Buch, Deutsch, 88 Seiten, Format (B × H): 190 mm x 260 mm, Gewicht: 200 g
Buch, Deutsch, 88 Seiten, Format (B × H): 190 mm x 260 mm, Gewicht: 200 g
ISBN: 978-3-907350-26-3
Verlag: Edition Haus am Gern
Der Maler Martin Ziegelmüller wird 90 Jahre alt. Aus Anlass dieses Jubiläums erscheint in der Edition Haus am Gern eine kleine, aber umso feinere Publikation, die im Frühjahr 2025 an einer Jubiläumsausstellung in der Galerie Vinelz vorgestellt wird. Es freut uns besonders, mit der Publikation «Übergänge» an das 2019 bei der Edition Haus am Gern erschienene Buch «Der alte Maler, Notizen 2008 - 2018» anzuknüpfen und die Zusammenarbeit mit Martin Ziegelmüller fortzusetzen.
Das Thema «Übergänge» nimmt Bezug auf das Lebensalter von Martin Ziegelmüller und auf den Atelierbrand vom vergangenen Jahr: wie in seiner Malerei die Übergänge von Wasser zum Himmel, vom Fluss zum Hügel, vom Vorder- zum Hintergrund und von einer Farbe zur anderen die entscheidende Rolle spielen, muss sich Martin Ziegelmüller auch im hohen Alter immer wieder neue Übergängen meistern.
Zielgruppe
An Kunst interessierte Menschen, Malerei, KünstlerInnen
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der achtsame Maler
«Ich habe festgestellt, dass eine gewisse Verrücktheit die visuelle Wachheit fördert.»
Martin Ziegelmüller, Notiz vom 13. Oktober 2008
Martin Ziegelmüller ist ein Beobachter. Er ist achtsam, beobachtet Phänomene, die sogleich wieder anders sein werden, jetzt bereits wieder anders sind. Augenblickliche Veränderungen, Vorübergehendes. Flüchtiges. Er hascht gewissermassen nach dem Wind. Wobei das Unpackbare, Unfassbare, unbegreiflich Selbstverständliche, das wir auf Ziegelmüllers Gemälden sehen, uns immer wieder begegnet, gleichsam als etwas Ewiges scheint: Natur.
Eine merkwürdige Spannung öffnet sich hier zwischen dem Immer, dem Immer-Wieder und dem Husch-Es-Ist-Vorbei. Die Aare fliesst. Es wird Morgen, es wird Mittag und es wird Abend. Die Wolken ziehen. Es wird Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Die Blätter rascheln, sie fallen, sie knospen. Der Bach murmelt. Das Licht scheint auf. Und dämmert. Und schwindet.
Es ist paradox: Ziegelmüller malt ewige Augenblicke. Das, was wahr ist, ist nicht mehr das Selbe wie vorher. Das Wahre ist der Wechsel des Wahren. Und daraus resultiert eine besondere Schönheit, die uns nur deshalb melancholisch stimmt, weil wir doch so gerne (und so vergeblich) am Unveränderlichen festhalten möchten. Die Farben changieren. Die Aare hat bei wechselndem Lichteinfall nicht mehr dieselbe Farbe, erst recht ist das der Fall, wenn sich das Wetter verändert hat, wenn der Wasserspiegel wechselt, wenn durch die Strömung die Steine leicht verschoben werden . Der Strudel, der sich bei Steinen in der Strömung bildet, ist immer gleich und immer wieder anders.
Da möchte man leichthin, um das alles doch endlich und doch noch auf den Punkt zu bringen, den antiken Philosophen Heraklit, den «Dunkeln», bemühen, von welchem Sätze überliefert sind, die so leicht zu verstehen und in einem nächsten Augenblick doch wieder so schwer fassbar sind: «Wer in denselben Fluss steigt, dem fliesst anderes und wieder anderes Wasser zu.» Dazu : «Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.» Und, drittens: «Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.»
