E-Book, Deutsch, 159 Seiten
Broeckhoven Was ich noch weiß
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-406-69679-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 159 Seiten
ISBN: 978-3-406-69679-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Diane Broeckhoven, 1946 geboren, hat zahlreiche, vielfach ausgezeichnete Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Unter ihren Romanen für Erwachsene, etwa «Eine Reise mit Alice» und «Herrn Sylvains verschlungener Weg zum Glück», wurde «Ein Tag mit Herrn Jules» zu einem Bestseller. Das Buch ist inzwischen in sechzehn Ländern erschienen und wurde über 250.000 Mal verkauft. Diane Broeckhoven lebt in Antwerpen.
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PETER
This is my life and I don’t give a damn for lost emotions.
Shirley Bassey (aus «This Is My Life»)
Ich war zwölf, als ich mich zum ersten Mal verliebte. Die winzigen Bläschen, die mir aus dem Unterleib bis in die Kehle stiegen, der unwiderstehliche Drang, die Fingerspitzen in die kleine Kuhle ihres Halses zu legen, ihr die Schultasche zu tragen, ihren Namen auf Zeitungen oder Wände zu schreiben, meinen Parka über die Pfützen zu werfen, damit ihre Schuhe trocken blieben … keines dieser edlen Gefühle konnte ich mit den schlüpfrigen Witzen und dem Halbstarkenunsinn, den die Jungs aus meiner Klasse über Mädchen erzählten, in Verbindung bringen.
Rebecca. Sie saß in der Klasse genau vor mir. Ihre dunkelblonden, gerade geschnittenen Haare hatte ich Tag für Tag vor Augen. Ich kannte jede Pore ihres weißen Nackens und vermutete eine ungekannte Sanftheit der Ohrläppchen, die perfekt symmetrisch mit ihrer Kieferlinie endeten. Unter ihrer Bluse zeichneten sich schon kleine Wölbungen ab, die meine Blicke auf sich zogen. Sie trug immer Röcke oder Kleider, selten Jeans, wie die meisten anderen Mädchen. Rebecca war aus lauter geheimnisvollen Kunstwerken zusammengesetzt, an denen ich mich nicht sattsehen konnte. Ich nahm sie zum ersten Mal als ein Ganzes wahr, als die Sonne an einem Freitag im Mai durch die hohen Fenster hereinfiel und eine kupferne Glut ihre Haare aufleuchten ließ. Als sie das Licht, das auf ihren Kopf fiel, flüchtig berührte, sah ich, wie ihre rosigen Fingernägel glänzten, und im Gegenlicht zeichneten sich ein paar rührend kurze Achselhärchen ab. Mich überfiel ein begieriges Verlangen nach etwas, das ich noch nicht kannte. Etwas irgendwo zwischen Geburtstagsglück und Beerdigungstrauer, ein entscheidender Moment, in dem die ganze unbegreifliche Welt zu stimmen schien. Ich behielt meine Erfahrung wohlweislich für mich. Mit unzureichenden Worten darüber zu sprechen, würde mir bei meinen Freunden bloß Hohn und Spott eintragen.
Einen Tag später fragte ich sie, ob sie mit mir gehen wolle. So einfach ging das noch zu der Zeit. «Liebe Rebecca, willst du mit mir gehen? Peter», schrieb ich auf ein liniertes Blatt Papier. Neben meinen Namen malte ich mit Filzstift ein rotes Herzchen, von einem Pfeil durchbohrt. Heimlich gab ich es ihr beim Fahrradschuppen und erhielt noch am selben Tag in der Mittagspause ihre Antwort. Ja. Mit einem orangen Herz – ohne Pfeil.
Ich hatte unsere Verbindung noch ein wenig geheim halten wollen, aber schon im Laufe der nächsten Pause wusste die ganze Klasse Bescheid. Die Etikette der Mädchen verlangte, dass Verlobungen sofort bekannt gegeben wurden.
Wir machten gar nichts Besonderes zusammen, trafen uns nicht öfter als sonst und trauten uns kaum einander anzusprechen. Und dennoch war diese Verliebtheit so heftig und denkwürdig, dass sie von keiner anderen jemals übertroffen wurde. In der Nähe des anderen liefen wir rot an, tauschten einen Radiergummi gegen einen Spitzer, schrieben «I love U 4ever» auf kleine Zettel und uns einmal sogar gegenseitig auf unsere Unterarme, auf die glatte, haarlose Seite. Beim Zusammenstellen der Brennballmannschaften wählten wir einander als Erste. Wenn die Jungen uns triezten und uns zwingen wollten, uns vor aller Augen zu küssen, liefen wir beide erhobenen Hauptes in entgegengesetzte Richtungen.
Wenn ich sie nach der Schule nicht sah, wurde das Verlangen stärker, als wenn sie in Reichweite und berührbar vor mir saß. Nachts, in meinem Jungenbett, rutschte ich bis an die Wand und stellte mir vor, dass Rebecca nackt neben mir läge und ich ihre kleinen Brüste mit meinen Händen bedeckte. Ich spürte, wie ihre Fingerspitzen behutsam die Linie meiner Augenbrauen nachzeichneten, während sie mir zuflüsterte, sie werde immer, immer bei mir bleiben. Ich stellte mir vor, wir lägen Haut an Haut in den Dünen, von glühenden Sandkörnchen paniert. Dass ich ihr anschließend den Rücken in einer tiefen Wanne auf Löwenfüßen wüsche, von weißem Schaum bedeckt, der ihren Körper verhüllte. Nur ich, ich allein wüsste, wie sie nackt aussah.
