E-Book, Deutsch, 574 Seiten
Zingler Im Tunnel
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-627-02224-2
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 574 Seiten
ISBN: 978-3-627-02224-2
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Peter Zingler, 1944 geboren, aufgewachsen im Rheinland. Schulabbruch, danach Ein- und Ausbrecher. Aufenthalte in Marokko, Sizilien, Jamaika, über ein Jahrzehnt in internationalen Gefängnissen. Nach der letzten Haftentlassung 1985 Journalist, Buch- und Filmautor, Regisseur. Drehbücher für mehr als 70 Kino- und Fernsehfilme, darunter 19 Tatort-Folgen. Der Adolf-Grimme-Preisträger und Vater von sechs Kindern lebt in Frankfurt am Main. Die ARD wird im Februar 2015 den Zweiteiler »Die Himmelsleiter« senden, zu dem Peter Zingler in Anlehnung an seine eigenen Nachkriegserlebnisse das Drehbuch schrieb. http://www.himmelsleiter-film.de/site/ »Wäre das alles nicht Wirklichkeit, es wäre ein wirklich schräger Film.« (Der Spiegel) »Ein 600 Seiten dickes Buch, das sich mit der Geschwindigkeit von in der Sonne schmelzendem Schnee weg lesen lässt!« (ZEIT online) »Pralle Ganovenvita.« (Frankfurter Neue Presse) »Der Film ?Die Himmelsleiter? zeigt nur die Anfänge. Wer es breiter, opulenter, rasanter und rasend unterhaltsam haben will, sollte sich Zinglers Buch kaufen.« (Journal Frankfurt) »Seine Lebensgeschichte: Abenteuerlich und unglaublich!« (hr1)
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
DER LÄNGSTE TAG
Montag, 30.12., 6.00 Uhr
Die Vorfreude gilt als die schönste Freude, weil man sich auf etwas freut, was es eventuell nicht gibt, aber dennoch die Phantasie beflügelt.
Niemand, aber auch niemand, weder der Papst noch der Dalai Lama oder irgendeiner dieser Gottesvertreter, Gurus, Wahrsager, Sternedeuter oder Esoteriker kann voraussagen, was das Leben in der nächsten Stunde für einen bereithält. Und auch ein Bauer weiß nur: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie es ist.
Natürlich versuchen Menschen, seitdem es sie gibt, in die Zukunft zu schauen. Alleine aus Angst, dass sich etwas zusammenbraut, was gefährlich werden könnte. Auch Paul hatte diese Angst, als ihm morgens um sechs, beim Frühstück auf dem Gefängnisflur der Abteilungsbeamte die erwarteten Worte zurief: »Zakowski, schon gepackt? Gleich geht’s zur Kammer, Sie werden heute entlassen.« Er grinste dabei. Das sollte wohl bedeuten, dass auch er sich freute, einen wie Paul von der Abteilung wegzukriegen. Aber was auch immer der Beamte wirklich dachte, interessierte niemanden, höchstens seine Frau, wenn er denn eine hatte.
Natürlich hatte Paul gepackt, obwohl er allen Regularien gemäß gar nicht hätte entlassen werden dürfen. Das war ihm klar, und deshalb hatte er sich schon einige Tage lang mit beschäftigt, die ihm natürlich vor allem Schlaflosigkeit einbrachten. Was war passiert?
Vor einer Woche, am 23. Dezember, hatte ihm doch tatsächlich ein Richter der Vollstreckungskammer Darmstadt den Rest seiner zweijährigen Haftstrafe des Landgerichts München zur Bewährung ausgesetzt. Üblicherweise dauert es eine Woche, bis ein solcher Beschluss rechtskräftig wird, um der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zu geben, Einspruch einzulegen. Doch bisher war nichts geschehen.
Aber die Sache war noch viel komplizierter. Die zwei Jahre waren nicht die einzige Strafe, die Paul Zakowski absitzen musste. Nach dem Ende der jetzigen warteten weitere zwei Jahre und vier Monate des Landgerichts Bonn und noch mal vier Jahre des Landgerichts Frankfurt auf ihn. Doch für keine dieser Strafen lag ein wirksamer Vollstreckungsbefehl vor, weil alle damit rechneten, dass Paul Zakowski noch bis zum nächsten Juli für die Strafe aus München einsitzen musste. Denn warum sollte man ihm Bewährung geben, wenn er eh nicht rauskam?
