E-Book, Deutsch, 624 Seiten
Atwood alias Grace
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-97743-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 624 Seiten
ISBN: 978-3-492-97743-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Ihr »Report der Magd« wurde für inzwischen mehrere Generationen zum Kultbuch. Zudem stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Pen-Pinter-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Margaret Atwood lebt in Toronto.
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3.
1859 Ich sitze auf dem dunkelroten Samtsofa im Salon des Herrn Direktor, oder vielmehr im Salon der Frau Direktor; es war immer der Salon der Frau Direktor, obwohl die Frau Direktor nicht immer dieselbe Frau ist, da die Direktoren oft an andere Orte versetzt werden. Meine Hände liegen so wie es sich gehört gefaltet in meinem Schoß, obwohl ich keine Handschuhe habe. Die Handschuhe, die ich gerne hätte, wären weich und weiß und würden passen, ohne auch nur eine Falte zu werfen.
Ich bin oft in diesem Salon, wenn ich das Teegeschirr abräume und die kleinen Tische und den hohen Spiegel abstaube, den mit dem Rahmen aus Weintrauben und Blättern, und das Pianoforte, und die hohe Uhr, die aus Europa stammt, mit der orange-goldenen Sonne und dem silbernen Mond, die herauskommen und wieder verschwinden, je nach Tageszeit und je nachdem, welche Woche im Monat wir haben. Die Uhr gefällt mir am besten von allen Sachen im Salon, obwohl sie die Zeit mißt, und Zeit habe ich sowieso schon zuviel.
Aber ich habe noch nie zuvor auf dem Sofa gesessen, da es nur für Besucher ist. Mrs. Alderman Parkinson sagte immer, eine Dame darf sich nie auf einen Stuhl setzen, von dem ein Herr gerade erst aufgestanden ist, wieso nicht, das wollte sie nicht sagen. Aber Mary Whitney hat gesagt: »Weil er noch warm ist von seinem Hintern, deshalb, du dumme Gans«; was keine sehr feine Bemerkung war. Und deshalb kann ich nicht hier sitzen, ohne an die damenhaften Hinterteile zu denken, die auf ebendiesem Sofa gesessen haben, ganz zart und weiß, wie wabbelige gekochte Eier.
Die Besucherinnen tragen Nachmittagskleider mit Knopfreihen vorne, und darunter steife Krinolinen aus Draht. Es ist ein Wunder, daß sie sich damit überhaupt hinsetzen können, und wenn sie gehen, berührt nichts ihre Beine unter den gebauschten Röcken, bis auf ihre Unterkleider und Strümpfe. Sie sind wie Schwäne, die auf unsichtbaren Füßen dahingleiten; oder wie die Quallen im Wasser des Felsenhafens in der Nähe von unserem Haus, als ich noch klein war, bevor ich die lange und traurige Reise über den Ozean antrat. Sie waren glockenförmig und gekräuselt, diese Quallen, und unter Wasser schwebten sie anmutig dahin und sahen sehr schön aus; aber wenn sie an den Strand gespült wurden und in der Sonne trockneten, blieb nichts von ihnen übrig. Und genauso ist es auch mit den Damen: sie bestehen größtenteils aus Wasser.
Als ich hierher gebracht wurde, gab es keine Krinolinen aus Draht. Sie waren damals aus Pferdehaar, da noch niemand an Draht gedacht hatte. Ich habe mir angesehen, wie sie in den Schränken hängen, wenn ich hineingehe, um aufzuräumen und das Nachtgeschirr auszuleeren. Sie sind wie Vogelkäfige; aber was wird in diesen Käfigen gehalten? Beine, die Beine von Damen; Beine, die eingesperrt werden, damit sie nicht herauskommen und sich an den Hosen der Herren reiben können. Die Frau Direktor sagt niemals Beine, aber die Zeitungen haben Beine gesagt, als sie über Nancy schrieben, deren tote Beine unter dem Waschzuber hervorsahen.
Es sind nicht nur die Quallendamen, die zu Besuch kommen. Dienstags haben wir die Frauenfrage und die Emanzipation von diesem oder jenem, mit reformgesinnten Personen beider Geschlechter; und donnerstags den Spiritisten-Kreis, zum Tee und zu Gesprächen mit den Toten, die ein Trost für die Frau Direktor sind, wegen ihrem dahingeschiedenen kleinen Sohn. Aber größtenteils sind es die Damen, die kommen. Sie sitzen da und nippen an den Tassen aus dünnem Porzellan, und die Frau Direktor läutet eine kleine Porzellanglocke. Sie ist nicht gern eine Frau Direktor, sie hätte es lieber, wenn der Herr Direktor der Direktor von etwas anderem als einem Gefängnis wäre.
Die Freunde des Herrn Direktor waren einflußreich genug, um ihn zum Direktor zu machen, aber nicht zu mehr.
Und so ist sie also hier und muß das Beste aus ihrer gesellschaftlichen Stellung und aus ihren Erfolgen machen, und obwohl ich etwas bin, wovor man Angst hat, ähnlich wie vor einer Spinne, und auch etwas, dem man Barmherzigkeit angedeihen läßt, bin ich auch einer der Erfolge. Ich betrete das Zimmer und knickse und bewege mich hierhin und dahin, mit geschlossenem Mund und gesenktem Kopf, und sammele die Tassen ein oder stelle sie hin, je nachdem; und sie starren mich so unauffällig sie können unter ihren Hauben hervor an.
