E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Reihe Hanser
Applegate Endling - Die Suche beginnt
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-423-43739-4
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Spannende Fantasy für Mädchen und Jungen ab 11
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Reihe Hanser
ISBN: 978-3-423-43739-4
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Katherine Applegate lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von San Francisco. Sie hat schon viele erfolgreiche Bücher veröffentlicht, die regelmäßig auf der >New York Times<-Bestsellerliste landen.
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2
BESUCH DER BUTRILLOS
Der Anfang vom Ende ist noch nicht lange her, es war an dem Tag, an dem ein paar Butrillos zu Besuch kamen.
Am frühen Nachmittag hörte ich sie zuerst. Ich schlich mich an meiner schlafenden Familie vorbei, die zusammengekuschelt dalag wie ein einziges großes Tier.
Von Natur aus sind wir Dalkins keine nachtaktiven Wesen, trotzdem wagten wir uns immer erst lange nach Sonnenuntergang ins Freie. Zwar fürchteten wir die Riesenkatzen, die Felijagas, die bei Nacht jagten. Noch mehr aber fürchteten wir Wilderer und natürlich die Soldaten des Murdano – er war der Herrscher von Nedarra.
Aber ich war hibbelig. Und ich war sicher, dass ich draußen direkt vor dem Eingang etwas gehört hatte: ein Schwirren in der Luft, ein leichter Flügelschlag, leise nur, aber doch kräftig.
Meine Schwester Lirya gähnte und blinzelte mit einem Auge. »Ich hab solchen Hunger, ich könnte dich glatt fressen, Byx«, murmelte sie.
»Sie ist zu dürr zum Fressen«, sagte Avar, mein ältester Bruder.
Ich war es gewohnt, meine Geschwister zu ignorieren, und hörte nicht auf ihre Hänseleien.
Es kostete einige Anstrengung, mich durch den Eingang unseres derzeitigen Heims zu zwängen, einem verlassenen Mirabienen-Hügel. Er erinnerte an ein riesiges Wespennest, das auf die Erde gefallen war. Von außen hatte er die Struktur einer Honigwabe mit Löchern, groß wie Steinbrocken, und obwohl sich der Hügel steinhart anfühlte, funkelte er im Licht wie unverarbeiteter Honig. Mein Vater hatte erklärt, er bestehe aus Vulkanasche, Schwefel und Sand, vermischt mit dem Saft des Bullabaums.
Früher hatten die Dalkins in ebenem Gelände Rundcamps angelegt oder, wenn sie durch Wälder zogen, Baumnester gebaut. Das machten wir schon lange nicht mehr.
Es gab vieles, was wir nicht mehr machten. Das erklärte uns Dalyntor, unser Lehrer, der Bewahrer unserer Geschichte. Er machte immer allerhand Andeutungen, aber manches in der Geschichte der Dalkins hielt er wohl für zu brutal für unsere jungen Ohren.
Baumnester waren zu leicht zu entdecken, zu schutzlos Pfeilen ausgeliefert. Stattdessen zogen wir nun von Ort zu Ort, suchten Zuflucht in Höhlen, tiefen Schluchten oder in einem Dorngestrüpp mitten im Wald. So hinterließen wir keine Spuren unserer Anwesenheit, keinen Hinweis auf Nester oder Lagerplätze. Wir schliefen am Fuß von Klippen, an entlegenen Küsten, in verlassenen Bauten anderer Lebewesen.
Einmal hatte unser kleines Rudel die Nacht in einer geräumigen, nicht mehr genutzten Jagdhütte verbracht. Nie zuvor war ich so nah an Menschen herangekommen, die zu den sechs großen überlegenen Arten gehörten. Diese sechs Arten – Menschen, Dalkins, Felijagas, Natintjes, Terra-Olme und Raptidons – hatten einst als die mächtigsten in unserem Land gegolten. Inzwischen aber wurden alle, auch die Menschen, von dem tyrannischen Murdano beherrscht.
