Atxaga | Obabakoak oder Das Gänsespiel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Atxaga Obabakoak oder Das Gänsespiel

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30229-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-293-30229-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das entlegene Dorf Obaba, irgendwo in den baskischen Bergen, folgt seinen eigenen Gesetzen. Hier leben verwirrte Herzen, tote Buchstaben und starrköpfige Hühner. Hier stapelt sich das Tomatenkonzentrat in Rosies Eckladen, kriechen Gerüchte um das Haus der Hirten und Eidechsen in unachtsame Ohren. Wer nicht aufpasst, verliert sich auf den Bergpfaden oder hinter der Tür des Nachbarn.

Bernardo Atxaga zaubert ein sinnliches Labyrinth, erzählt fantastisch Reales, sucht nach dem letzten Wort und nach Geschichten ohne Ende. Mit Obabakoak erobert er dem Baskischen einen Platz in der Weltliteratur.

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Esteban Werfel
Die zum großen Teil ledergebundenen und sorgfältig in den Regalen eingeordneten Bücher von Esteban Werfel bedeckten die vier Wände des Raumes fast vollständig; es waren zehn- oder zwölftausend Bände, die zwei Leben umfassten – das seine und das seines Vaters – und überdies eine warme Einfriedung bildeten, einen schützenden Wall zwischen ihm und der Welt, wenn er sich wie an jenem Februartag zum Schreiben hinsetzte. Den Tisch, an dem er saß – ein altes Eichenmöbel, wie viele der Bücher eine Erinnerung an seinen Vater –, hatte er vor vielen Jahren, als er noch ein junger Mann war, von Obaba hierher bringen lassen. Der Wall aus Papier, aus Seiten, aus Worten ließ jedoch eine Öffnung frei, ein Fenster, durch das Esteban Werfel den Himmel sehen konnte, während er schrieb, die Trauerweiden, die kleine Hütte für die Schwäne im Weiher des Stadtparkes. Das Fenster bahnte sich einen Weg durch die Dunkelheit der Bücher, ohne seine Einsamkeit zu stören, und milderte diese andere Dunkelheit, die oft Trugbilder weckt im Herzen der Menschen, die nicht gelernt haben, allein zu sein. Esteban Werfel betrachtete einen Moment lang den wolkenbedeckten weißlichgrauen Februarhimmel. Dann wandte er den Blick ab, zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und entnahm ihr ein Heft mit einem Pappumschlag, auf dem die Zahl Zwölf stand und das bis in die kleinste Einzelheit den anderen, bereits vollbeschriebenen Heften mit seinen Tagebuchaufzeichnungen entsprach. Sie waren hübsch, die Hefte mit dem Pappumschlag. Sie gefielen ihm. Oft dachte er, er missbrauche sie, dachte, die Geschichten, die Gedanken, die er ihnen anvertraute, würden das glückliche Los zunichte machen, das einem Heft – den Heften mit Pappumschlag vor allem – beschieden war. Vielleicht war es übertrieben, sich Gedanken über so etwas wie ein Heft zu machen. Wohl möglich. Doch es war stärker als er, und besonders dann, wenn er sich – wie an jenem Tag – anschickte, ein neues aufzuschlagen. Warum dachte er immer an Dinge, an die er eigentlich nicht denken mochte? Sein Vater hatte einmal zu ihm gesagt: Wenn du Flausen im Kopf hast, beunruhigt mich das nicht; was mich hingegen beunruhigt, ist, dass es immer die gleichen Flausen sind. Genau das war es, immer die gleichen Flausen, doch den Grund dafür hatte er nie herausbekommen. Wie auch immer: Der Drang, der seine immer gleichen Flausen beherrschte, war unbezwingbar, und Esteban Werfel konnte der Versuchung nicht widerstehen, zum Regal hinüberzublicken, wo er die elf bereits beschriebenen Hefte aufbewahrte. Dort standen sie, halbversteckt zwischen geografischen Werken, die Seiten, die Zeugnis von seinem Leben ablegten, die