E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Blaeulich Unbarmherziges Glück
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7017-4480-0
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4480-0
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Rumänien der Zwischenkriegszeit geboren, in Armut aufgewachsen und von den Kriegswirren nach Österreich gespült, kannte Frau Bertas Leben nur Demütigung, Schmerz und Elend. Diese Landschaften der Niedertracht sind es, die sie, nun im Altersheim, vor dem Erzähler ausbreitet. Der wiederum, wohnhaft in der von Tätowierten, Einarmigen und großherzigen Schwedinnen bevölkerten Adlerschen Pension, beginnt sich in dem Heim mit seinen zwielichtigen Insassen und Pflegern wohlzufühlen und zeichnet getreulich Frau Bertas Bericht auf.
Max Blaeulichs Werk funkelt in allen Schattierungen der Verzweiflung. So sprachmächtig und gnadenlos ist die existenzielle Einsamkeit seit Kafka nicht mehr beschrieben worden.
Autoren/Hrsg.
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1
Was mich im Asyl am meisten ärgerte, war das Geschmeiß. Ungehindert surrten die Fliegen durch die sperrangelweit geöffneten Fenster. Hinaus, hinein, hin und her, setzten sich auf die Kuchen, auf die Butter, auf Schweiß und Kot. Dabei kündigte sich ein massives Tief an! Die wackelnden Sessel vermehrten sich. Plötzlich stand dort einer, da einer, an den Wänden krochen sie dahin, versperrten den Weg, und es hätte mich nicht gewundert, wenn bald ein ganzes Stockwerk mit ihnen gefüllt worden und, gleich dem Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, der aufgestaute Sesselhaufen plötzlich als Lawine ins Erdgeschoss gekracht wäre, während draußen sich Tragödien abspielten. Leute stürzten mir nichts, dir nichts um, Revolutionen drohten auszubrechen, Walfische strandeten an einer Küste nach der anderen. Von den unguten Vulkanausbrüchen gar nicht zu reden. Der Zeiten Taumel schien sich genähert zu haben … Jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, wird Frau Berta ihre verkrüppelten Finger zwischen die Lattenabstände der Sitzbank schieben, vor sich hin murmeln, von fremden Sternen oder fürchterlichen Sternschweifen träumen und nichts mehr von ihrer Krankheit spüren, die sie an den Abgrund des Lebens gedrängt hat. Kommt die Rede aufs Umfallen, spricht sie so davon, als sei es die normalste Sache der Welt, und blickt den Rollstuhlfahrern kichernd nach. Warum? Ich weiß es nicht, oder vielleicht, weil manche so geschickt umkippen, als träten sie im Zirkus auf. Vielleicht werde ich es nie wissen. Eine Zeit lang war ihr, so beschrieb sie es mir einmal, jede Berührung ein Nadelstich, jedes Greifen eine Qual, jeder Neumond, jeder Wetterwechsel ein Tränenmeer. Ihre Finger erlitten, als sie noch halbwegs fühlten, auf das Schmerzhafteste die Stetigkeit innerlicher Zersetzungen, messerscharfe Stiche, eine gegen Knöchlein und Seelchen gerichtete systemische Zerstörung. Viel zu langsam schritt die Gefühllosigkeit, gegen die ihre Abwehrkräfte bis zum Schluss kämpften, voran. Verdrehte Welt, dachte ich mir. Als wollte ihr Körper gegen den Verfall ankämpfen, indes ihre Psyche denselben herbeisehnte. »Endlich nichts mehr spüren«, sagte sie, »wissen Sie, die Krankheit dauert schon mehr als dreißig Jahre.