Von den anderen großen Arten war ich nur mit zweien in Berührung gekommen. Einmal hatte ich Felijagas gewittert, riesengroße anmutige Katzen, die lautlos durch die finsterste Nacht schleichen konnten. Keiner hört sie. Und auch Raptidons hatte ich gesehen, die Herrscher der Lüfte, die Bögen durch die Wolken schneiden.
Nie hatte ich einen Natintje zu Gesicht bekommen.
Nie ein Gewimmel von Terra-Olmen – glücklicherweise nie.
Und nie einen Menschen.
Trotzdem wusste ich einiges über Menschen. Dalyntor hatte uns jungen Dalkins von ihnen erzählt und dabei Strichmännchen auf ein getrocknetes Playablatt gemalt. Von ihm hatte ich gelernt, dass Menschen zwei Augen haben, eine Nase und einen Mund voll stumpfer Zähne. Ich erfuhr auch, dass sie bei aufrechter Haltung größer sind als wir Dalkins, wenn auch nicht sehr viel. Außerdem lernte ich eine Menge über ihre Gewohnheiten, ihre Kleidung, ihre Dörfer und Städte, ihre Kultur, ihre Waffen, ihre Sprachen und die Art, wie sie Zeit und Entfernung messen.
Und am wichtigsten: Ich lernte, dass den Menschen nie zu trauen ist und man sie immer fürchten muss.
Ich trat aus dem Mirabienen-Hügel hinaus ins Licht der schräg stehenden Sonne.
Hier hörte ich das Geräusch lauter – und dann sah ich sie über dem Bau.
Butrillos!
Vier waren es, jedes mindestens drei Schwanz breit und ebenso lang. Durch die Bewegungen ihrer schimmernden Flügel zauberten sie Regenbögen aus dem Licht, das durch die Bäume fiel. Sie hatten wohl gedacht, dass hier noch Mirabienen lebten, denn Butrillos waren große Honigliebhaber – und ebenso große Diebe dazu.
Trotz des heftigen Windes bereitete es ihnen keine Mühe, sich ruhig in der Luft zu halten wie riesige Kolibris.
»Byx.« Die sanfte Stimme hinter mir klang halb besorgt, halb tadelnd. Ich drehte mich um und sah, dass meine Mutter mir gefolgt war. Sie wirkte erschöpft, ihr dunkelgoldenes Fell war zerzaust, ihr Schwanz schlaff.
»Butrillos, Maia!«, flüsterte ich.
Sie folgte meinem Blick. »Wie schön! Ich vermute, sie sind auf dem Weg nach Norden. Für sie beginnt jetzt die Zeit der Wanderung.«
»Könnte ich doch auch weg von hier!«
»Ich weiß, Byx, dieses Leben ist manchmal schwer.« Sie strich mir über den Rücken. »Besonders für euch Kleine.«
»Ich bin nicht klein!«
Meine Mutter stupste mich mit der Nase an. »So klein nicht mehr, das stimmt.«
Ich seufzte und lehnte mich an sie. Bei ihr war es warm und sicher.
»Mir ist so langweilig, Maia. Ich will Spaß haben. Rumtollen. Meinem Schwanz nachjagen. Neues kennenlernen. Abenteuer erleben und mutig und tapfer sein.«
»Es ist nicht nötig, sich nach mutigen Taten zu drängen«, sagte sie leise. »Ganz und gar nicht nötig.«
»Die Großen nennen mich immer Zwerg. Und Welpe«, beschwerte ich mich. »Immer sagen sie, ich frage zu viel.« Ich genoss es fast, mich ein bisschen zu bedauern. »Ich kann mich überhaupt nicht leiden!«
»Byx«, sagte meine Mutter, »so was darfst du nie sagen. Dich gibt es nur ein einziges Mal auf der ganzen weiten Welt. Und mir gefällt es, dass du so viele Fragen hast. Nur so kann man etwas lernen.« Sie schwieg eine Weile. »Ich will dir was sagen. Etwas, das noch keins deiner Geschwister weiß.«
Ich spitzte die Ohren, hellwach.
