E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Butter Wir hatten Glück, noch am Leben zu sein
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7317-6223-2
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Entkommen aus Bergen-Belsen
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6223-2
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
geboren 1930 in Berlin, lebt seit 1945 in den USA, heute in Ann Arbor, Michigan. Als Überlebende des Holocaust engagiert sie sich dafür, die Erinnerung an die Shoa wachzuhalten. Sie ist Mitbegründerin von Zeitouna, einer Friedensorganisation jüdischer und arabischer Frauen, sowie der Raoul Wallenberg-Stiftung, die Stipendien und einen jährlichen Preis für Friedensaktivisten vergibt.
Weitere Infos & Material
1
Ein rotes Dreirad und ein schwarzes Zickzack
Berlin, Sommer 1936
Geboren wurde ich als Irene Hasenberg, aber ihr könnt ruhig Reni sagen. Das taten schließlich alle. Ich hatte Glück. Ich wuchs mit meinem zwei Jahre älteren Bruder Werner bei meinen Eltern John und Gertrude Hasenberg und meinen Großeltern Julius und Pauline Mayer in einer großen, hellen Wohnung in der Nassauischen Straße 62 in Berlin auf, der strahlenden Hauptstadt Deutschlands. Eltern und Großeltern umgaben uns mit Liebe und vielen schönen Spielsachen. Mein liebstes war das rote Dreirad, das ich an meinem vierten Geburtstag bekam. Ich strampelte damit so schnell es ging durch den Park, sauste über die Gehwege und putzte danach auch immer brav die Reifen und den blitzenden Lenker.
Die jüdischen Feiertage und alle Geburtstage begingen wir zusammen mit verschiedenen Verwandten, versammelten uns mit ihnen am Esstisch, um die mehrzöpfige Challa zu verspeisen, unsere hebräischen Lieblingslieder zu singen und viel heiße Schokolade zu trinken. Wir hatten keine besonders schönen Stimmen, aber wen kümmerte das? Wir waren beisammen. Wir wollten ja keine Schallplatte aufnehmen! Als kleines Mädchen erlebte ich in Berlin herrliche Jahre, auch wenn sich Deutschland veränderte.
Aber was wusste ich schon davon? Ich war ja erst fünf.
Mein Opa und meine Omi hatten nicht weit von der Wohnung in Wilmersdorf einen kleinen Schrebergarten. An einem warmen Morgen meinte Opa, es sei ein prima Tag zum Aussäen, ganz besonders die Gurken und Radieschen, meine Lieblingsknabbereien. Wir zogen alle zusammen los. Es machte ganz schön Arbeit, die Erde umzugraben und Beete »anzulegen«. Behutsam betteten wir winzige, platte Samen in Weiß und kleine runde in Braun in den krümeligen Boden und deckten sie zu. Als ich mit meiner Reihe fertig war, guckte ich. Ich guckte und wartete sehr, sehr lange – bis die Erde oben an der Sonne trocken und hell wurde. Es geschah nichts.
»Reni, können wir los?«, fragte Papi.
»Lass uns noch auf die Knabbereien warten.«
»Da sind wir ja im Sommer noch hier!«, meinte Werner.
»Reni, es dauert eine ganze Weile, bis aus den Samen Gemüse wird«, erklärte Mutti.
»Was?«
Tränen kullerten mir über die Wangen. Opa kniete sich zu mir; seine Knie krachten.
»Nicht weinen, Kind. Das sind ganz besondere Samen. Sie wachsen sehr schnell, schneller als andere. Du musst nur etwas Geduld haben. Schaffst du das?«
»Ich versuch’s ja.«
»Eine gute Übung.«
Daheim hatten Mutti und Papi eine Überraschung für uns: Wir würden in die Stadt in den Zoo fahren. Ich vergaß die Samen. Aber erst, mahnte Mutti, müssten wir uns frischmachen.
