E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Aicher / Archan / Ittensohn Arsen und Spargelspitzen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98707-236-9
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminelles aus Schwetzingen und der Kurpfalz
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-98707-236-9
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Von Speyer über Schwetzingen bis nach Heidelberg: 19 renommierte Krimiautorinnen und -autoren ziehen eine tödliche Spur durch die Kurpfalz.
Schwetzingen. Sommerresidenz der Kurfürsten, kulturelles Kleinod zwischen Rhein und Neckar. Doch hinter den pittoresken Kulissen von Schloss, Marstall und Palais Hirsch wird gemordet, was das Zeug hält. Und auch das Umland wird nicht verschont. Begegnen Sie Giftmörderinnen und blutrünstigen Haushaltsgeräten; lernen Sie, wie es sich geschickt mit der Farbe Blau töten lässt und warum Kunstfälschung mörderisch enden kann. Das Rezeptbuch für den gepflegten Mord zur CRIMINALE 2025.
Mit Beiträgen von Mathias Aicher, Isabella Archan, Dieter Aurass, Marlene Bach, Franziska Franz, Gina Greifenstein, Jürgen Heimbach, Kathrin Heinrichs, Franziska Henze, Uwe Ittensohn, Arnold Küsters, Paul Lascaux, Sunil Mann, Til Petersen, René Pöltl, Moni Reinsch, Claudia Schmid, Tina Seel, Jennifer B. Wind.
Autoren/Hrsg.
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Franziska Henze
Alles gut
Es gibt Tage im Jahr, die hasst sie mehr als die anderen. Weihnachten, Silvester, Ostern, den letzten Schultag vor den Sommerferien. Heute ist wieder so ein Tag. Sie wird mit ihren Mitschülern in dem stickigen Klassenraum darauf warten, dass Herr Krull sie einzeln nach vorne beordert, die Zeugnisse aushändigt und einen schönen Sommer wünscht. Emma will nicht daran denken. Nicht daran, dass sie die nächsten sechs Wochen mit ihrem Vater in der Wohnung hocken wird, während alle anderen verreisen. Auch nicht an ihr Zeugnis. Sie weiß von der Fünf in Mathe. In Englisch ist sie ebenfalls eine Niete. »Ich muss dringend deinen Vater sprechen, er soll in meine Sprechstunde kommen«, hat Herr Krull letzte Woche gesagt und einen Termin in ihr Mitteilungsheft geschrieben. »Bin leider verhindert«, hat sie mit der flüchtigen Handschrift ihres Vaters geantwortet, mit der sie alle Rechnungen, Briefe und Verträge unterzeichnet.
Heute ist also der letzte Schultag, und selbst ihr Vater weiß, dass sie das Zeugnis im Ranzen haben wird. Das interessiert ihn, obwohl er sich sonst nicht für sie interessiert. Aus seiner Prinzessin soll etwas Großes werden.
Sie rührt in ihrer Müslischale, in der sich die Cornflakes mit dem Milch-Wasser-Gemisch zu einem klebrigen, pappigen Brei verbunden haben, und schiebt sich das Zeug in den Mund, bis die Schale leer ist. Von nebenan dringt lautes Schnarchen zu ihr, unregelmäßig unterbrochen von dem schnappenden Geräusch, das ihr Vater macht, wenn er nach Luft saugt.
Emma geht ins Wohnzimmer. Dort liegt ihr Vater wie immer auf dem Sofa. Dicke Speichelfäden hängen aus seinem Mundwinkel. Die Flasche Doppelkorn, die auf dem Fußboden liegt, ist leer. In der Bacardi-Flasche daneben sind noch drei Fingerbreit Schnaps. Er muss in sein allabendliches Koma gefallen sein, bevor er sich darum kümmern konnte. Immerhin hat er es diesmal geschafft, den Fernseher auszuschalten. Emma trägt die Flaschen in die Küche, gießt den Rest Bacardi in den Ausguss, packt die Flaschen in eine ALDI-Tüte und stellt sie neben ihre Schultasche an die Tür.
»Nicht doch, Gaby, nein, geh nicht weg!«, schreit ihr Vater den Namen ihrer Mutter aus dem Wohnzimmer, es folgt lautes Wehklagen.
