Boffard Tracer
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18544-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-641-18544-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Blau und wunderschön leuchtet die Erde inmitten der Schwärze des Weltalls, doch sie ist inzwischen unbewohnt. Von den Umwelteskapaden der Menschen zerstört, ist der Planet zu einer tödlichen Welt geworden. Die Überlebenden der globalen Katastrophe umkreisen in einer alten, rostigen Raumstation ihre alte Heimat – Enge, Schmutz und Ausweglosigkeit gehören zum Alltag der Besatzung. Ebenfalls mit an Bord sind Verschwörungen, Intrigen und dunkle Geheimnisse. Und als auf der Raumstation dann auch noch mehrere Morde geschehen, steht die Menschheit bald vor dem endgültigen Aus.
Rob Boffard wurde in Johannesburg, Südafrika, geboren und verbringt seine Zeit als Autor zwischen London, Vancouver und Johannesburg. Als Journalist hat er in mehr als zwölf Ländern Artikel geschrieben, unter anderem für The Guardian und Wired.
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3 | Riley
Ich werde ein wenig langsamer, als ich den Korridor auf Ebene 5 erreiche. Die Lieferadresse befindet sich noch ein gutes Stück den Ring hinauf, im Luftlabor des Garten-Sektors. Da jeder Sektor im Ring fünf Kilometer lang ist – und es insgesamt sechs Sektoren gibt –, wäre es noch ein weiter Weg. Es sei denn, man ist ein Tracer mit genug Ausdauer und Geschick, um Dinge dorthin zu bringen, wo sie gebraucht werden. Die Entfernung ist für mich kein Problem – wenn ich auf dem Weg zum Luftlabor bin, werde ich Prakesh wiedersehen.
Ich lächle über diese Vorstellung, bevor mir einfällt, dass er heute gar nicht da ist. Für ihn ist es ein seltener freier Tag, mit dem er geprahlt hat, als ich ihn vor einigen Wochen das letzte Mal getroffen habe.
Das Paket, das die Lieren stehlen wollen – in der Hoffnung, dass es etwas Nützliches ist –, schmiegt sich an meine Wirbelsäule. Es ist für Oren Darnell bestimmt, den Mann, der das Luftlabor leitet. Ich habe es von einem Händler auf dem Markt im Apogäum-Sektor erhalten. Der Händler – ich glaube, sein Name war Gray – hat mit sechs frischen Batterien bezahlt, hat sie auf den rostigen Tresen seines Stands geknallt, ohne zu mir aufzublicken. Damit kann ich gut leben. Wenn die Bezahlung stimmt, wird das Paket ausgeliefert.
Als ich in den Korridor einbiege, greife ich über die Schulter nach dem dünnen Plastikschlauch, der aus meinem Rucksack ragt, stecke ihn mir in den Mund und sauge Wasser aus dem Vorratsbehälter. Es ist warm und fühlt sich zähflüssig an. Es ist nicht viel, aber damit kann ich weitermachen.
Ich bin jetzt im Chengshi-Sektor zwischen Apogäum und Garten – etwa die Hälfte der Strecke bis zur Lieferadresse. Ich werde anhalten müssen, um meinen Vorrat irgendwo im Garten aufzufüllen, weil es ausgeschlossen ist, dass ich Wasser von Darnell bekomme. Ich bringe ihm zwar ein Paket, aber diesen Kerl nach Wasser zu fragen ist fast genauso tödlich wie ein blinder Sprung von einem Laufsteg.
Hier sind die Korridore dunkler als vorher. Ich muss genauer auf den Boden achten, als ich auf die nächste Biegung zurenne, nach Stellen Ausschau halten, wo die Stahlplatten verbogen sind. Zu meiner Überraschung gibt es hier einen funktionierenden Bildschirm, recht verstaubt, aber er zeigt eine fröhliche Werbung für den Weltraum-Bautrupp. Ein lächelnder Mann in schnittigem schwarzem Raumanzug mit geöffnetem Visier hält einen Plasmaschneider, während er sich um den Ausleger eines Bauschiffs herummanövriert. Das Video taucht den Korridor in sanftes blaues Licht, und als ich um die Ecke komme, schließe ich für einen Sekundenbruchteil die Augen. Das Licht sickert durch meine Lider, ein flackerndes, warmes Orange.
