E-Book, Deutsch, 222 Seiten
Baiter / Grömling / Lucille Seelenwandel
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7322-6171-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Geschichten über das Schicksal
E-Book, Deutsch, 222 Seiten
ISBN: 978-3-7322-6171-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wie schwer hast Du zu tragen? Lass dich entführen auf eine fantastische Reise. Ein Mosaik voller Freude, Leid und Last und jeder ist ein kleines Stück davon. Ein Sammelsurium aus 15 Kurzgeschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und das Schicksal in all seiner Vielfalt zeigen. Geschrieben von 13 einzigartigen Autoren. Gruselig, mystisch und geheimnisvoll. Erlebe die dunkelsten Stunden und tiefsten Abgründe der Seele. Und das alles, für den guten Zweck. Der Erlös dieser Anthologie wird an die Stiftung Deutsche Depressionshilfe gespendet.
Larissa Baiter startete als Neuautorin im Herbst 2018 mit einer eigenen, liebevollen Kurzgeschichtensammlung rund um Weihnachten. Weiter schreibt sie als freischaffende Journalistin für mehrere Onlinemagazine und ist eine der Herausgeberinnen dieser Anthologie.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kaia Rose: Stunde der Wahrheit
Gestern ist Eva gestorben. Meine Mutter. Ich war nicht bei ihr, als es geschah, ich arbeitete draußen auf den Feldern. Sie schickten Awan, um mir die Nachricht zu überbringen. »Kain!«, brüllte sie meinen Namen gegen den Wind, schon lange bevor sie den Acker erreichte. Ihr wilder Schrei traf mich wie ein Peitschenschlag. Ihre Stimme klang ganz anders als sonst – panisch, schrill. Mit einem Ruck richtete ich mich auf. Ich sah sie auf mich zueilen, mit zerzaustem Haar und fliegendem Schritt, wie ein gehetztes Tier. Sofort erwachte der Jäger in mir, jeder meiner Muskeln spannte sich an und mein Körper straffte sich – bereit, mich ihrem Verfolger entgegen zu werfen. Ich kniff die Augen zusammen, um erkennen zu können, wer oder was hinter ihr her war. Aber da war nichts. Verwirrt blickte ich ihr entgegen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Als sie näher kam und ich ihr Gesicht ausmachen konnte, erschrak ich: Ihre Züge waren zu einer monströsen Maske verzerrt, die Augen weit aufgerissen, die Wangen tränennass. Zögernd setzte ich mich in Bewegung, um ihr entgegen zu gehen. Ich ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Ich wollte es nicht hören. Ich wollte mein Leben weiterleben, so wie ich es die letzten Jahre getan hatte, ohne große Ansprüche, aber auch ohne vernichtende Tiefschläge. Was auch immer die Nachricht war, die mich erwartete, ich verspürte einen beinahe unwiderstehlichen Drang, mich ihr zu entziehen. Doch ein weiterer Blick in die von Entsetzen entstellte Miene meiner Frau machte dem Anflug von Feigheit ein Ende. Sie brauchte mich. Ich beschleunigte meinen Schritt, begann zu laufen. Sobald sie mich erreicht hatte, warf sie sich schluchzend in meine Arme. Einen Moment lang wankte ich unter ihrem Gewicht, ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich dermaßen hemmungslos fallenlassen würde. Es passte nicht zu Awan, so die Beherrschung zu verlieren – stark und stolz, wie sie war. Schnell fand ich mein Gleichgewicht wieder, schlang die Arme fest um sie und strich ihr beruhigend über das wirre Haar. Meine Hand zitterte, und kalte Angst vor dem Grauenhaften, das sie in diesen Zustand versetzt hatte, trieb mir Schweißtropfen auf die Stirn. Die Ungewissheit war nicht länger zu ertragen. Jetzt musste ich es erfahren! »Was ist passiert?