Emma füllt ein Glas mit Leitungswasser und kehrt zu ihm ins Wohnzimmer zurück. Sie beugt sich über ihn, streicht ihm sachte über die Wange. »Pst, leise, Papa.«
Benommen rappelt er sich auf, streckt sich. Die Haare kleben an der verschwitzten Stirn, und seine persönliche Geruchsmischung aus ungewaschen, Schweiß, Alkohol und Tabak strömt ihr entgegen. Sie hat Übung darin, den Gestank wegzudenken, damit ihr Essen drinbleibt.
»Alles gut?«, fragt der Vater wie ein Kleinkind.
»Ja, alles gut, Papa. Ich muss zur Schule. Im Kühlschrank sind noch Nudeln von gestern und Salami. Bis nachher. Und bitte mach nicht so einen Krach. Denk an die Nachbarn.«
»Was würde ich nur tun, wenn ich dich nicht hätte!« Er heult nun. »Du bist mein einziges Glück, ohne dich läge ich längst neben deiner Mutter unter der Erde.« Er tätschelt ihre Hand. »Du musst immer schön brav sein, Prinzessin, dann ist alles gut.« Er lässt sie los, seine Finger tasten weiter Richtung Fußboden. »Emma, wo ist sie? Ich weiß ja, dass die Flasche …«
Hastig huscht Emma aus dem Raum, greift Schultasche und ALDI-Tüte und verlässt die Wohnung. Nein, es ist nicht alles gut. Es wird auch nie wieder alles gut sein. Weil sie zum ersten Schulausflug unbedingt einen Bauernzopf haben wollte, hat sich ihre Mutter viel zu spät auf ihr Fahrrad gesetzt, um zur Arbeit zu fahren. Der Unfall, der sie Minuten später tötete, zerschnitt ihr aller Leben in ein Vorher und ein Nachher, nur dass sich Emma vier Jahre später kaum noch an das Vorher erinnert.
Emma steigt die steinerne Treppe hinab, ihre Zehen berühren die kalten Stufen, die Sandalen sind längst zu klein. In der Tüte klirren die beiden Flaschen bei jedem Schritt aneinander. Die Wohnungstür in der ersten Etage öffnet sich lautlos. Die Brodbeck steht plötzlich wie ein grauhaariger Geist direkt neben ihr, reißt ihr die Einkaufstüte aus der Hand und starrt hinein.
»Dein Säufervater ist eine Schande für dieses Haus. Ständig schreit oder jammert er rum, und aus eurer Wohnung stinkt es bis in die nächste Etage! Als ich ihn gestern an die Kehrwoche erinnert habe, ist er mir fast an die Gurgel gegangen. Und nun schickt er sein Kind los, die Flaschen entsorgen. Man sollte dem endlich ein Ende setzen. Das Jugendamt wartet nur auf solche Hinweise.«
»Lassen Sie mich!« Mit einem kräftigen Ruck zieht Emma die Tüte zurück an sich, springt die letzten Treppenstufen hinunter bis ins Freie.
»Säuferbalg!«, schallt es ihr wütend hinterher.
»Die Brodbeck ist die Pest«, sagt ihr Vater immer, »der müsste man mal rechts und links ein paar mitgeben.« Auch mit den anderen Nachbarn zankt sie regelmäßig, das weiß Emma. Erst vergangene Woche wollte sie den Kinderwagen der Familie Pohl, der unten im Treppenhaus stand, zum Sperrmüll stellen, das Ding gehöre schließlich in den Fahrradkeller.
Sechs Stunden später tritt Emma aus dem Schulhaus in die Sonne. Das Wetter ist zu schön für diesen beschissenen Tag. Ihr Zeugnis steckt in der Postmappe, die hinten in ihrem Ranzen klemmt. »Wird nicht versetzt nach Klasse sechs«, steht ganz unten auf dem Papier. Zweimal hat sie es gelesen. Sie ist eine Versagerin. So kann sie nicht nach Hause gehen! Wenn ihr Vater das Zeugnis sieht, wird er ausrasten. Erst wird er sie anschreien, wie das passieren konnte – sitzen geblieben, seine Prinzessin! –, und dann wird er unter lautem Geheule eine weitere Flasche leeren. Die Brodbeck wird noch heute das Jugendamt anrufen. Eine Träne piekt in ihrem Augenwinkel. Sie will nicht weggeholt werden.
»Tschüss, Emma, schöne Ferien!«, ruft Maria ihr zu und fliegt der Mutter in die Arme, die am Schultor wartet.