Pauls großes Pech, dass diese drei Strafen nicht zu einer einzigen zusammengezogen werden konnten, was mit den Verurteilungszeiten zusammenhing, erwies sich nun für ihn – zumindest vorübergehend – als eine Chance auf Freiheit. Aber für wie lange?
Der Vollstreckungsrichter hatte sich intensiv mit Paul unterhalten. Paul hatte ihm in der ihm eigenen Art einige Geschichten aus seinem Leben erzählt, die den Richter beeindruckten. Natürlich wusste er von den weiteren Verurteilungen, aber er wollte sich von anderen nicht unter Druck setzen lassen, unter diesen Umständen eine Strafaussetzung zur Bewährung zu verweigern, von der er überzeugt war, dass er sie geben musste. Das war am 23. Dezember.
Heute war Montag, der 30. Dezember. Dienstag ist Silvester und Mittwoch Neujahr. Also drei Tage Zeit zu verschwinden, dachte Paul, wobei ihm klar war, dass eine wirkliche Flucht, die ihn erst nach zehn Jahren mit Verfolgungsverjährung belohnen würde, nicht in Frage kam.
Paul war weit gereist und wusste, im Grunde konnte ihn kein Land der Welt gebrauchen. Ganoven hatten sie alle selbst genug. Außerdem war für ihn Deutschland nicht nur Heimat, sondern auch der beste Ort zum Leben.
In Privatkleidern, mit seinem kleinen Koffer in der Hand, führte ihn der Kammerbeamte über den Hof in die Entlassungszelle neben der Außenpforte.
Es war noch früh. Die Geschäftsstelle, in der Paul den Entlassungsschein, seine Personalpapiere und sein Geld bekommen sollte, öffnete erst um acht. Also setzte er sich in die Ecke der Zelle, ein ungastlicher Raum, der überwiegend dazu diente, Besucher auf harten Bänken warten zu lassen, bis sie in die eigentlichen Besuchsräume geführt werden konnten.
Paul kamen heute die kahlen Wände, das hochgelegene vergitterte Fenster, die kargen Tische vor wie das Wartezimmer zum Himmel, falls es dafür ein Wartezimmer gab. Er lehnte sich zurück und schaute auf seine Uhr, sieben Uhr fünfzehn. Um acht würden ihn also die Schreibtischgeier rufen, um ihn auszuzahlen. Laut Pauls Vorstellung konnte es sich nur um wenige Hundert Mark handeln, aber das Wichtigste war der Entlassungsschein.
Paul drehte sich eine Zigarette, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Jetzt nur nicht daran denken, dass er später noch mal in den Knast zurück musste. Die Tür öffnete sich, der Pfortenbeamte schaute herein: »Zakowski? SIE sollen entlassen werden?« Er grinste hämisch. »Wer’s glaubt, wird selig!« Er warf die Tür wieder zu. Paul schloss die Augen und sah dieses arrogante, wohlgenährte Gesicht unter der Dienstmütze vor sich. Er kannte ihn.
In diesem kleinen Knast kannten sich eh fast alle. Vierhundert Gefangene und hundertfünfzig Bedienstete konnten über Jahre nicht so einfach aneinander vorbeilaufen. Der Typ war ein besonders prächtiges Exemplar von Staatsdiener. Ein Bauernsohn aus dem Odenwald, als letzte Chance, mit fünfunddreißig Jahren, aufgesprungen ins Beamtenleben, als Sicherheit für den Rest des Lebens. Seine neue Klientel, Menschen in Haft, behandelte er wie früher seine Kartoffeln und Zuckerrüben. Der Typ hatte mal eine Woche lang den Werkmeister in dem Betrieb vertreten, in dem Paul Telefonapparate zusammenbaute. Der Mann hatte mit seiner barschen Art unter den Gefangenen fast eine Revolte ausgelöst. Paul versuchte zu schlichten, sprach mit dem Odenwälder Dickschädel, bis er merkte, dass das den gar nicht interessierte. Die Gefangenen gingen ihm schlicht am Arsch vorbei.
Sein Gesicht hatte Paul schon immer an jemanden erinnert. Und jetzt, hier, in der Zelle sitzend, fiel es ihm wieder ein. Mit seiner Dienstmütze sah er genauso aus wie der erste Polizist, mit dem Paul zu tun hatte, einem belgischen Militärpolizisten, als er vier Jahre alt war. Damals, in der schlechten Zeit direkt nach dem Krieg, waren alle Menschen hager bis dürr, dieser Belgier aber war als Besatzer gut genährt und hatte einen dicken Schädel, so wie dieser Odenwaldbauer in Uniform.