«, presste ich mit rauer Stimme hervor, und da brach es auch schon aus ihr heraus: »Sie ist tot, Kain, sie ist gestorben – und wir haben es nicht einmal bemerkt!« Ein würgendes Keuchen entrang sich ihrer Lunge, und sie krümmte sich in meinen Armen wie unter einem Krampf. Ich richtete sie wieder auf, umschlang sie und hielt sie fest, aber sagen konnte ich nichts. Sie war tot. Unsere Mutter. Nie wieder würde ich an ihrem Lager sitzen, ihr schütteres Haar streicheln und ihre dürre Hand an meiner Wange spüren. Nie wieder ihre Augen bei meinem Anblick aufleuchten sehen. Sie hatte mich allein gelassen, ohne Abschied. Lange standen wir so da, Awan und ich, mitten auf dem Acker wie zwei Schiffbrüchige auf den Resten ihres Floßes, und klammerten uns aneinander fest. Wir weinten beide. Awan laut und heftig – ihr ganzer Körper schüttelte sich unter wilden Schluchzern, und von Zeit zu Zeit stieß sie langgezogene Klagelaute aus, die in mein Inneres schnitten wie Messer. Ich hingegen trauerte still, ließ den Tränen ihren Lauf, spürte, wie sie mir über die Wangen rannen, sich ihren Weg durch die Bartstoppeln suchten und auf Awans Kopf heruntertropften. Irgendwann ebbten ihre Krämpfe ab, sie begann ruhiger zu atmen und fing an, stockend und immer wieder unterbrochen durch stoßweise Seufzer zu erzählen: »In der Früh hat Azura ihr noch ihren Brei gegeben, wie immer. Sie war störrisch, hat immer wieder versucht, Azuras Hand wegzuschieben, und dieses fürchterliche Wimmern ausgestoßen. Du kennst das ja. Azura hat ihr Bestes getan, aber die Schüssel war noch fast voll, als sie aufgeben musste. Dann haben Azura und ich sie gewaschen und ihr Lager frisch gemacht, wie immer. Sie war ruhiger als sonst, hat weniger gejammert. Vielleicht hätte uns das auffallen müssen. Vielleicht hätten wir misstrauisch werden müssen. Aber wir waren froh, dass es heute ein wenig einfacher war als sonst, und haben sie in Ruhe gelassen. Sie war so müde. Und dann…«, Awans Stimme verlor sich in einem Flüstern und erstarb schließlich ganz. Neuerlich bebten ihre Schultern unter einem Tränenansturm, aber diesmal gab sie kaum einen Laut von sich – nur kleine, leise Seufzer, so als habe sie keine Kraft mehr für heftige Ausbrüche. Das war beinahe noch schwerer zu ertragen als ihr lautstarkes Klagen. Ich wiegte sie ein wenig in meinem Arm hin und her, küsste sie sanft auf den Scheitel und sprach sie mit beruhigender Stimme an, wie ich es bei verstörten Tiere tue: »Was war dann, Awan?« Sie schluchzte ein paar Mal. Ich konnte sehen, dass sie um Fassung rang. »Wir haben sie vergessen. Es war so viel zu tun. Wir haben heute die Felle gewaschen, waren alle in unsere Arbeit vertieft. Zur Mittagsstunde schien sie zu schlafen. Wir wollten sie nicht wecken und mit dem Brei quälen … wir haben erst am Abend wieder nach ihr gesehen«, Awan stöhnte auf, »und da war sie schon kalt.« Danach standen wir wortlos. Lange. Ich hielt Awan immer noch fest im Arm, aber ich streichelte sie nicht mehr. Wie Gift sickerte die Nachricht in mich ein, die sie mir überbracht hatte. Ich konnte geradezu spüren, wie sie sich Tropfen für Tropfen in meinen Körper fraß und mich zu Stein erstarren ließ. Sie hatten sie vergessen. Meine Mutter, ihre Mutter. Hatten sie unbemerkt sterben lassen – ganz allein. Schließlich löste ich mich vorsichtig von Awan und nahm sie bei der Hand. »Komm, wir müssen zurück. Ich will sie sehen.