E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Bahl Wenn der Berg ruft
1. Auflage 2007
ISBN: 978-3-86913-314-0
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Bergkirchweih-Krimi - Frankenkrimi
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-86913-314-0
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lucas Bahl, eigentlich Achim Schnurrer, wurde 1951 in Bergisch-Gladbach geboren und verbrachte seine Kindheit in Köln. Seit Anfang der 1980er Jahre lebt er in der Nähe von Erlangen. Lucas Bahl ist freier Schriftsteller und Journalist. 15 Jahre lang betätigte er sich auch als Redakteur und Herausgeber im Comic-Bereich. Seine schriftstellerischen Arbeiten umfassen die Bereiche Science Fiction und Fantasy ebenso wie historische Romane, Krimis und Thriller.
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I · Schnee
Zuerst hielt er die Hand für einen Ast. Seine verdorrten Zweige griffen wie Finger nach der im Wind flatternden Plastikplane. Fleischfarben war die Hand nicht. Nicht mehr ... Das hing vielleicht mit dem grauen, regenverschatteten Licht des Tages zusammen. Dem Kalender nach stand der Frühling vor der Tür. Seinem Gefühl nach war es Herbst und de facto Winter, aber immerhin hatte es endlich aufgehört zu schneien. Die Regentropfen, die seit einem Tag wie kleine Wasserbomben die Schneedecke durchlöcherten, waren da auch keine Verbesserung, weder für seine Gemütslage noch für die Sicht. Doch dann erkannte er nach wenigen Schritten, dass es sich bei dem Gebilde, das da aus der Schneewehe ragte, nicht um ein Stück Holz handeln konnte.
Der Wind war immer noch eisig. Bisher hatte ihn der anthrazitfarbene, gut gefütterte Mantel einigermaßen davor geschützt, doch jetzt breitete sich mit einem Schlag die Kälte in ihm aus, so als stünde er nackt im wadenhohen, pappigen Schnee.
Dabei hatte er nur eine Abkürzung nehmen wollen. Quer durch das Waldstück bis runter zum Kanal. ›Wenn ich schon nach Baiersdorf fahren muss, um den Bürgermeister wegen des Kirchenglocken-Urteils zu interviewen, dann kann ich die Gelegenheit nutzen und einen Spaziergang machen‹, hatte er sich gedacht. ›Einen langen Spaziergang.‹ Der Wald, der sich zwischen der fränkischen Meerrettichmetropole und Röttenbach ausbreitete, lud dazu ein. Schlechtes Wetter hin oder her.
Nachdem er zwanzig Minuten O-Ton – vom Bürgermeister und seinem Kontrahenten – für einen Beitrag von maximal eineinhalb Minuten in seinem Sony abgespeichert hatte, war er aufgebrochen, hatte in Wellerstadt die hübsche, alte Brücke über die Regnitz genommen, etwas später die weniger attraktive über den Kanal, war dann ein kurzes Stück auf dem Kanaldamm in Richtung Hausen gelaufen und bald darauf nach links in den Wald abgebogen, noch lange bevor er in die Nähe der Hausener Schleuse gekommen war. Oben auf dem Damm hatten ihn Wind und Wetter gebeutelt, sodass er den schneematschigen Boden unter den Bäumen schon fast begrüßte.
›Immer noch besser, als diesem Ekelwetter von allen Seiten ausgesetzt zu sein!‹, dachte er und zuckte beim Anblick seiner nagelneuen Stiefel, die bis in Knöchelhöhe eine undefinierbare Farbe angenommen hatten, resigniert die Schultern. ›Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung‹, schoss es ihm mit der unverkennbar oberlehrerhaften Stimme seines Vaters durch den Kopf, den er und seine beiden Brüder nicht nur wegen seiner platten Sprüche gefürchtet hatten, sondern auch wegen seines verbissenen Eifers, mit dem er das allwöchentliche Ritual des Sonntagsspaziergangs, ungeachtet jeglicher klimatischer Verhältnisse, zu zelebrieren pflegte.
