Blanchot | Der Allerhöchste | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 408 Seiten

Blanchot Der Allerhöchste


1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-88221-960-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 408 Seiten

ISBN: 978-3-88221-960-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
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Die Vermessung des Wahnsinns. Blanchots großer Roman erstmals auf Deutsch Henri Sorge, gerade erst von einer Krankheit genesen, kehrt in seine Wohnung in einem Mietshaus zurück, das in eine Art Spital umgewandelt worden ist. Wahnvorstellungen bemächtigen sich seiner, die Beziehung zu seinen Mitmenschen wechselt zwischen Abscheu und Hörigkeit, Abhängigkeit und Abstoßung, Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühlen. Unentwegt stellt sich Sorge Fragen über die eigene Existenz, gibt seiner Bewunderung der Welt und des sie regierenden Gesetzes Ausdruck. Ständig widerspricht er sich dabei selbst oder negiert das Gesagte. Le Très-Haut, 1948 erschienen, steht in einer literarischen Tradition mit Mallarmé, Kafka und Albert Camus' Roman Die Pest, der zeitgleich erschien. Mit der ersten deutschen Übersetzung kann nun ein großer, ein erstaunlicher, ein monströser Text der literarischen Moderne entdeckt werden, in dem das verschlungene Verhältnis von Krankheit und Gesundheit, Ausgrenzung und Wahnsinn beinahe empathisch vermessen wird.

Maurice Blanchot, der 2003 im Alter von 95 Jahren verstarb, ist einer der herausragenden französischen Schriftsteller und Denker der letzten 50 Jahre. Am engsten befreundet mit Georges Bataille und Emmanuel Levinas, hat er maßgeblichen Einfluß ausgeübt auf Autoren wie Foucault, Deleuze, Derrida, Nancy, aber auch auf Dichter und bildende Künstler.
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I


Ich war nicht allein, ich war ein beliebiger Mensch. Wie sollte ich diese Formel vergessen?

Während meiner Krankschreibung ging ich in einem Viertel des Zentrums spazieren. Was für eine schöne Stadt, sagte ich mir. Als ich zur U-Bahn hinunter ging, stieß ich mit jemandem zusammen, der mich barsch anfuhr. »Sie machen mir keine Angst«, schrie ich zurück. Mit beeindruckender Geschwindigkeit schnellte mir seine Faust entgegen, und ich sank zu Boden. Es bildete sich eine Menschentraube. Vergeblich versuchte der Mann, in der Menge unterzutauchen. Ich hörte, wie er wütend beteuerte: »Er hat mich angerempelt. Lassen Sie mich gefälligst in Frieden!« Mir tat nichts weh, aber mein Hut war in eine Pfütze gerollt, sicher war ich kreidebleich, ich zitterte. (Ich war rekonvaleszent. Keine Erschütterungen, hatte man mir gesagt.) Ein Polizeibeamter löste sich aus dem Gedränge und forderte uns ruhig auf, ihm zu folgen. Durch eine Handvoll Leute getrennt, stiegen wir die Treppen hinauf. Auch der andere war blass, aschfahl sogar. Im Kommissariat ließ er seiner Wut freien Lauf.

»Die Sache ist die«, unterbrach ihn der Polizeibeamte, »er ist auf den Herrn hier losgegangen und hat ihm die Faust unters Kinn gepflanzt.«

»Möchten Sie Anzeige erstatten?«, fragte mich der Kommissar.

»Kann ich meinem … dieser Person zwei, drei Fragen stellen?«

Ich kam näher und betrachtete ihn.

»Ich würde gern wissen, wer Sie sind.«

»Was geht Sie das an?«

»Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder? Nein, ich möchte Sie etwas anderes fragen. Als Sie mich geschlagen haben, haben Sie gespürt, dass es sein musste, es war Ihre Pflicht: Ich hatte Sie provoziert. Doch nun tut es Ihnen leid, weil Sie wissen, dass ich ein Mensch bin wie Sie.«

»›Wie Sie‹? Dass ich nicht lache!«

»Wie Sie, oh doch, wie Sie. Sie können mich bestenfalls schlagen. Aber würden Sie mich auch töten, zermalmen?« Ich trat direkt vor ihn. »Wenn ich nicht so bin wie Sie, warum zermalmen Sie mich dann nicht unter Ihrem Absatz?«

Hastig wich er zurück. Ein Stimmengewirr erhob sich. Der Kommissar packte mich am Ärmel. »Was ist bloß in Sie gefahren?«, schrie der andere. Der Polizist zerrte mich fort. Beim Hinausgehen blickte ich in lauter kalte, erstarrte Gesichter. Mein Angreifer sah mich hämisch an, wenngleich sein Gesicht aschfahl war.