»Letzte Nacht hat es eine Versammlung der Erwachsenen gegeben. Wir werden diesen Ort heute bei Sonnenuntergang verlassen. Richtung Norden wie die Butrillos. Myxo wird uns führen. Sie meint, hier im Süden haben wir nun lange genug gesucht.«
Myxo war unsere Pfadfinderin. Sie hatte von allen in unserem Rudel die feinste Nase, die am besten ausgeprägten Instinkte und war auf der Suche nach anderen Dalkin-Rudeln schon weit herumgekommen. Gerüchteweise hatten wir immer wieder gehört, es seien Dalkins gesichtet worden, doch das hatte sich nie bestätigt. Unser Rudel war inzwischen auf neunundzwanzig Mitglieder geschrumpft.
»Das wird ein großer Auszug«, sagte meine Mutter. »Die Abwanderung unserer ganzen Art sozusagen. Wir wollen uns auf die Suche nach den Dalkins der Ersten Kolonie machen.«
»Aber Dalyntor hat doch gesagt, dass es die schon lange nicht mehr gibt.« Ich dachte an die Schulstunden über die Erste Kolonie, diese allererste Gruppe Dalkins, die vor langer Zeit nach Nedarra eingewandert war. Wir mussten damals ein Gedicht auswendig lernen – ein ungewöhnlich langes Gedicht.
Ich lerne wirklich gern, lieber als die anderen in meiner Familie. Doch selbst ich muss zugeben, dass dieses Gedicht wohl das langweiligste war, das es gab:
Sing, o Dichter
von den Ahnen, den tapferen Dalkins,
die tückische, wilde Berge bezwangen,
über eiskalte Meere des Nordens sich wagten
nach Dalkinholm, der lebenden Insel,
dem schwimmenden Juwel.
An mehr kann ich mich nicht erinnern. Hätte Dalyntor uns nicht Landkarten zeichnen lassen, während er das Gedicht vortrug, wäre ich glatt eingeschlafen. Den meisten anderen war das nämlich passiert.
»Maia?«, sagte ich. »Glaubst du wirklich, es könnte noch eine Kolonie im Norden geben?«
Meine Mutter blickte über die Wiese auf den dunklen, windgebeugten Wald und schwieg lange. »Unmöglich ist es nicht«, sagte sie schließlich.
Dalkins lügen nie. Es wäre auch zwecklos, da wir jede Unwahrheit sofort erkennen – nicht nur bei Dalkins, sondern bei allen Lebewesen.
Keine der anderen Arten besitzt diese Fähigkeit. Dalyntor nannte sie oft »unsere beschwerliche Gabe« – wenn ich auch nicht verstand, was er damit meinte.
Wenn wir Dalkins auch nicht lügen, ist es doch so, dass wir uns manchmal etwas sehr wünschen.
»Aber du glaubst es nicht?«, bohrte ich nach, obwohl ich ihre Antwort schon kannte.
»Nein, meine Liebe.« Es war fast ein Flüstern. »Aber wer weiß, vielleicht irre ich mich.«
»Ganz bestimmt irrst du dich. Ich wette, wir finden Hunderte Dalkins. Tausende sogar!« Ich unterbrach mich. »Es ist doch nicht falsch zu hoffen, oder?«
»Hoffen, Byx, ist nie falsch«, versicherte meine Mutter. »Es sei denn, die Wahrheit sagt etwas anderes.« Sie gab mir noch einen Nasenstüber. »Aber jetzt versuch wieder zu schlafen. Vor uns liegt ein langer Nachtmarsch.«
Die Butrillos kreisten noch immer über uns, senkten und drehten sich in der Luft. »Nur noch ein paar Minuten, Maia«, bettelte ich. »Sie sind so hübsch.«
»Aber nicht zu lange«, sagte sie. »Und keine Ausflüge, hörst du?« Sie drehte sich um, zögerte. »Ich hab dich lieb, meine Kleine«, sagte sie. »Vergiss das nie.«
»Ich hab dich auch lieb, Maia.«
Es verging...