Der eisige Griff, der sein Herz innerlich gepackt hielt, ging direkt von der Hand aus, die neben dem Holzstoß wie die Überreste eines vom Sturm gefällten jungen Baums hochragte. Trotz der Erstarrung, die ihn in einen Eisklotz zu verwandeln drohte, zwang er sich, noch einige Schritte auf sie zuzugehen. Er bewegte sich mechanisch, so wie ein Spielzeugroboter. Es waren eindeutig menschliche Finger, die vor ihm in die Luft griffen. Und der Wind tobte so heftig in den Bäumen, dass es aussah, als winkten sie ihn immer näher heran.
»Das perfekte Szenario für einen Horrorfilm«, würde er später am Abend seinem Freund Nero berichten, »in diesem Augenblick habe ich fast damit gerechnet, dass die Klaue nach mir greifen würde, sobald ich in Reichweite käme ...«
Erst einige Gläser Don Pascual später würden dann am Abend zumindest die Kühltruhentemperatur in Herz und Magen vertreiben. Außerdem würde der Wein helfen, Nero gegenüber betont locker aufzutreten – das Wort »cool« mochte er im Moment wirklich nicht. Nicht nur, weil sein Freund gewissermaßen vom Fach war, sondern auch wegen der ironisch hochgezogenen, rechten Augenbraue, die Nero fast immer dann zum Einsatz brachte, wenn man ihm von ungewöhnlichen Vorfällen berichtete.
Der Arm ragte aus dem Schnee empor.
Ellbogen, Oberarm und Schulter waren noch von einer Schneeschicht bedeckt, der Regen hatte aber inzwischen auch einen Teil des Kopfs der Leiche freigelegt, und es war der Blick des Toten, der ihn noch wochenlang bis in seine Träume verfolgen sollte, was jedoch nicht nur an den wie in einer alten Fotografie zwischen Erstarrung und Entgleisung fixierten Gesichtszügen lag, sondern vor allem daran, dass er den Mann kannte, über dessen Leiche er fast gestolpert wäre. Das aufdringliche Knattern der Plastikplane im Wind, die über den Holzstoß gespannt worden war und die sich an der Ecke, wo die Leiche lag, losgerissen hatte, rief ihn aus seinem Schock zurück in die Realität. Er spürte, dass er einige Momente lang im Begriff gewesen war, aus Furcht und Panik in ein imaginäres Irgendwohin abzudriften, wo es keine Kontrolle mehr über das Hier und Jetzt gegeben hätte.
Plötzlich beneidete er die zart besaiteten Damen des 18. Jahrhunderts, die bei geringeren Anlässen in den wohligen Zustand der Ohnmacht gesunken waren, aus dem sie von starken Kavalieren mittels Riechfläschchen und vorsichtigem Öffnen der Mieder – vor allem durch das Öffnen der Mieder! – wieder zurückgeholt worden waren.
Dann verscheuchte er mit einer wütenden Geste die Gedanken an Mieder und Riechfläschchen und nestelte mit zittrigen Fingern endlich sein Handy aus der Tasche.
»Natürlich hatte ich es ausgeschaltet!«, blaffte Ernst später am Abend heftiger als angemessen. »Ich lass mich doch während meiner Spaziergänge nicht durch Anrufe von meiner Redaktion oder wem auch immer nerven ...«
In einer wirren, unnötige Details hervorhebenden Erzählung schilderte er seinem Freund Nero den Leichenfund. Er nahm einen tiefen Schluck von dem samtig-herben Rotwein aus Spanien und atmete mit einem ebenso tiefen Seufzer aus. Erst jetzt begann er zu spüren, dass ihn die Geschichte anscheinend doch mehr mitgenommen hatte, als er sich eingestehen wollte.