die glücklichen Momente, die bedeutendsten Ereignisse seines Lebens festhielten. Doch es handelte sich keineswegs um einen Schatz. Nein, es stand nichts Ruhmvolles darin. Wenn er sie zur Hand nahm, kam es ihm vor, als blättere er in aschenbeflecktem Papier; er schämte sich und stellte fest, dass in ihm der Wunsch zu schlafen und zu vergessen immer stärker wurde. »Hefte voller toter Buchstaben«, flüsterte er vor sich hin. Auch dieser Gedanke war nicht neu. Doch er durfte sich nicht gehen lassen, durfte sich von seinen Gedanken nicht von der Aufgabe abbringen lassen, derentwegen er sich an den Tisch gesetzt hatte, durfte sich nicht – wie schon so oft – von trauriger Erinnerung zu trauriger Erinnerung immer mehr in die Tiefe ziehen lassen, bis zu dem Land, das er seit langer Zeit – seit der Zeit, als er Student in Geografie gewesen war – sein Kap der Einsamkeit nannte. Er war bereits ein reifer Mann, verstand es, gegen sich selbst anzukämpfen. Und er würde kämpfen, würde das noch unbeschriebene Heft füllen, das vor ihm auf dem Tisch lag. Esteban Werfel nahm seine Feder – sie war aus Holz, und er benützte sie nur für seine Tagebucheintragungen – und tauchte sie ins Tintenfass. 17. Februar 1958, schrieb er. Seine Handschrift war zierlich und gestochen scharf. Draußen vor dem Fenster war der Himmel ganz grau geworden, und ein feiner Nieselregen verdüsterte das Efeu, das die Hütte der Schwäne vollständig überwucherte. Er seufzte. Er hätte sich ein anderes Wetter gewünscht. Er mochte es nicht, wenn der Park ausgestorben war. Er seufzte nochmals. Dann netzte er die Feder und neigte sich über das Heft. Ich bin aus Hamburg zurückgekehrt – begann er seine Eintragung – mit dem Vorsatz, einen Bericht über mein Leben zu schreiben. Doch ich werde nicht in chronologischer und umfassender Art und Weise vorgehen, wie jemand es tun könnte – und vielleicht mit gutem Grund sogar –, der sich selbst als Spiegel einer Epoche oder einer Gesellschaft sieht. Das trifft für mich nicht zu, und so werde ich anders vorgehen. Ich werde mich darauf beschränken zu erzählen, was eines Nachmittags vor langer Zeit geschah – als ich vierzehn Jahre alt war, um genau zu sein –, und von den einschneidenden Folgen, die jener Nachmittag für mein Leben haben sollte. Für einen Mann, der bereits im Herbst seines Lebens steht, hat in ein paar Stunden nicht viel Platz, doch es ist das Einzige, was ich zu erzählen habe, das Einzige, was die Mühe lohnt. Und vielleicht ist es gar nicht so wenig. Letztlich bin ich ein Mann, der sich immer der Lehrtätigkeit gewidmet hat, und es ist allgemein bekannt, dass das Katheder in den Hörsälen eher der Konstipation als dem Abenteuer förderlich ist. Er richtete sich im Stuhl auf und wartete, bis die Tinte trocken war. Der Tag war immer noch grau, doch der Regen war jetzt viel stärker als noch vor ein paar Minuten, und das dumpfe Geräusch der Tropfen auf dem Gras drang deutlich bis ins Zimmer. Auch im Weiher rührte sich etwas: Die Schwäne waren aus ihrer Hütte herausgekommen und schlugen aufgeregt mit den Flügeln. Er hatte die Schwäne noch nie in diesem Zustand gesehen. Ergötzten sie sich am Regen? Oder waren sie vergnügt, weil ihnen heute niemand zusah? Er wusste es nicht; doch mit unnützen Fragen Zeit zu verlieren lohnte sich ebenso wenig. Er tat wohl besser daran, das soeben Geschriebene durchzulesen. Die ersten Zeilen machten ihm immer Mühe. Die Wörter weigerten sich, getreulich das wiederzugeben, was man von ihnen verlangte – als ob sie träge wären oder ihnen die Kraft dazu fehlte. Sein Vater pflegte zu sagen: Unsere Gedanken sind Sand; wenn wir versuchen, eine Hand voll aufzulesen, rinnt