Unsere Verbindung endete am letzten Tag der sechsten Klasse, genau an demselben Ort, an dem sie begonnen hatte. Sie hatte kaum zwei Monate gedauert, aber nie wieder hat Sehnsucht so nachdrücklich Besitz von mir ergriffen wie damals.
«Mach’s gut», sagte Rebecca im kühlen Schatten des Fahrradschuppens zu mir. «Ich werd dich nicht wiedersehen, nach den Ferien gehe ich auf die Gesamtschule in der Stadt.»
Sie gab mir einen flüchtigen Kuss, unseren ersten und gleichzeitig letzten, halb auf die Wange, halb auf meine trocknen Lippen. Ich spürte ihre kleinen Wölbungen einen winzigen Augenblick an meinem Oberarm. Verdutzt berührte ich mein Gesicht, in dem Versuch, den Kuss zu fangen und festzuhalten.
«Übrigens», rief sie noch, während sie aus meinem Leben davonradelte, «ich gehe jetzt mit Aram von nebenan. Er geht auf die gleiche Schule wie ich demnächst.»
Der Kuss entfleuchte mir wie ein Schmetterling zwischen den Fingern. Fassungslos radelte ich nach Hause. Die Ungerührtheit, mit der sie mir das mitgeteilt hatte, verletzte mich mehr als die Mitteilung selbst. Zu Hause warf ich mein Zeugnis auf den Küchentisch und brach in Tränen aus.
«Was bist du doch für ein komischer Junge», fand meine Mutter. «Spitzennoten und dann heulen wie ein Baby. Ich bin stolz auf dich, dass du’s nur weißt.»
Widerstrebend ließ ich zu, dass sie ihre Arme um mich legte. Sie streichelte mir den Rücken und meine zuckenden Schultern, und ich stellte mir vor, es sei Rebecca, die mich tröstete.
Übrigens, ich geh jetzt mit Aram. Es kostete mich die ganzen Ferien, den beiläufig dahergesagten Satz aus dem Kopf zu kriegen. Überall tauchte er wieder auf, wie ein Ball, den man unter Wasser drückt und der sofort wieder nach oben schießt, sobald man ihn loslässt.
Im Bett gab ich mich meinen Phantasien hin, bevor mich der Schlaf übermannte. Ich stellte mir einen etwa fünfzehnjährigen Jungen vor, der zu dem Namen Aram passte – blond, sportlich und etwas fremdländisch, ein Wikinger – und den ich dann kaltblütig ermordete. Mit dem Küchenmesser meiner Mutter, einer Pistole, einem Strick oder einem gezielten Faustschlag in sein blondes Gesicht, je nach Stimmung und dem Ausmaß meiner Wut. Wenn die Spuren des perfekten Verbrechens beseitigt waren, tauchte Rebecca immer wieder vor meinem inneren Auge auf, mit noch glänzenderem Haar und noch engerer Bluse. Sie flehte mich an, doch bitte wieder mit ihr zu gehen. Sie streckte den Arm mit dem verblassten, aber noch lesbaren Text «I love U 4ever» nach mir aus.
Nein. Ich sagte es laut und unerbittlich, unterstrich meine Weigerung, indem ich den Kopf so lange schüttelte, bis mir der Nacken wehtat. Nein.
Zwischen meinen Liebeskummerattacken beschäftigte ich mich mit den ganz normalen Dingen, die man in den Ferien eben so macht. Radfahren (Spritztouren ohne Ziel). Schwimmen (Widerwillig, aber gegen das Drängen zweier Nachbarsjungen kam ich nicht an). Lesen (Thea Beckmans «Kreuzzug in Jeans» und Stephen Kings Geschichten voll Blut und Feuer). Mich in meinem Zimmer einschließen, fort von meinen Schwestern und ihrem Geschnatter über Bikinis und Flip-Flops, und nervös «Lernen!» rufen, wenn mich meine Mutter vom Flur aus fragte, was ich die ganze Zeit da drinnen triebe! Die Sonne schiene, es sei Sommer. Ich solle nach draußen, wie alle anderen.
Auf ausdrücklichen Wunsch meiner Mutter machten wir zwei Wochen Urlaub in Südfrankreich, das Auto voller Koffer und vor allem guter Laune. Lächeln und glücklich sein war Pflicht, vierundzwanzig Stunden am Tag. Manchmal machte es mich wütend, wenn ich meine Schwestern braungebrannt und halbnackt am Meeresufer entlangschlendern sah. Die Blicke eingeölter Adonisse brannten Löcher in ihre Körper.
Als ich bei einem Essen auf einer Strandterrasse dieses tägliche Ritual des Jagens und Gejagtwerdens einen Balztanz...