Ich wusste wohl, was es hieß, eine Familie zu haben. Manchmal hatte ich keinen blassen Schimmer davon, ich arbeitete, war allen nützlich, wir standen uns nahe. Doch plötzlich ereignete sich etwas: Ich konnte zurückblicken. Im Gesellschaftsraum der Klinik warteten meine Mutter und meine Schwester auf mich. Was für ein erbärmlicher Raum! Sessel, Sofas, Teppiche, ein Klavier und kaltes Licht, ewiges Halbdunkel. Dabei war es ein modernes Krankenhaus. Aber es hing mit der Atmosphäre, dem Schweigen zusammen: Der Arzt hatte es mir erklärt. Es war beschämend. Schon seit mehreren Jahren hatte ich meine Mutter nicht gesehen. Ich spürte, dass sie mich beäugte. »Du siehst nicht gut aus.«

Sie fragte mich, warum man sie erst so spät verständigt habe.

»Ich habe euch geschrieben, sobald ich wieder dazu in der Lage war. Ich hatte ungewöhnlich hohes Fieber, aber nur Fieber. Man hat zwar noch mit weiteren Symptomen gerechnet, aber es sind keine aufgetreten. Ich glaube, ich habe phantasiert. Schlecht habe ich mich eigentlich nicht gefühlt. Jetzt erst bin ich müde und niedergeschlagen.«

»Du lebst in zu schlechten Verhältnissen. Deine Wohnung soll eine wahre Gruft sein. Warum kommst du nicht wieder nach Hause?«

»Meine Wohnung? Ja, meine Wohnung hat einiges damit zu tun. Habt ihr den Arzt gesehen?«

»Nein, er war schon fort, aber wir sind der Krankenschwester begegnet.«

»Ich muss wieder an meinen Arbeitsplatz zurück. Ich kann nicht außerhalb der Gemeinschaft stehen. Zwar werde ich im Büro vertreten, aber die Arbeit fehlt mir.«

Beide sahen mich an.

»Es ist lächerlich, ich weiß. Mein Posten ist so unbedeutend. Aber kommt es denn darauf an? Ich muss meine Rolle weiterspielen.«

Meine Mutter machte wohl eine Bemerkung folgender Art: »Ob du eine bessere Stelle bekommst, hängt allein von dir ab.« In dem Moment überkam mich das schmerzliche Gefühl, dass wir beide logen. Nein, wir logen nicht, es war schlimmer. Ich sagte, was sein musste, war aber auf einmal dem Augenblick entrissen. Mir wurde klar, dass sich all dies schon eher hätte zutragen können, vor Jahrtausenden, als habe die Zeit sich aufgetan und ich sei durch diese Bresche gefallen. Meine Mutter wurde mir geradezu unangenehm. Ich war verwirrt und begriff zugleich besser, warum sie sich so reserviert gab, warum ich vor Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte, warum … Es rührte von damals her. Meine Mutter war nun jemand von früher, eine monumentale Person, die mich zu vollkommen wahnwitzigen Dingen anstiften konnte. Das war die Familie. Die Erinnerung an eine Zeit vor dem Gesetz, ein Schrei, rohe Worte, die aus der Vergangenheit stammten. Ich sah zu meiner Mutter, und sie starrte mich mit einem Ausdruck der Beschämung an.

»Geht wieder nach Hause«, sagte ich. »Bis morgen.«

»Aber was hast du nur? Wir sind doch gerade erst gekommen.«

Sie begann zu schluchzen. Ihre Tränen verschleierten mein Unbehagen. Ich entschuldigte mich.

»Du bist so gleichgültig geworden«, sagte sie weinend, »so fremd.«

»Aber nein. Es ist bloß das Leben, das einen zu dieser Annahme verleitet. Man muss arbeiten, jeden Tag meistern. Man widmet sich allen, doch von seinen Angehörigen bleibt man getrennt.«

»Komm doch für die Zeit deiner Genesung nach Hause.«

»Mal sehen.«

»Du hast stark abgenommen. Diese Krankheit beunruhigt mich. Hast du frühe Anzeichen gespürt? Warst du schon vorher müde?«

Ich sah meine Mutter an, ohne zu antworten.

»Aber Mutter«, sagte Louise schroff, »nun quäl ihn doch nicht!«

Mittags nahm ich meine Mahlzeiten stets in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Rathauses ein. Die Tische standen entlang der Wand eines schmalen Raums aufgereiht. Da sonst nichts frei war, nahm ich an einem Tisch Platz, an dem schon jemand saß.