»Hab ich schon«, sagte Werner. »Gleich als Erstes.«
Es stimmte. Selbst seine Schuhe blitzten. Ich besah mir mein Kleid und meine Fingernägel. Überall Dreck. Ich klopfte mich ringsum tüchtig ab und schüttelte mir sogar die Haare aus.
»Fertig!«
»Von wegen, Reni«, sagte Mutti, packte meine Hand und schleifte mich ins Bad.
Sie schrubbte mich feste mit Wasser und Seife ab, wischte mir sogar die Ohren aus und drum herum.
»Du machst mich kaputt«, begehrte ich auf.
Mutti wickelte mich in ein großes Badetuch, drehte mich und rubbelte, als würde sie Kissen aufschütteln. Dann ging es ab ins Kinderzimmer, wo sie mich fein machte. Erst dann durfte ich endlich in die Diele laufen, wo Papi und Werner warteten.
»Ach, Reni, du bist auch da«, staunte Papi. »Vorhin war hier ein kleines Mädchen, aber ich habe es vor lauter Schmutz nicht erkannt.«
»Das war ich!«
Wir nahmen zum Zoo die große gelbe Straßenbahn, genau die, mit der Papi jeden Tag zur Arbeit fuhr. Automobile und Lastautos hupten und kurvten hin und her. Wo die hinfahren würden, wusste man nie, die gelbe Straßenbahn aber folgte immer derselben Spur und den Drähten darüber. Sie kam und fuhr zu festen Zeiten, also wusste ich stets genau, wann Papi zur Arbeit aufbrechen und wann er heimkommen würde. Die knallgelbe Bahn war leicht zu erkennen; wenn ich aus einem der Wohnungsfenster schaute, konnte ich sie schon von Weitem kommen sehen und mich bereit machen, Papi gleich an der Tür in die Arme zu springen. Neulich hatte er gemeint, er kann mich kaum noch heben. So groß sei ich geworden.
Ich blickte auf Berlin hinaus. Es wimmelte wie Ameisen auf einer Picknickdecke.
»Mutti«, fragte ich, »was ist das schwarze Zickzack da?«
Es war überall: auf Fahnen groß wie Häuser, auf Lastwagen und Autos, auf Anziehsachen.
Sie meinte, das sei nichts weiter, also beugte ich mich zu meinem Bruder rüber und fragte den.
»Also ehrlich, Reni. Das ist ein Hakenkreuz«, sagte Werner.
»Was denn für ein Haken …?«
»Hakenkreuz«, verbesserte er.
»Gut, die werde ich jetzt alle zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf …«
»Such dir etwas anderes, Reni«, befahl Mutti.
»Die vielen Banner und Fahnen sind für die Olympischen Spiele im August«, erklärte Werner.
»Was sind das für Spiele?«, wollte ich wissen.
»Ehrlich, Reni, weißt du denn gar nichts?«, meinte Werner.
»Ich weiß jedenfalls, dass es mindestens fünfzig Hack- … Zickzacke sind«, sagte ich und schielte rasch zu Mutti hin, um sicherzugehen, dass sie nicht mithörte. »Oder sogar mehr. Ich habe ganz viele gezählt.«
»Die Olympischen Spiele sind, wenn Sportler aus aller Welt kommen«, erklärte Werner. »Sie kämpfen um Medaillen. Ich habe gehört, dass Deutschland richtig viele holen wird, besonders die Turner und Leichtathleten. Das ist eine ganz große Sache.«
»Ja, ist es«, bestätigte Papi, »und wir beide, Werner, gehen hin.«
Ausnahmsweise fehlten Werner die Worte, er stammelte: »Is wahr?« Papi nickte.
»Und ich? Und ich?«, rief ich. »Ich will auch.«
»Wir beide gehen einkaufen«, sagte Mutti.
Na ja, so dringend wollte ich dann auch wieder nicht zu diesen Olympischen Spielen.
Wir gingen ans Tor zum Zoo, und ich vergaß die schwarzen Zickzacke.
