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E-Book, Deutsch, Band 40, 306 Seiten

Reihe: bibliothek altes Reich

Baumann Juristen als Experten?

Wissensbestände und Diskurse von Juristen im 16. und 17. Jahrhundert

E-Book, Deutsch, Band 40, 306 Seiten

Reihe: bibliothek altes Reich

ISBN: 978-3-11-107072-8
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Juristen entwickelten in der Vormoderne eine eigenes Berufswissen, das geheim war und in einem komplizierten Kommunikationsprozess entstand. Entscheidend hierfür war die alltägliche Routine. Die Beiträge dieses Bandes wollen herauszufinden, wie Juristen in Europa Wissen generierten und es in der Praxis umsetzten. Dies geschieht beispielhaft anhand von Diskussionen zur Pest und über Wirtschaftsfragen. Aber auch Institutionen wie der Reichshofrat, der Große Rat von Mechelen und die Tübinger Juristenfakultät werden untersucht. Hinzu kommen Aufsätze über die Möglichkeiten der Wissensgenerierung durch Wunderkammern und über die Verwendung von juristischer Literatur. Eine besondere Rolle spielt der Straßburger Georg Obrechts (1547-1612).
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Juristen als Experten? Wissensbestände und Diskurse der Juristen im 16. und 17. Jahrhundert
Anette Baumann In den Forschungen zur Frühen Neuzeit werden seit einiger Zeit Fragen der Wissensgenerierung verstärkt diskutiert. Hierzu wurden verschiedene Gedankenmodelle, die die Performanz und Medialität vormoderner Wissenskulturen untersuchen,1 und über die Rolle der Akteure, die als Experten bezeichnet werden, entwickelt. So werden Experten unter anderem als Gelehrte definiert, die ein eigenes „Berufswissen“ in einem Kommunikationsprozess2 herausbildeten. Die Experten hätten damit eine eigene Wirklichkeit konstruiert und zur sozialen Kontrolle institutionalisiert. Entscheidend für diesen Vorgang sei die alltägliche Routine im Schreibbüro gewesen, bei der immer die gleichen Wissensbestände abgefragt worden seien. Diese Definition diente dem Göttinger Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts“ als Grundlage. Das Kolleg hatte u.?a. den Blick auf Relationen und Dynamiken von Wissen innerhalb bestimmter historischer Situationen, wie z.?B. den frühneuzeitlichen Hof, gelenkt, um so die spezifische dynamische Rolle des Experten zu historisieren.3 Frühneuzeitliche Juristen spielen dabei nur am Rande eine Rolle, der Fokus liegt hier eindeutig im Mittelalter und bei Laienrichtern.4 Basis hierfür bildeten die Überlegungen von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, die sich mit der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit beschäftigten.5 Den Wissenschaftlern ging es vor allem darum, Wissen als ein Ergebnis von Aushandlungsprozessen zu begreifen bei denen alltäglichen Praktiken eine besondere Bedeutung zukam. Der Experte wird dabei als Wissensträger gesehen, der sich in einer bestimmten Kommunikationssituation besonders auszeichnet. Er hat dabei die Rolle, die Komplexität der Welt zu erklären und so Orientierung und Entlastung für den Laien zu bieten. Gleichzeitig gibt damit der Laie ein Teil seiner Handlungs- und Entscheidungsautonomie auf.6 Während sich die Göttinger Wissenschaftler eher auf den einzelnen Experten fokussierten, legte Ludwik Fleck bereits in den 1920er Jahren den Schwerpunkt seiner Überlegungen vor allem auf die Diskurssituation einer mehr oder minder geschlossenen Gruppe von Experten, die sich ständig weiterentwickle. So definiert Fleck in seinem Werk „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ die Wissensträger eines Faches als eine Gemeinschaft von Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen.7 Es ging Fleck also vor allem darum, wie Experten Kommunikation über ihr Wissen betreiben und welche Wissensformen sie daraus entwickeln. Die Ausbildung des einzelnen Individuums, das durch eigene Identität, Mitgliedschaft, theoretisches Rüstzeug sowie praktische Erfahrenheit definiert ist, macht den Einzelnen zu einem Vertreter einer bestimmten kollektiven Anschauung.8 Fleck hat dafür den Begriff des „Denkkollektivs“ geprägt. Dieses „Denkkollektiv“ besitzt zudem eine innere Geschlossenheit, die Zwang ausübt und die ihn von anderen „Denkkollektiven“ abgrenzt.9 Ergänzt und erweitert werden Flecks Vorstellungen durch Cornel Zwierlein.10 Dieser sieht menschliche Entscheidungen und Handlungen als Reaktion auf eine geänderte Weltwahrnehmung und untersucht die daraus folgenden Auswirkungen auf Prozesse und Strukturen im politischen Umfeld.11 Sein Fokus ist deshalb vor allem auf die Perspektive der Experten als Akteure in ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Umfeld gerichtet. Entscheidungen und Entscheidungsfindungsprozesse haben bei ihm eine besondere Bedeutung, da sie „Kopplungsstellen … von der Gegenwart in eine Zukunft“12 sind und somit geänderte Formen von Gegenwarts- und Zukunftswahrnehmung wirksam werden. Sie sind außerdem Orte der Osmose zwischen Theorie und Praxis.13 Bezieht man diese Modelle auf die Juristen der Frühen Neuzeit, so stellt man relativ schnell fest, dass