E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Ammaniti Anna
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-96161-510-0
Verlag: Econ
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. Das Buch zur aktuellen TV-Serie
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-96161-510-0
Verlag: Econ
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
NICCOLÒ AMMANITI, geboren 1966 in Rom, ist einer der erfolgreichsten und international renommiertesten Autoren italienischer Sprache. Der wohl bekannteste seiner bisher acht Romane, der Weltbestseller Ich habe keine Angst gewann den Premio Viareggio, sein Roman Wie es Gott gefällt den Premio Strega. All seine Bücher wurden von international herausragenden Regisseuren für das Kino verfilmt, darunter Gabriele Salvatores und Bernardo Bertolucci. Auch Ammaniti selbst ist als Regisseur tätig. Er machte Furore mit der internationalen TV-Serie Ein Wunder, für die er auch das Drehbuch schrieb. Auch seinen dystopischen Roman Anna verfilmte er als Mehrteiler fürs Fernsehen. Nach längerer Schreibpause erscheint nun endlich sein neuer Roman Intimleben. Niccolò Ammanitis Werke wurden in 44 Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Frau in Rom.
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1.
Anna ging auf der Autobahn, die Hände fest an den Riemen ihres Rucksacks, der auf dem Rücken auf und ab hüpfte. Von Zeit zu Zeit wandte sie den Kopf.
Die Hunde waren immer noch da. Sie liefen in einer Reihe. Sechs, sieben an der Zahl. Ein paar von den Schwächeren waren auf dem Weg zurückgeblieben, aber der Große an der Spitze kam allmählich näher.
Zwei Stunden zuvor hatte Anna sie auf einem verbrannten Feld entdeckt, weit hinten zwischen dunklen Steinbrocken und den rußschwarzen Baumstämmen der Olivenbäume, sie tauchten gelegentlich auf und verschwanden dann wieder, das Mädchen hatte nicht groß auf sie geachtet.
Es war nicht das erste Mal, dass ihr ein Rudel wilder Hunde hinterherlief, sie folgten einem für eine Weile, bis sie müde wurden und sich trollten.
Doch diesmal hatte sie erleichtert geseufzt, als sie die Hunde nicht mehr sah. Sie war stehengeblieben, um ihr restliches Wasser zu trinken, und schließlich weitergegangen.
Unterwegs zählte sie gerne. Sie zählte, wie viele Schritte sie für einen Kilometer brauchte, zählte blaue und rote Autos, zählte Überführungen.
Dann waren die Hunde plötzlich wieder da.
Verzweifelte Kreaturen, ziellos dahintreibend auf einem Meer von Asche. Sie war schon vielen begegnet, das Fell durchlöchert, an den Ohren ganze Trauben von Zecken, abgemagert bis auf die Rippen. Schon um die Reste eines Kaninchens trugen sie wilde Kämpfe aus. Die Brände im Sommer hatten die Ebene versengt, und es gab so gut wie nichts mehr zu essen.
Anna kam an einer Reihe von Autos mit kaputten Scheiben vorüber. Zwischen den mit einer Ascheschicht überzogenen Wracks wuchsen Korn und Gestrüpp.
Der Schirokko hatte die Flammen bis ans Meer geweht und hinter sich eine Wüste zurückgelassen. Der Asphaltstreifen der A29, die von Palermo nach Mazara del Vallo führte, zerschnitt eine tote Weite, aus der die geschwärzten Kronen der Palmen aufragten und hier und da eine Rauchfahne. Zur Linken, hinter den Überresten von Castellammare del Golfo, war ein graues Stück Meer eins mit dem Himmel. Rechts schwebten eine Reihe von niedrigen dunklen Hügeln wie ferne Inseln über der Ebene.
Die Fahrbahn war durch einen umgekippten LKW blockiert. Der Anhänger hatte die Leitplanke geknickt, Waschbecken, Bidets, Toilettenschüsseln und weiße Keramikscherben lagen meterweit verstreut. Das Mädchen ging zwischen ihnen hindurch.
Ihr rechter Knöchel tat weh. In Alcamo hatte sie die Tür eines Lebensmittelgeschäfts mit Fußtritten aufgebrochen.