Der Grund, weshalb sie mich sehen wollen, ist der, daß ich eine berühmte Mörderin bin. Jedenfalls stand das in den Zeitungen. Als ich es das erste Mal sah, war ich sehr überrascht, weil sie Berühmte Sängerin und Berühmte Dichterin und Berühmte Spiritistin und Berühmte Schauspielerin sagen, aber was gibt es an einem Mord schon zu rühmen? Trotzdem ist Mörderin ein mächtiges Wort, wenn es sich an einen selbst hängt. Es hat einen Geruch an sich, dieses Wort – schwer und schwül, wie welke Blumen in einer Vase. Manchmal flüstere ich es nachts vor mich hin: Mörderin, Mörderin. Es ist wie ein Dreiklang.
Mörder ist nur brutal. Mörder ist wie ein Hammer, oder wie ein Stück Metall. Ich bin lieber eine Mörderin als ein Mörder, wenn die beiden die einzige Wahl sind.
Manchmal, wenn ich den Spiegel mit den Weintrauben abstaube, sehe ich mich darin an, obwohl ich weiß, daß es Eitelkeit ist. Im Nachmittagslicht des Salons sieht meine Haut bläulich-violett aus, wie ein verblaßter blauer Fleck, und meine Zähne sind grünlich. Ich denke an all die Dinge, die über mich geschrieben wurden – daß ich ein unmenschlicher weiblicher Dämon bin, daß ich das unschuldige Opfer eines gemeinen Lumpen bin und gegen meinen Willen und unter Lebensgefahr gezwungen wurde, daß ich zu dumm und ahnungslos war, um zu wissen, was ich hätte tun sollen, daß es ein Justizmord wäre, mich zu hängen, daß ich Tiere liebe, daß ich sehr attraktiv bin und einen strahlenden Teint habe, daß ich blaue Augen habe, daß ich grüne Augen habe, daß ich kastanienrotes, aber auch braunes Haar habe, daß ich groß bin und daß ich eine durchschnittliche Größe nicht überschreite, daß ich gut und anständig angezogen bin, daß ich eine tote Frau beraubt habe, um mich besser zu kleiden, daß die Arbeit mir schnell und flink von der Hand geht, daß ich eine mürrische Veranlagung und ein streitsüchtiges Wesen habe, daß ich eher aussehe wie jemand über meinem bescheidenen Stand, daß ich ein gutes Mädchen, aber von leicht zu beeinflussender Natur bin und nichts Nachteiliges über mich bekannt ist, daß ich gerissen und hinterhältig bin, daß ich nicht ganz richtig im Kopf und kaum von einer Idiotin zu unterscheiden bin. Und ich frage mich, wie kann ich all diese verschiedenen Dinge auf einmal sein?
Es war mein eigener Anwalt, der hochwohlgeborene Mr. Kenneth MacKenzie, der ihnen sagte, ich würde mich kaum von einer Idiotin unterscheiden. Ich war deswegen erst böse auf ihn, aber er sagte, es sei bei weitem meine beste Chance, und ich solle mir nur nicht den Anschein geben, zu intelligent zu sein. Er sagte, er würde nach besten Kräften für mich plädieren, weil ich, wie immer die Wahrheit auch aussehen mochte, schließlich kaum mehr als ein Kind sei, und wahrscheinlich würde alles auf die Frage freien Willens hinauslaufen, ob die Geschworenen dieser Meinung seien oder nicht. Er war ein freundlicher Herr, obwohl ich einen großen Teil von dem, was er sagte, um mein Leben nicht verstehen konnte, aber er muß gut plädiert haben. Die Zeitungen schrieben, er habe einen heroischen Kampf gegen eine überwältigende Übermacht geführt. Obwohl ich nicht weiß, wieso man es plädieren nennt, weil er überhaupt nicht plädierte und bat und bettelte, sondern versuchte, die Zeugen als unmoralisch oder boshaft hinzustellen, oder aber als Menschen, die sich täuschten.
Ich frage mich, ob er mir auch nur ein Wort geglaubt hat.
Wenn ich mit dem Teetablett das Zimmer verlassen habe, sehen die Damen sich das Album der Frau Direktor an. »Oh je, mir ist ganz zittrig«, sagen sie, und: »Meine Liebe, wie können Sie diese Person nur frei in Ihrem Haus herumlaufen lassen, Sie müssen Nerven aus Stahl haben, meine eigenen könnten das nie aushalten.«
»Ach, wissen Sie, in unserer Lage muß man sich an diese Dinge gewöhnen, im Grunde genommen sind wir ja selbst Gefangene, und man muß Mitleid mit diesen armen unwissenden Kreaturen haben, und schließlich hat sie Dienstmädchen gelernt, und ohnedies ist es besser, wenn sie eine Beschäftigung haben, sie näht wundervoll, sehr geschickt und schnell, so gesehen ist sie wirklich eine große Hilfe, vor allem bei den Kleidern der Mädchen, sie hat einen Blick für Besätze, und unter glücklicheren Umständen hätte sie eine ausgezeichnete Hilfe für eine Putzmacherin abgegeben.
Aber natürlich darf sie nur tagsüber hier sein,...