« Meine Stimme klang fremd und fern, als gehörte sie nicht zu mir. Aus der Hütte drang ein schwacher Lichtschein. Ich konnte gedämpfte Stimmen vernehmen, dazwischen das Weinen eines Kindes. War es Irad, dessen klägliches Jammern das Flüstern der Erwachsenen übertönte? Der Gedanke an meinen Enkel ließ mich für einen Moment leichter atmen. Doch als wir die Türe erreichten, krampfte sich alles in mir zu einem schmerzhaften Knoten zusammen. Ich wollte dort nicht hinein. Ich wollte mich dem Anblick nicht stellen. Awan schien zu spüren, was in mir vorging, und drückte kurz meine Hand. Ich nahm einen tiefen Atemzug und stieß die Türe auf. Als wir den Raum betraten, verstummten die Gespräche schlagartig. Alle Gesichter wandten sich uns zu. Große, dunkle Augen. Verquollene Wangen. Da und dort ein unterdrücktes Schluchzen. Ich vermeinte etwas wie Angst in ihren Mienen zu lesen – Angst vor mir, vor meinem Zorn und der Strafe, die sie zu erwarten hatten, weil sie meine Mutter unbemerkt hatten sterben lassen. Sie hätten es besser wissen müssen. Ich war nicht wie Adam. Mein Vater hätte seinen Schmerz mit vollen Händen über sie ausgegossen. Gnadenlos wäre er unter sie gefahren wie ein Racheengel und hätte sie büßen lassen für das, was er zu erleiden hatte. Aber es war nicht Adam, den es traf. Er war schon vor Jahren von uns gegangen, urplötzlich. Sein Haar war noch nicht ganz ergraut gewesen, als ihn der Tod aus dem Hinterhalt überrascht hatte, in der Gestalt einer Viper. Wir waren alle dabei gewesen, wie er innerhalb weniger Stunden verfallen war und unter grauenhaften Qualen sein Leben gelassen hatte. Danach war nur noch sie unser Anker gewesen – Eva, die Urmutter. Und ich war derjenige, den sie jetzt zurückließ. Schweigend bahnte ich mir einen Weg durch den Raum in den hinteren Bereich der Hütte. Die anderen wichen ein wenig zurück, um mir Platz zu machen. Evas schmale Silhouette ruhte auf ihrem Lager wie immer. Für einen Sekundenbruchteil machte mein Herz einen Sprung. Sie war nicht tot, sie schlief nur! Die Frauen hatten sich getäuscht! Doch als ich näher trat und ihr eingefallenes, graues Gesicht betrachtete, krampfte sich alles in mir zusammen. Vorsichtig streckte ich die Hand aus und berührte ihre Wange. Doch sofort zuckte ich zurück, als hätte ich mich an der dürren Haut verbrannt. Nichts vermochte den Tod in seiner brutalen Endgültigkeit klarer auszudrücken als das Gefühl dieser Wange unter meiner Hand. Sie war kühl wie Leder und fühlte sich nicht mehr menschlich an. Die Hülle, die vor mir auf das Lager gebettet lag wie gestern noch meine Mutter, war nicht Eva. Eva gab es nicht mehr. Ich musste mich abwenden. Mein Magen krampfte sich zusammen, als müsste ich mich übergeben, aber nur ein trockenes Stöhnen entrang sich meiner Kehle. Die verängstigten Gesichter der Frauen und Kinder waren immer noch auf mich gerichtet, erschrocken beobachteten sie jede meiner Regungen. Ich konnte es nicht ertragen. »Ich verbringe die Nacht im Stall!«, presste ich hervor. Ich wollte nur zum Ausgang, heraus aus dieser Hölle. Awan trat mir in den Weg und legte mir die Hand auf den Arm. »Soll ich mit dir kommen?« Für einen Augenblick verspürte ich den Drang ihr ins Gesicht zu schlagen, doch sofort hatte ich mich wieder im Griff. »Nein danke, bleib du bei den anderen. Sie brauchen dich jetzt. Ich muss alleine sein.« Draußen holte ich tief Luft. Der kühle Abendwind legte sich wie eine tröstende Hand auf mein erhitztes Gesicht. Ich war erleichtert, die Hütte hinter mir zu lassen, die angstvollen Gesichter, die leblose Schale dessen, was einmal meine Mutter gewesen war. Als ich die Stalltür öffnete, schlug mir der wohl vertraute dampfige Geruch entgegen. Die Ausdünstungen der Tiere, das frische Stroh, das...