Eigentlich war bis zum Auftauchen der Hunde alles glattgegangen.
Beim Aufbruch war es noch dunkel gewesen. Sie musste immer weitere Strecken zurücklegen, um an Essen zu gelangen. Am Anfang hatte sie es leichter gehabt, da brauchte sie nur nach Castellammare zu gehen, wo man fand, was man haben wollte. Aber seit den Bränden war alles kompliziert geworden. So war sie nun drei Stunden lang unter der Sonne marschiert, die an einem blassen, wolkenlosen Himmel stand. Der Sommer war längst vorbei, aber die Hitze ließ nicht nach. Nachdem der Wind das Feuer angefacht hatte, war er verschwunden, als interessierte ihn dieser Teil der Schöpfung nicht mehr.
In einer Gärtnerei, neben dem Krater, den die Explosion einer Zapfsäule hinterlassen hatte, war sie unter einer staubbedeckten Plane auf einen Karton voller Lebensmittel gestoßen.
Nun trug sie im Rucksack sechs Cirio-Konservendosen mit Bohnen, vier weitere mit Tomaten der Marke Graziella, eine Flasche Amaro Lucano, eine dicke Tube Nestlé-Kondensmilch, eine Packung Zwieback, der bröckelig war, aber noch gut genug, um mit Wasser verrührt zu werden, und ein halbes Kilo vakuumverpackten Bauchspeck. Dem Speck hatte sie nicht widerstehen können, sie hatte ihn sofort vertilgt, auf den Säcken mit Pflanzenerde kauernd, die sich mit Mäuseschiss überkrustet am Boden stapelten. Der Speck war zäh wie Leder und so salzig, dass ihr der Mund brannte.
Der schwarze Hund kam immer näher.
Anna ging schneller, und ihr Herz pumpte im Rhythmus ihrer Schritte. Allzu lange würde sie nicht mehr durchhalten. Sie musste stehenbleiben und sich ihm stellen. Wenn sie wenigstens ein Messer gehabt hätte. Eigentlich nahm sie immer eines mit, aber an diesem Morgen hatte sie es vergessen. Der Rucksack, mit dem sie aufgebrochen war, enthielt nur eine Flasche Wasser.
Die Sonne stand vier Finger breit über dem Horizont. Ein oranger Ball, von violettem Speichel benetzt. Noch wenige Minuten, und die Ebene würde ihn verschlucken. Auf der anderen Seite hing der Mond, so schmal wie ein Fingernagel.
Sie drehte sich um.
Der Hund war immer noch da. Die anderen hatten einer nach dem anderen aufgegeben, er nicht. Auf dem letzten Kilometer hatte er die Distanz zu ihr nicht verringert, aber sie war fast gerannt, während er dahintrottete.
Vielleicht wartete er die Dunkelheit ab, um anzugreifen, doch das kam ihr unwahrscheinlich vor, Hunde waren nicht so berechnend. So oder so würde sie kaum bis Einbruch der Dunkelheit durchhalten. Ihr Knöchel pochte, und die Wade war hart vor Schmerz.
Sie ging an einem grünen Schild vorbei. Fünf Kilometer bis Castellammare. Um auch wirklich immer geradeaus zu gehen, folgte sie dem Streifen in der Mitte der Fahrbahn. Hätten ihr nicht ihr eigener Atem und das Geräusch ihrer Füße auf dem Asphalt in den Ohren gedröhnt, sie hätte die Stille hören können. Da war nicht der leiseste Windhauch, auch keine Vögel, Grillen, Zikaden.
Sooft sie am Straßenrand ein Auto sah, flüsterte ihr die Müdigkeit zu, doch einfach einzusteigen, ihr Verstand widersprach. Sie konnte versuchen, dem Hund den Zwieback hinzuwerfen, oder auf die andere Seite des Zauns wechseln. Allerdings waren die Maschen viel zu eng, und sie hatte keine Löcher gesehen, durch die sie gepasst hätte.
Auf dem Mittelstreifen hingen die Oleandersträucher, die das Feuer überlebt hatten, voller rosa Blüten, und die Zweige wölbten sich schwer hinab. Ihr süßlicher Duft mischte sich mit dem Geruch nach Verbranntem.