Ich war noch nie dort, aber manchmal stelle ich mir gern vor, dass ich auf der Erde bin und über Grasflächen renne, unter einem Himmel, der so blau ist, dass es schmerzt, ihn anzusehen. Ich spüre die Sonne warm im Genick, als ich immer schneller und schneller werde. Bis ich nicht mehr renne, sondern fliege.
Ich öffne die Augen.
Gerade noch rechtzeitig, um die Metallstange zu sehen, die um die Ecke schwingt und dann meinen Brustkorb trifft.
Eine Sekunde lang fliege ich tatsächlich, hänge schräg in der Luft. Dann stürze ich krachend zu Boden, und meine Knochen fühlen sich an, als würden sie mir durch die Haut getrieben. Ich will schreien, aber ich schaffe nicht mehr als ein gepresstes, heiseres Keuchen.
Der mit der Stange ist nur ein verwischtes schwarzes Etwas. Er dreht die Waffe in der Hand, als wäre er auf einem Spaziergang. Ein weiterer Schmerzkrampf erschüttert meine Brust, und ich huste – ein tiefes trockenes Ächzen, das den Schmerz in meinem Bauch verteilt.
»Gut getroffen«, sagt eine Stimme von links. Von anderswo, hinter ihm, ist Lachen zu hören.
Dann sind es sechs, die auf mich herabblicken. Es sind Lieren, aber andere als die, die mich zuvor gejagt haben. Ich huste wieder, diesmal noch schlimmer, als würde ein Dolch in meiner Brust stecken.
Der Kerl, der mich getroffen hat, blickt sich nervös um. Ich sehe ein dunkelrotes Wolfstattoo an seinem Hals. »Los«, sagt er und schaut in den Korridor. »Nehmt ihr Paket.«
Jemand stößt einen Stiefel unter meinen Rücken und rollt mich herum, worauf ich wieder husten muss. Ein Fuß in meinem Genick wirft mich zurück auf den Boden, bevor zwei andere Lieren meine Arme packen, sie nach hinten biegen und mir den Rucksack abstreifen.
Meine Gedanken rasen. Inzwischen hätten andere Leute in diesem Korridor auftauchen müssen. Ich kann hier nicht der einzige Mensch sein. Selbst wenn sie nicht eingreifen, könnten sie für die Ablenkung sorgen, die ich brauche, um zu entkommen. Und wie haben die Lieren diesen Hinterhalt überhaupt vorbereiten können? Sie waren hinter mir. Ich habe diesen Weg nur genommen, weil der Laufsteg blockiert war, weil ich dann …
Ah! Das war sehr clever. Die Mädchengruppe auf dem Steg. Sie wurde mir gezielt entgegengeschickt, entweder bezahlt oder gezwungen, das zu tun, was die Lieren von ihnen verlangten. Sie wussten, dass sie nicht schnell genug sind, um mich zu erwischen, also haben sie mich genau zu ihnen getrieben. Ich habe schon Lieferungen zum Luftlabor gebracht, also kennen sie die Strecken, die ich benutze, wissen, wohin ich laufe und was ich tue, wenn ich gejagt werde. Ganz schön blöd von dir, Riley.
»Können wir uns sonst noch etwas nehmen? Ihre Jacke?«, höre ich einen von ihnen sagen. Wut kocht in mir hoch. Wenn sie mir die Jacke meines Vaters abnehmen, werde ich sie töten. Jeden einzelnen.
»Nein, das ist nur ein Stück Dreck. Das Transportgut reicht.«
Sie ziehen mir den Rucksack ab und drücken mich wieder zu Boden. Jemand greift in meine Jackentaschen und schnappt sich die Batterien. Der Stiefel wird von meinem Genick genommen. Ich hebe den Kopf und sehe den Jungen mit der Stange, wie er eine Batterie hochwirft und auffängt, mit einem gemeinen Grinsen im Gesicht. In der anderen Hand hält er meinen Rucksack. Er und die anderen fünf ziehen sich zurück.
