehls rannten die Kinder weg. Die stirnrunzelnden Eltern öffneten die Türen weit und taten so, als sei ihnen das Getreide gleichgültig. »Wie ist das Wetter im Norden?«, fragten sie die Kärrner. »Es wird noch einen Kälteeinbruch geben.« Für gewöhnlich bleibe ich nicht allzu lange bei einer Familie wohnen, um zu vermeiden, dass sie mich als Mitglied ihres Haushalts behandeln. Doch ich brauche nur einmal aufzutauchen, da bemerken sie mich schon. Sie stellen mir Reste auf den Herd, und ich komme in der Stille der Nacht, um sie mir zu holen. Die Sache mit dem Essen erfüllt mich immer mit Scham, in der Hinsicht gab es zwischen mir und den Hausratten einen himmelweiten Unterschied. Ich esse ganz vorsichtig, gebe dabei möglichst keinen Laut von mir, doch in Wirklichkeit bin ich so gierig, dass ich die kleinen Teller ganz sauberlecke. Was das Essen anbetrifft, so gibt es keine Familie, die mich schlecht behandelt. Was immer sie essen, sie geben mir etwas davon ab. Natürlich sind es stets nur Reste. Wofür halten sie mich wohl? Sehr selten höre ich, wie sie über mich sprechen. Sie verwenden nur kurze Sätze, um auszudrücken, wie sie mich wahrnehmen: »Schon gekommen?«, »Ja.« »Schon gegessen?« »Ja, ratzeputz!« Sie haben großes Mitgefühl mit mir, aber das wollen sie keinesfalls aussprechen. Diese knappen Gespräche in dem stockdunklen Raum klingen für mich wie ein Donnerschlag. Vom Boden aus auf den Herd zu springen, kostet mich sehr viel Kraft. Das bemerken sie und rücken einen Schemel an den Herd. Sie sind mir gegenüber derart rücksichtsvoll, dass es zu einer mentalen Last für mich wird. Ich will kein zu enges Verhältnis mit ihnen, insbesondere will ich nichts mit ihrem familiären Krach zu tun haben, ich meine den Krach, den die Kinder mitten in der Nacht auslösen. Von welchen Dämonen werden die Kinder denn erschreckt? Ist das Zuhause in ihren Augen etwa der Ort, an dem sich Dämonen verstecken? Fühlen sie sich denn, nachdem sie hinausgelaufen sind, in Sicherheit? In solchen Momenten stehen die Mütter in der weit geöffneten Tür und rufen immer wieder: »Komm zurück, mein Schatz, wohin willst du denn?« Die Beine dieser Mütter zittern, sind sie überhaupt wach? Früher war ich diese Treppe viele Male hinaufgestiegen, um dem Wirrwarr hier unten zu entkommen. Die Sonne schien, und die zarte Haut auf meinem Rücken wurde rissig. Auf der großen Straße hatte ich auf einmal keinen Schatten mehr, ach! Ich ging und ging auf der asphaltierten Straße, mein Mund war trocken und ausgefranst, alles, was ich suchte, war ein schwarzdunkler Ort, um mich auszuruhen und einen Schluck zu trinken. Doch wo in dieser Stadt gab es einen dunklen Ort? Die Außenmauern der Häuser waren ganz aus Glas, die Dächer aus einem Metall, das in Flammen...