›Als Journalist solltest du wirklich abgebrühter sein‹, mahnte eine seiner inneren Stimmen, ›denk an die Kollegen im Irak oder in Afghanistan ... So was müssen die sich jeden Tag anschauen, und dort sind die Leichen meist in einem wesentlich schlimmeren Zustand ...‹ Er war froh, dass er nur ein kleiner Lokalreporter war, der, wohl behütet und ohne allzu ehrgeizige Ambitionen, im Schoß des Bayerischen Rundfunks sein Auskommen gefunden hatte.
»Und du hast die Redaktion angerufen, bevor du die Polizei verständigt hast?«, fragte Nero ungläubig.
»Das war doch Ehrensache«, erwiderte Ernst, »aber ich hätte es genauso gut auch umgekehrt machen können. Schließlich haben mich unsere uniformierten Freunde und Helfer noch mindestens eine Viertelstunde in dem Sauwetter warten lassen, bevor sie sich endlich bequemt haben zu kommen.«
»Es war für sie ja auch wirklich der nächste Weg«, sagte Nero trocken. Der Wald zwischen Baiersdorf und Hausen reichte an einigen Stellen bis an den Kanal heran, oft lag nur ein schmaler Streifen Acker oder Wiese zwischen dem Weg am Kanal und den Bäumen.
»Wenn du willst, kommst du da auch mit dem Auto hin«, erwiderte Ernst.
Er wunderte sich immer noch, mit welcher Abgebrühtheit er später nach Nürnberg ins Studio gefahren war und seinen Beitrag über den Fund der Leiche des seit Dezember vergangenen Jahres vermissten Erlanger Brauereibesitzers Albert Adler fertig gestellt hatte. Selbstverständlich ließ er in der Meldung unerwähnt, dass er selbst es gewesen war, der die Leiche gefunden hatte. Danach schrieb und schnitt er die eineinhalb Minuten über den Baiersdorfer Kirchenglocken-Streit und war stolz: Er hatte seine Arbeit gemacht.
Die sich zerfasernde Erzählung des Vorfalls, die Nero von Ernst hörte, unterschied sich gravierend von dem Radiobericht, obwohl sie beide das Gleiche aussagten. Doch Nero kannte die Rundfunkfassung nicht, und er bekam auch keine Langfassung oder »extended version« zu hören, sondern den ganz privaten Remix seines Freundes.
Ernst wunderte sich noch immer darüber, dass der Polizist, der seine Personalien aufgenommen hatte, mehr an ihm und seinen Daten interessiert gewesen war, als daran zu erfahren, um wen es sich bei dem Toten handelte. Dabei war das doch die eigentliche Sensation. Eine beklemmende Sensation, ohne Frage, aber eine für die Region wichtige. Möglicherweise hatten sogar die Münchner seinen Beitrag übernommen. Das würde ihm mit dem Bericht über die Baiersdorfer Kirchenglocken nicht so schnell passieren. Er schmunzelte halbherzig. Der würde da stecken bleiben, wo er hingehörte. In den Regionalnachrichten von Studio Franken.
»Sie heißen also Bier?«, hatte der Polizist ihn gefragt.
»Pier«, erwiderte er knurrend und deutete mit dem Finger aus dem beschlagenen Fenster des VW-Busses, in dem sie saßen. »Hören Sie, da draußen liegt die Leiche von ...«
»Schon gut, das sagten Sie schon. Und Ihr Vorname ...?«
»Sagen Sie, interessiert Sie das überhaupt nicht?«
»Doch, aber da kümmern sich jetzt die Kollegen drum. Sie heißen also Bier«, wiederholte der Beamte und tippte auf den Journalistenausweis, der vor ihm auf der kleinen Platte des Klapptischs lag. Inzwischen standen mindestens ein halbes Dutzend Einsatzwagen auf dem Kanaldamm, und trotz des Dauerregens hatten sich einige Schaulustige eingefunden, die von den Polizisten daran gehindert wurden, sich über dem halb verschneiten, halb matschigen Feld dem Waldstück...