diese Definitionen nur zum Teil auf juristisches Wissen und die Arbeit damit anwendbar sind. Denn ein Jurist zu sein bedeutet vor allem, Wissen über das Recht zu haben und gleichzeitig Werte und Maßstäbe zu wissen bzw. zu entwickeln, die dem Juristen in seiner Eigenschaft als Jurist auferlegt sind. Sie befähigen ihn, Entscheidungen zu treffen, deren Basis die Inanspruchnahme der eigenen Kenntnisse der Rechtsmaterie bildet.14 Deshalb muss – um das Spezifische der juristischen Arbeit und ihres Expertentums definieren zu können – zuerst einmal gefragt werden, ab wann Juristen eigentlich die eigene Sachkenntnis für eine bestimmte Rechtsfrage als ausreichend bewerteten und wie dieser Prozess genau ablief.15 Die oben geschilderten Definitionen können deshalb nur dazu dienen, dieses Spezifikum genauer herauszuarbeiten. Dies ist Ziel des vorliegenden Bandes. Zwei Beispiele aus dem neu entdeckten Quellenbestand der Notizen der Richter16 des Reichskammergerichts sollen dieses Anliegen verdeutlichen. Sie ermöglichen es – wenn auch nur im beschränkten Umfang – einen direkten Blick in den Entscheidungsfindungsprozess eines der Höchsten Gerichte des Alten Reiches zu werfen. Die Richternotizen sind eine neue Quellengattung, die lange unentdeckt blieb und von der Forschung noch kaum beachtet wird.17 1531 klagten die Mindener Stifte gegen die Stadt Minden vor dem Reichskammergericht.18 Die Stifte waren der Ansicht, dass die Plünderung der Kirchen durch die städtischen Bürger Landfriedensbruch sei. Das Gericht ließ sich mit einer Bearbeitung vorerst einmal Zeit. Schließlich verfügten die Richter im März 1536 ein erstes Mandat mit einer Strafandrohung von sechzig Mark. Außerdem sollte die Stadt alles Entwendete den Stiften zurückerstatten. Der Tatbestand des Landfriedensbruchs war nach Meinung der Richter aber nicht erfüllt. Die Stadt wollte das Mandat jedoch nicht anerkennen und eine weitere Beratung der Richter wurde notwendig. In einer Sitzung vom 18. März 1536 wurde über die Verhängung des Banns als Folge der Nichtbefolgung des Mandats durch die Stadt Minden diskutiert.19 Diese Sitzung wird durch den von Bayern präsentierten Richter Caspar Everhardus20 in seinem Notizbuch ausführlich beschrieben. Der Referent Philipp Burckhardt war gegen die Verhängung der Acht wegen der Missachtung des zweiten Mandats, da es sich bei dem zweiten Mandat nur um die Fortsetzung des Verfahrens handle.21 Der vom Kaiser präsentierte Burckhard forderte aber, dass die Stadt die Priester wieder einsetzen müsse und die Kosten tragen. Die Richter Everhardus und Heinrich Faut22 stimmten – zwar mit einigem Bedenken – dem Referenten zu. Morus23 wollte dagegen ein Mandatum sine clausula erkennen, um so auch den Mindener Bürgern Einreden zu ermöglichen.24 Visch25 stimmte im Großen und Ganzen Morus zu, während Selbwitz ein Mandat grundsätzlich nicht gerechtfertigt sah und meinte, dass man für diesen Prozess die Religionsartikel anwenden müsse.26 Nach einer weiteren Diskussion, die der Autor Everhardus nicht mehr vollständig protokolliert hat, einigten sich die Richter auf die Verhängung der Acht. Allerdings wollte das Gericht damit nicht das Vergehen der Bürger der Stadt Minden verurteilen, sondern die Richter wollten vielmehr – nachdem die Stadt Minden glaubte, das erste Mandat des Gerichts ignorieren zu können – damit die Autorität des Gerichts im Reich aufrechterhalten.27 Das Urteil ist also eindeutig politisch motiviert. In der Literatur wird davon geredet, dass die Acht „wegen des beharrlichen Ungehorsams“28 der Mindener Bürger verhängt worden sei. Die neu entdeckte Quelle der Richternotizen des Everhard zeichnet aber ein anderes Bild. Es ging nicht nur um die Aufrechterhaltung der Autorität des Gerichts gegenüber der Stadt Minden, sondern um das Ansehen des Gerichts im gesamten Reich. Die eigentlichen Handlungen der Mindener Bürger wurden zum willkommenen Anlass des Gerichts, sich Autorität zu verschaffen.29 Das zeigt einmal mehr den komplexen Entscheidungsfindungsprozess der Richter, in den neben juristischen Argumenten eben auch politische Überlegungen mit einflossen. Entscheidend ist hier aber auch: die Mehrheit der Richter wollte auf keinen Fall auf einer religiösen Ebene argumentieren. Im zweiten Beispiel kann man die Besinnung der Richter auf ihre eigenen Kernkompetenzen beobachten. Es zeigt sich, dass die gelehrten Juristen des Reichskammergerichts auch auf die Expertise nicht gelehrter Juristen vertrauten und wirft neue Blicke auf die bisher in der Forschung vernachlässigte Austrägalgerichtsbarkeit30. So schildert der Richter Werner von Themar um 1550 einen Fall in dem es um die „custodia“ also die Gefangennahme eines Adeligen ging.31 Graf Johannes von Leuchtenberg hatte seinen Bruder Georg (1502?–?1555) gefangengesetzt. Georg war aus der Haft geflohen und hatte beim Reichskammergericht auf Landfriedensbruch geklagt. Der Senat diskutierte darüber ausführlich und erklärte sich in diesem Fall ausdrücklich für nicht...


Anette Baumann, Justus-Liebig-Universität, Gießen.


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