uns der größte Teil der Sandkörner durch die Finger. Ja, so war es. Er hatte sich vorgenommen, einen Lebensbericht zu schreiben, wo es doch zutreffender gewesen wäre, von Betrachtungen zu sprechen, denn letztlich war es genau das, was er tun würde: von dem ausgehen, was eines Nachmittags in seiner Jugend geschehen war, und es unter allen Aspekten genau betrachten. Doch das war nicht der einzige Schritt in die falsche Richtung, es gab noch andere. Er hätte das Geschriebene durchstreichen und von Neuem beginnen können, aber das ging gegen sein Prinzip: Er mochte es, wenn die Seiten makellos waren, sowohl die seinen als auch die der anderen, und er war stolz darauf, dass ihm seine Studenten wegen seiner Pingeligkeit den Spitznamen einer bekannten Seifenmarke gegeben hatten. Und im Übrigen – warum sich den Kopf über die ersten Zeilen zerbrechen? Er würde auch in einem zweiten Anlauf Fehler machen. Fehler waren unvermeidlich. Also konnte er ebenso gut weiterfahren, präzisieren, nach und nach den ungeschickten Anfang korrigieren. Er blickte wieder in den Park hinaus. Der Teich lag verlassen da. Die Schwäne hatten sich in ihre Hütte geflüchtet. Nein, offensichtlich behagte der Februarregen auch ihnen nicht. Wie auch immer – fuhr er mit Schreiben fort –, der Anspruch, die besonderen Augenblicke unseres Lebens einzufangen, kann ein großer Irrtum sein. Vielleicht lässt sich das Leben nur in seiner Gesamtheit beurteilen, in extenso, und nicht bruchstückweise, nicht dadurch, dass man einen Tag erfasst und einen anderen weglässt, nicht dadurch, dass man die Jahre auseinander nimmt wie die Teile eines Puzzles, um schließlich festzustellen, dass dieses sehr gut und jenes sehr schlecht war. Denn alles, was lebt, ist wie ein Fluss. Ohne Unterbrechungen, ohne Rast. Obwohl das eine Tatsache ist, so lässt sich dennoch die sozusagen gegenteilige Neigung unseres Erinnerungsvermögens nicht leugnen. Wie jeder gute Zeuge neigt die Erinnerung zum Konkreten, neigt dazu zu selektionieren. Sagen wir einmal – um einen Vergleich zu nehmen –, sie geht wie ein Auge vor. Aber nie, wie es ein Buchhalter tun würde, der es gewohnt ist, in Bestandsaufnahmen zu denken. Zum Beispiel kann ich jetzt im Park die Hütte der Schwäne sehen; sie ist vollständig mit Efeu überwuchert, der an sich schon düster ist, doch an Regentagen wie heute wirkt er noch viel düsterer. Ich sehe sie, doch streng genommen sehe ich sie überhaupt nicht. Jedes Mal, wenn ich aufschaue, gleitet mein Blick über das eintönige Grün oder Schwarz der Blätter, und er sucht, bis er den rötlichen Fleck an einer Ecke des Daches entdeckt. Ich weiß nicht einmal, was es ist. Vielleicht ist es ein Fetzen Papier … oder eine Primel, die sich zum Knospen diese Stelle ausgesucht hat, oder ein Ziegel, der zwischen dem Efeu hindurchleuchtet. Wie auch immer: Meinen Augen ist das gleichgültig. Sie fliehen...


Waeckerlin Induni, Giò
Giò Waeckerlin Induni, in einer italienischsprachigen Familie in Zürich aufgewachsen, war Lektorin und Übersetzerin vorwiegend aus dem Italienischen, Spanischen und Englischen.

Atxaga, Bernardo
Bernardo Atxaga, mit eigentlichem Namen Joseba Irazu Garmendia, wurde 1951 im baskischen Ort Asteasu (Provinz Guipúzcoa) geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften. Mit Romanen, Gedichten, Liedertexten und Kinderbüchern gewann er in seiner Heimat große Popularität. Sein Roman Obabakoak ist mit den höchsten Literaturpreisen Spaniens ausgezeichnet worden und wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. 2021 erhielt Atxaga für sein Werk den Premio Liber.



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