Ich stemme mich hoch, komme auf die Beine, während mein Brustkorb von der Anstrengung schmerzt und ich mich zwinge, still zu bleiben. Ich finde mein Gleichgewicht wieder, dann laufe ich auf sie zu, verlagere mein Gewicht auf die Fußballen, um im engen Korridor nicht zu viel Lärm zu machen. Schnelle Schritte.
Ich habe es auf den Kerl mit meinem Rucksack abgesehen, und genau in dem Moment, als ihm klar wird, dass ich hinter ihm bin, hole ich mit der rechten Hand zum Schlag aus. Ich habe die Hand zur Faust geballt, den Knöchel des Zeigefingers leicht vorgestreckt, und ich ziele genau auf seine Schädelbasis. Amira hat versucht, mir alles über Druckpunkte beizubringen, aber dies ist das erste Mal, dass ich es jemals in die Praxis umsetzen muss.
Ich treffe ins Ziel, genau in die kleine weiche Stelle, wo der Schädel mit der Wirbelsäule verbunden ist, und ich spüre, wie etwas unter meiner Faust knackt. Er gibt einen erstickten Laut von sich und stürzt nach vorn, wobei ihm mein Rucksack aus der Hand fällt.
Mir bleibt etwa eine halbe Sekunde, um meinen Sieg zu genießen. Dann tritt einer seiner Freunde vor und schlägt mir so heftig ins Auge, dass ich für eine Weile woanders bin.
Als ich zurückkomme – Sekunden später? Minuten? –, werde ich gegen die Korridorwand gedrückt, von zwei Lieren festgehalten. Mein Gesicht ist taub, und ich habe den ekligen metallischen Geschmack von Blut im Mund. Der eine, den ich angegriffen habe, liegt immer noch am Boden. Als ich hinsehe, stöhnt er, zuckt unter den flackernden Lampen.
Der Lieren mit dem Wolfstattoo steht vor mir, holt zu einem weiteren Hieb aus. Wenn er mich noch einmal trifft, heißt es tschüss, Riley.
Er schlägt zu. Ich reiße den Kopf zur Seite, und seine Faust kracht gegen die Metallwand. Der scheppernde Knall hallt um die Ecke. Er zieht die Hand mit einem Schmerzensschrei zurück. Ein Hautfetzen hängt von seinem Mittelfinger, und rund um die Wunde quillt bereits Blut hervor. Vor Überraschung haben seine Kumpel den Griff für einen Moment gelockert, als ich ausgewichen bin, aber es genügt nicht, um mich zu befreien, und jetzt drücken sie mich wieder gegen die Wand. »Sie hat tatsächlich Mumm«, knurrt einer.
Tattoo hält sein Handgelenk und schüttelt die Hand. »Du hast danebengeschlagen«, sage ich. »Kannst nicht mal jemanden treffen, der genau vor dir steht, was?«
»Meinst du?«, sagt er und wischt sich mit der unverletzten Hand über den Mund.
»Ja. Vielleicht sagst du deinen Jungs, dass sie mich loslassen sollen, und wir kämpfen ein paar Runden. Du und ich. Mal sehen, wer schneller ist.«
»Glaubst du wirklich? Du bist ziemlich klein für eine Tracer. Wie alt bist du? Fünfzehn?«
»Zwanzig«, blaffe ich zurück und bereue es im nächsten Moment.
»Und hässlich ist sie auch noch«, sagt einer der Lieren, die mich festhalten. »Wie irgendein Atommutant von der Erde.«
»Vielleicht hat sie da unten ein paar Verwandte. Neue Lebensformen.«
Sie lachen grausam und schrill. Ich versuche, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Hört mir zu«, sage ich. »Dieses Transportgut ist für Oren Darnell bestimmt. Im Garten stehe ich unter seinem Schutz. Wenn ihr mir die Lieferung abnehmt, müsst ihr euch vor ihm verantworten.«
»Wer zum Teufel ist Oren Darnell?«, sagt der, der meine linke Schulter hält.
»Was weißt du überhaupt?«, sagt der Lieren mit dem Tattoo. »Er ist der Chef des Luftlabors.« Aber sein Gesicht zeigt keine Furcht – stattdessen wirkt er amüsiert,...