Folglich: Man kann nicht zweimal dieselbe Stelle desselben Flusses gleich malen. Und so fort. Das gilt, radikal gesehen, auch für das erste Malen: den Morgen über dem Chasseral, den Abend über der Petersinsel im Sommer, die Spiegelungen in der Loue, die Wolken über dem Grossen Moos, den Nebel – all das zu malen: letztlich unmöglich, weil flüchtig, weil jetzt schon wieder anders.
Ziegelmüller malt also das Unmögliche. Er könnte, so liesse sich einwenden, diese Phänomene doch einfach fotografieren. Das tut er teils durchaus. Aber er lässt es dabei nicht bewenden – weil er mehr zeigen will, als das, was er gerade eben sieht (und die Linse des Fotoapparats «schaut» ohnehin anders als das Auge des Malers).
Ziegelmüller ist ein Maler der Langzeitbeobachtung. Ein Maler also, der nicht kurzzeitige Eindrücke – Impressions – malt, sondern immer wieder beobachtet und das Beobachtete in seiner Malerei verändernd verdichtet. Er malt die Erinnerungen an seine Beobachtungen, um dem Beobachteten auf die Spur zu kommen.
Dabei verfolgt er zwei Strategien. Die eine besteht darin, ein Motiv wieder aufzunehmen und dieses wiederholend neu zu malen, also das Selbe – das nun nicht mehr das Selbe ist – nicht etwa als Variation, sondern als weitere Sicht darzustellen. Dabei ist er ähnlich zäh und ausdauernd wie der Meister seiner Jugendjahre, Cuno Amiet, der nicht müde wurde, etwa den Garten vor seinem Haus in Oschwand wieder und wieder zu malen. Das bedeutet: eine Wahrnehmung wieder zu holen, ohne sie zu wiederholen.
Die andere Vorgehensweise ist unerbittlicher. Wie sich ein Radierer – der Ziegelmüller ja ebenfalls ist – ein Platte nochmals vornimmt, schabt, poliert, neue Striche gräbt, so holt sich der Maler ein bereits bestehendes, fertiges Gemälde nochmals auf die Staffelei. Er geht, bildlich gesprochen, noch einmal über die Bücher, schabt, kratzt, übermalt, schichtet, lässt verschwinden, hebt hervor, akzentuiert. Dieser Prozess ist im genauen Wortsinn eine Revision: die Wiederaufnahme eines visuellen Urteils, ein Wiedersehen als Überprüfung, eine Änderung nach eingehender Prüfung, und schliesslich ein Anders-, ja vielleicht gar ein Neusehen.
Das zeigen eindrücklich die Daten, die der Maler auf der Rückseite der Gemälde akribisch festhält. So bei Morgennebel (Aare): 1996/2016/17/23. 1996, da war der Künstler einundsechzigjährig , mit achtundachtzig Jahren nahm er sich 2023 die Leinwand erneut vor, dazwischen liegen siebenundzwanzig Jahre und insgesamt vier Revisionen. Bei Mädesuess sind es innerhalb von einundzwanzig Jahren nur zwei Überarbeitungen, bei Abend im Grossen Moos zwischen 2005 und 2023 fünf; bei Steine im Wasser hat der Maler die Leinwand zwischen 2000 und 2021 ganze acht Mal übermalt.
Dieselbe Leinwand, das gleiche Sujet, ein anderes Bild, anders vielleicht nur in Nuancen. Das ist «Malermut rundum», wie das Ziegelmüllers Malerkollege Jörg Immendorf, freilich in ganz anderem Zusammenhang, einmal formulierte. Es ist ein langdauernder, kritischer Wahrnehmungsprozess, wie ihn nur ein genauer Beobachter aushält, der das sich Verändernde durch Veränderungen doch noch zu erhaschen versucht.
Konrad Tobler
Zum Wahrnehmungsprozess des Malers vgl.: Martin Ziegelmüller, Der alte Maler. Notizen 2008 – 2018.
Hg. von Konrad Tobler. Biel: Edition Haus am Gern 2019, S. 70–73.