Das Hindernis war hoch.
Aber du bist doch das Känguru, sprach sie sich Mut zu.
In der Schule hatte ihr die Sportlehrerin, Signora Pini, den Spitznamen Känguru gegeben, weil sie weiter springen konnte als die Jungen. Anna mochte diesen Namen nicht. Kängurus hatten Segelohren. Da wäre Leopard ihr lieber gewesen, der konnte auch springen und war viel schöner.
Sie streifte den Rucksack ab und warf ihn über die Sträucher. Dann nahm sie Anlauf, setzte einen Fuß auf das Betonmäuerchen, machte einen Satz zwischen den Zweigen hindurch und fand sich auf der Gegenfahrbahn wieder.
Sie hob den Rucksack auf und zählte keuchend bis zehn. Dann reckte sie die Faust und lächelte. Sie hatte ein schönes Lächeln, lauter weiße Zähne, die sie nur selten zeigte.
Sie humpelte weiter. Jetzt brauchte sie nur noch den Zaun zu überwinden, dann war sie in Sicherheit.
Auf der anderen Seite fiel eine Böschung zu der Nebenstraße hin ab, die parallel zur Autobahn verlief. Nicht der beste Ort, um mit einem lädierten Knöchel herumzuklettern. Sie stellte den Rucksack auf den Boden und drehte sich um.
Da sah sie, wie der Hund zwischen den Oleandersträuchern hindurchsetzte und auf sie zustürmte.
Er war nicht schwarz, sondern weiß, das Fell mit Asche überzogen. An einem Ohr fehlte ein Stück. So einen Riesenhund hatte sie noch nie gesehen.
Und wenn du nicht machst, dass du wegkommst, dann frisst er dich.
Sie krallte sich in die Maschen des Zauns, aber ihre Arme waren vor Angst wie gelähmt. Sie drehte sich um und rutschte ab.
Das Tier überquerte die letzten Meter Autobahn und sprang über die Leitplanke und den Ablaufkanal. Ein dunkler Schatten, der das Licht der Dämmerung löschte, vierzig Kilo auf sie losspringender räudiger Gestank.
Anna stieß den Ellbogen nach oben, dem Hund zwischen die Rippen, der zusammensackte und neben ihr liegen blieb. Sie rappelte sich hoch.
Der Köter lag ausgestreckt im Gras. Ein fast schon menschliches Staunen glitt durch seine kohlschwarzen Pupillen.
Das Mädchen hob den Rucksack vom Boden auf und schlug mit einem lauten Schrei zu. Einmal, zweimal, dreimal. Erst gegen seinen Kopf, dann gegen den Hals und wieder gegen den Kopf. Das Tier winselte fassungslos und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Anna drehte sich um die eigene Achse wie ein Kugelstoßer beim Schwungholen, eine vollkommene Kreisbewegung, doch der Riemen riss, und sie verlor das Gleichgewicht. Sie stemmte das freie Bein in den Boden, aber der schmerzende Knöchel machte nicht mehr mit. Sie strauchelte und fiel.
Nebeneinander liegend, starrten sie sich an. Dann knurrte der Hund, straffte die Muskeln und stürzte sich mit aufgerissenem Maul ein weiteres Mal auf Anna.
Sie hob ihr heiles Bein und rammte ihm die Ferse in die Brust, und er prallte rücklings gegen die Leitplanke.
Der Hund landete auf der Seite. Er hechelte, die lange Zunge hing schlaff aus der Schnauze, die Augen waren zu dunklen Schlitzen verengt.
Während er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, sah Anna sich nach einem Gegenstand um, mit dem sie ihm den Garaus machen könnte. Ein Stein, ein Stock, aber da war nichts, nur verbrannter Unrat, Plastiktüten, zerknitterte Blechdosen.
»Was willst du von mir? Lass mich in Ruhe!«, schrie sie. »Ich hab dir doch nichts getan!«
Der Köter fixierte sie mit hasserfüllten Augen und zog die schwarzen Lefzen hoch, so dass seine gelblichen Fangzähne entblößt wurden. In den Mundwinkeln...