»Hat es während meiner Abwesenheit Neuigkeiten gegeben?«, fragte ich die Kellnerin. »Das Menü hat sich jedenfalls nicht verändert.«

»Stimmt, in den letzten Tagen haben wir Sie hier gar nicht gesehen. Waren Sie im Urlaub?«

»Nein, ich war krank.«

Sie zog ein schiefes Gesicht.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich zu meinem Nachbarn. »Ich habe Sie schon öfter hier gesehen, Sie sind Stammgast. Arbeiten Sie in der Gegend?«

»Nun, in der Gegend nicht gerade.« Er musterte mich einen Augenblick. »Vor einigen Jahren habe ich in einem Geschäft dieses Viertels als Verkäufer gearbeitet. Dann bin ich in ein anderes Viertel gezogen, aber ich komme noch häufig hierher.«

Es herrschte ziemlicher Lärm, der Lärm von aneinander schlagenden Gegenständen, von Löffeln, die Teller auskratzten, von Flüssigkeit, die in Gläser floss. Vor mir unterhielten sich zwei Frauen über den Tisch hinweg. »Sie spioniert mir nach, sitzt mir ständig im Nacken.« Ich hörte diese Worte ganz deutlich. Lustlos aß ich weiter.

»Dabei ist das Essen nicht gerade famos.«

Er drehte sich eine Zigarette.

»Es ist nicht teuer, die Portionen sind reichlich.«

Das Gericht, das man mir gebracht hatte, bestand aus mehreren Sorten Gemüse und einem großen Stück gekochten Fleisch.

»Es sind alle nötigen Zutaten drin«, sagte ich und klopfte mit der Gabel aufs Fleisch. »Aber man stümpert hier mit der Ware.«

»Na wenigstens erwartet uns heute Abend eine gute Suppe.« Er fuhr fort, das Restaurant über Gebühr zu loben. »Und Sie?«, fragte er. »Wo arbeiten Sie?«

Er war ein eher kleinwüchsiger Mann, äußerst gepflegt. Er sprach sehr bestimmt. »Reden Sie ganz offen mit ihr«, sagte die Frau vor mir. »Nein, um keinen Preis der Welt, nie wieder richte ich auch nur ein Wort an sie.«

»Ich bin im Rathaus angestellt.«

»Beamter? So eine Position hat ihre Vorteile.«

Er wollte etwas hinzufügen. Da brach die Frau in Tränen aus, sprang jäh auf und lief in den hinteren Teil des Raums.

»Was ist denn los«, fragte ich die Kellnerin. Diese nahm mir, ohne zu antworten, den Teller weg und schob mir ein mickriges Stück Kuchen hin. Als wollte sie sagen: Was soll schon sein? Das geht mich nichts an.

»Sie arbeitet in einem Schneideratelier. Ich glaube, sie versteht sich nicht mit der Aufsicht.«

»Und Sie, verstehen Sie sich gut mit der Leitung?« Lächelnd zuckte sie mit den Achseln.

»Bestens«, sagte sie im Fortgehen.

Mein Nachbar hatte die ganze Szene aufmerksam verfolgt, doch kaum waren wir wieder allein, versenkte er sich in die Lektüre seiner Zeitung. Die Frau kehrte mit ruhigem, leuchtendem Gesicht zurück.

»Was steht in den Nachrichten?«

Auf der Seite, die er mir hinhielt, las ich folgende Überschriften: Unfall: Frau fällt aus dem fünften Stock. Neue Vorschriften in den Gesundheitsämtern. Erneut Großbrand im Westviertel (das war mein Viertel). Hochwasser in … Mich überkam Ungeduld, eine Art Fieber.

»Haben Sie den Artikel unter Vermischtes gelesen: Zentrumsstraße, Frau fällt? …«

»Ja, hab’ ich.«

»Und handelt es sich Ihrer Ansicht nach um einen Unfall oder Selbstmord?«

»Keine Ahnung. Wenn man der Überschrift Glauben schenken darf, um einen Unfall.«

»Aber Selbstmord ist auch ein Unfall«, fügte ich lebhaft hinzu. »Lesen Sie mal die Geschichte hier. Dem Arztbericht zufolge war...


Maurice Blanchot, der 2003 im Alter von 95 Jahren verstarb, ist einer der herausragenden französischen Schriftsteller und Denker der letzten 50 Jahre. Am engsten befreundet mit Georges Bataille und Emmanuel Levinas, hat er maßgeblichen Einfluß ausgeübt auf Autoren wie Foucault, Deleuze, Derrida, Nancy, aber auch auf Dichter und bildende Künstler.



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