»Zur Feier des Tages gehen wir ins Restaurant ›Blaues Loch‹, wir müssen doch auf dein Zeugnis anstoßen. Papa und Niklas kommen auch hin«, sagt Marias Mutter und legt den Arm um ihr Kind. »Ich trag deine Schultasche.«
Lachend verschwinden sie. Emma schaut ihnen nach. Ob ihre Mutter sie von der Schule abgeholt hätte? Emma fällt es schwer, sich das vorzustellen. Sie erinnert sich kaum daran, wie sie aussah, der Vater hat alle Fotos versteckt, damit es nicht so wehtut. Wenn sie nur nicht um den Zopf gebeten hätte! Wenn ihre Mutter nur eine Minute später losgefahren wäre, dann wäre alles gut. Ihr Vater würde jeden Morgen ins Büro gehen, und Mama würde Englischvokabeln abfragen oder ihr bei Mathe helfen. Wenn sie damals nicht dafür gesorgt hätte, dass sich ihre Mutter verspätet, hätte sie heute ein gutes Zeugnis. Sicher wären sie auch in dieses Restaurant gegangen. »Blaues Loch«. Lustiger Name.
Einmal war sie dort, kurz nach der Einschulung. Eine Freundin von Mama hat dort Hochzeit gefeiert, und Emma, die gemeinsam mit einem anderen Kind Blumen gestreut hat, durfte bei dem anschließenden Empfang im Biergarten dabei sein. Wunderschön hat sie sich in dem weißen Kleid gefühlt und sich später vorgestellt, wie es wäre, wenn sie dort irgendwann ihren Traumprinzen heiraten und im Schloss leben würde.
Wie selbstverständlich tragen ihre Füße sie weiter, durch den Schlossgarten, plötzlich steht sie vor dem Restaurant. Sie merkt, dass sie durstig ist, die Zunge klebt am Gaumen wie Esspapier. Emma kramt in ihrer Hosentasche, aber das Einzige, was sie zutage fördert, sind fünfzig Cent. Sie beschließt, sich hineinzuschleichen, um auf der Toilette einen Schluck Wasser zu trinken.
Während sie sich unter den Wasserhahn beugt, öffnet sich die Tür in ihrem Rücken.
»Emma!« Maria steht hinter ihr und umarmt sie. »Bist du auch mit deinem Papa hier?«
Emma richtet sich auf, streicht sich nervös über die kurzen Haare.
»Nein, der muss arbeiten.« Eine Lüge. Wie immer.
»Komm doch mit zu uns, meine Mutter freut sich, wenn du dabei bist.« Maria fasst unter Emmas Arm, zieht sie mit sich.
Es dämmert bereits, als sich Emma auf den Heimweg macht. Sie hat einen Tag ohne Schimpfe rausgeschunden, um diese Zeit wird ihr Vater bereits auf dem Sofa schnarchen, eine Flasche im Arm, im Fernseher Kabel Eins oder RTL2, Krankenhausserie oder Polizeidoku. Sie hält das Alupäckchen mit dem Stück Schnitzel, das sie für ihn aufgehoben hat, zwischen den Fingern wie ein Geschenk. Was für ein herrlicher Nachmittag war das! Marias Mutter hat ihr eine Cola und etwas zu essen bestellt, und während sie warteten, spielten Niklas, Maria und sie Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst. Dann kam Marias Vater, er hatte sich extra freigenommen. So ist das also in einer Familie. Für einen Moment fragte sich Emma, wie es wohl wäre, wenn sie zu Marias Familie gehören würde, und schämte sich sofort für diesen Gedanken.
Wie auf Kommando springen die Straßenlaternen an. Ihr Vater sagt, sie soll im Dunkeln nicht allein draußen herumlaufen. Autofahrer könnten sie leicht übersehen, außerdem kriechen nachts die Seltsamen aus ihren Löchern. Wer die Seltsamen sind, von denen er immer spricht, hat sich Emma nie zu fragen getraut.
Als sie in ihre Straße einbiegt, sieht sie Lichter. Blau, flackernd, leuchtend. Ihre Schritte werden schneller. Rettungswagen und Polizei. Direkt vor ihrem Haus. Was, wenn etwas mit ihrem Vater ist? Sie muss an ihre Mama denken, rennt jetzt.
Die Haustür ist offen, ein breitschultriger Polizeibeamter steht im Eingang des hell erleuchteten Treppenhauses und studiert die Klingelschilder. Zwei Sanitäter schleppen eine...