« Dreißig Jahre Schmerzen, bis die Kräfte, die ihre Arthrose ausgelöst hatten, endlich auch die Nerven kaltmachten. Ich bemerkte, wie lange ihr Blick im Nichts oder in der Ferne hängenblieb, bis sie plötzlich sagte: »Habe ich ein graues Haar? Nein? Oder? Nur diese verfluchten, verkrüppelten Hände! Oh, ich hatte schöne Hände. Heute kann ich mit diesen Klumpen nichts mehr halten. Habe ich graue Haare?« Ich verneinte. Tatsächlich schienen mir ihre Hände wie morsches Gezweig, das nach einem Gewitter … Stümpfe, bewegt von Armen, verkrüppelte Finger, die sich schamhaft zwischen den Latten zu verstecken schienen. Solches geht mir durch den Sinn. Zugleich erinnern mich diese Hände an den Tischler namens Skupien, einen Flüchtling aus der Slowakei, der im Block C des Asyls wohnt. Ursprünglich wohnte er meines Wissens in derselben Siedlung wie Frau Berta, bevor sie ins Asyl übersiedelte. Arme-Leute-Gegend. Die Straßen waren geschottert, Holler stand an den Wegrändern, wilde Apfel- und Zwetschkenbäume ehemals bäuerlicher Kulturen hielten sich verzweifelt an ihrem Platz, Flaschen, Abfall und Trümmer rostiger Räder staken im hohen Gras, ein zerbeultes Ringelspiel hatte sich über den Krieg hin in den Wiederaufbau gerettet. Zwei Hutschen an rostigen Ketten auch. Ein Glasscherbenviertel, wie ich es kannte und kenne, rund ums Gaswerk. Erzählte sie mir nicht, Skupien habe sogar im gleichen Wohnblock gewohnt, in einer jener Anlagen, die die Nazis noch 1944 aus dem Boden gestampft hatten, nur eine Haustür weiter? Skupien habe ich vor einiger Zeit kennengelernt. Frau Berta plauderte gerade mit ihm. Ich kam hinzu. Dabei stellte sie ihn mir vor. Er sei ins städtische Altersheim gekommen, um seinen Vater zu besuchen, so wie ich meine Tante aufsuchte. Die Frau Berta – so wünschte sie angesprochen zu werden – habe ich kennengelernt, weil meine Tante Rosa sich ein wenig mit ihr angefreundet hatte. Meine Tante Rosa war ebenfalls in Rumänien geboren, nicht weit entfernt vom Geburtsort der Frau Berta, wie sich bald herausstellte. Das war vielleicht der Ursprung ihrer Annäherung. Zurück zu Skupien. Offensichtlich kannte Frau Berta diesen Skupien ziemlich gut. Hie und da hatte er ihr ein Regal gebaut oder eine Tür hergerichtet, so gut es eben mit seinen verunstalteten Händen ging. Oft muss ich an diesen Menschen denken, wenn ich Frau Bertas Finger betrachte. Sie gleichen jenen, die sie dem Skupien angenäht haben, nachdem sie sie in Fetzen neben der Kreissäge aufgelesen hatten. Damals rollte der Lehrling Dario Nothegger seine Butterbrote aus dem Stanniol und wickelte nicht ohne Ekel die abgetrennten Finger darin ein, vergaß in der Aufregung, das Ei aus der Jausenbox herauszunehmen, verschloss sie zitternd, rannte, als das Rote Kreuz eintraf, zum Chauffeur, der die perforierte Aluminiumschachtel auf den Beifahrersitz schmiss, und, so Skupien heute, den Buben anfeuerte: »Tapfer, Burschi! Schön, Burschi! Sehr brav, Burschi!« Das machte den Lehrling, so die Frau Berta, »offensichtlich unheimlich stolz«, wobei er »vor Nervosität dauernd seine gelbe Rotzglocke hinaufzog«, sagte Skupien, der es der Frau Berta wiederholt erzählt hatte. »Denn trotz der Schmerzen zum Wahnsinnigwerden, sah ich nichts anderes als die Rotzglocke und hörte nur seine Raufzieherei«, habe Skupien ihr immer gesagt. »Er schien ruhig zu sein wie einer, der gleich überschnappt.« In gleicher Weise erzählte sie es meiner Tante Rosa und später auch mir: »Doch nachdem sie ihm Morphium gespritzt hatten, wobei alle Zeugen des Hergangs andächtig ›Morphium, Morphium, um Himmels willen‹ geraunt hatten, als schöben sie eine Murmel im Mund von Backe zu Backe, sich dabei unheilschwanger anschauend, als bedeute Morphium das Ende, wollte Skupien allen Ernstes aus dem Rettungsauto steigen und nach Hause gehen.« Das malte er selbst auch mir gegenüber groß aus: Mit Morphium komme man ins Schweben, und Schweben sei viel schöner als Karussell fahren, viel, viel schöner als Hutschen. Nur die Finger, die der Lehrling Dario Nothegger aufgelesen hatte, taten ihm leid. Ganz so, als gehörten sie gar nicht zu ihm. »Die waren futsch. Nach dem Morphium wollte ich nur mehr nach Hause … Ein Bier trinken. Ich muss damals plemplem gewesen sein.« Daraus wurde selbstverständlich nichts. »Das Rettungsauto startete mit quietschenden Reifen und Blaulicht und Tatütata«, schilderte Skupien gerne. Freilich, nach so vielen Jahren schmückte er das Unglück mit immer mehr Details aus, die ihm im Laufe der Zeit einfielen, gerade so, wie man das Leben eines Verstorbenen legendär zu machen pflegt. »Als der Beifahrer namens Gustl vorsichtig die Jausenbox öffnete und das blutige Ei zwischen den Fingern herumkugeln sah, tat er etwas höchst Unanständiges. Er nahm es heraus, als hätte ihn längst Hunger geplagt, nahm es mit einer Frechheit heraus, ohne zu fragen, peckte es sich auf der Kniescheibe auf, schälte es ab und verspeiste es mit keinen zwei Bissen, auf einen Sitz, ohne Salz. Die etwas angebluteten Eierschalen warf er beim hinuntergekurbelten Fenster hinaus, mitten aufs Trottoir.« Auch ich hörte diese Episode mehrmals so oder ähnlich von Skupien persönlich – offensichtlich der Höhepunkt seiner Lebensgeschichte, die in der Beschreibung des frechen, Ei verspeisenden Beifahrers Gustl gipfelte, als sei kein Unglück geschehen, lediglich ein widerrechtlich entwendetes Ei verzehrt und dessen Reste auf den Gehsteig geworfen worden. »Ein abgebrühter Bursch«, sagte er jedes Mal als Nachsatz. Das war damals, als meine Tante Rosa noch lebte und mit der Frau Berta spazieren ging. Durch sie lernte ich nicht nur Skupien kennen, sondern manch andere Asylanten, die normalerweise zurückgezogen Briefmarken betrachteten, Münzen hin- und herschoben oder Erinnerungen auffrischten. Skupien drängte jedem seine Kreissägegeschichte auf, doch niemand außer den Asylneulingen wollte diese nebst deren Ausschmückungen mehr hören. Viele waren der Meinung, es gäbe ärgere Tragödien, wobei sie meistens an ihre eigenen dachten. Monströse Ehebrüche, gewaltiges Glück im Unglück, zu leicht genommene Verbrechen, Kriegsgräuel der Russen und besonders der Russen … Tja, dann kamen die Unfälle an die Reihe, die überlebten Krankheiten und Zufälle aller Art. Daher musste jeder den Eindruck gewinnen, im Asyl werde gemeinsam an einer neuen Welt gezimmert und der Zufall geplant. Seit jener Zeit sah ich Skupien öfters. Immer wieder waren es seine verlorenen Finger, die das Gespräch in Gang brachten. »Verstehen Sie, Musiker hätte ich werden können, in großen Orchestern …, aber so …« Dabei drehte er die lädierte Hand, als hielte er sie ins Licht, um den Grad der Verletzungen besser herzeigen zu können. Irgendwie fand ich jene Jahrgänge sympathischer, die den Krieg durchgemacht hatten und von nichts anderem sprachen als von der...