Drinnen ließ Papi meine Hand los, und ich lief mit Werner voraus, aber nicht zu weit. Alles dort war so grün: die buschigen Bäume und das spitze Gras. Beete voll gelber und roter Blumen duckten sich an kleine Zäunchen. Das Rot war so grell wie die großen Fahnen, die über den Dächern wehten. Ich wäre am liebsten mitten in die viele Farbe gelaufen, aber ich wusste inzwischen, dass ich auf den grauen Wegen bleiben musste. Wir sahen Elefanten ihre Schwänze und Rüssel schwingen, ich zeigte auf die großmäuligen Nilpferde. Wir fütterten die Ziegen, die uns umkreisten und unsere Hände beknabberten. Am liebsten war mir das Affenhaus mit den herumtollenden, schaukelnden Affenfamilien.
Auf der Heimfahrt lehnte ich mich an Papis Brust und den dunkelgrauen Anzug. Und da fielen mir die Zaubersamen wieder ein. Wie die wohl aussahen, wenn sie sich in ihren kleinen Erdbetten hin- und herwarfen?, fragte ich mich laut. Werner nannte mich hoffnungslos, und Mutti zwickte ihn in den Arm. Auf dem Weg von der Straßenbahnhaltestelle schlug sie vor, wir könnten doch am Schrebergarten vorbeigehen. Von Weitem schon sah ich auf der Erde grüne und rote Tupfer: blanke Gurken und Radieschen. Ich sauste quer über die Beete hin, obwohl ich das eigentlich nicht sollte, schnappte mir eine Gurke und biss gleich hinein, um mich zu vergewissern, dass sie echt war. Eine so saftig knackige Gurke hatte ich noch nie gekostet. O ja, es waren wirklich besondere Samen! Opa hatte recht.
»Warte doch. Die muss man erst waschen, Reni«, rief Mutti.
Ich stopfte mir so viele wie möglich in die Taschen meines Kleids. Den Rest sammelten Mutti und Werner ein.
»Opa, Omi, seht nur!«, rief ich daheim in der Küche, als ich meine Taschen auf den Holztisch ausleerte.
»Da musst du aber sehr tüchtig gesät haben, Kindchen. Dass sie so schnell reifen, habe ich noch nie erlebt«, sagte Opa.
»Genau, und noch dazu ganz ohne Blätter«, sagte Werner. »So als kämen sie direkt vom Gemüsestand.«
»Es sind eben sehr besondere Gurken«, beschloss ich.
Ich biss noch mal von einer ab. Meinetwegen waren die Samen besonders, aber wir waren eben auch sehr, sehr gute Gärtner.
Am Abend, gemütlich im Bett, dachte ich an die bevorstehende Geburtstagsfeier von meinem Vetter Bert und freute mich darauf, eines meiner besten Kleider tragen zu können. Vielleicht das blauweiß karierte mit den gelben Knöpfen oder, wenn ich großes Glück hatte, würde mir Mutti erlauben, das weiße mit den winzigen roten und blauen Herzen zu tragen, das mit dem gesmokten Oberteil, wenn ich versprach, es nicht schmutzig zu machen und daheim gleich wieder auszuziehen. Ich mochte an beiden die kurzen Puffärmel so gern und …
Ich hörte Werners Bett knarzen. Auch ohne den goldenen Schimmer meines Nachtlichts mit dem Äffchen wusste ich, dass er aus dem Bett gestiegen war und neben mir stand. Ich drehte das Gesicht zur Wand.
»Reni«, flüsterte er, »schläfst du?«
»Ja.«
»Reni, ich muss dich was fragen. Glaubst du, ich werde schlecht träumen?«
Seine Stimme bibberte ein bisschen. Ich antwortete nicht. Neuerdings träumte Werner oft schlecht – das wurde mir zu dumm. Als legte er es regelrecht auf schlimme Dinge und Träume an. Ich wollte nicht mit ihm reden. Ich wollte darüber nachdenken, was ich zu Berts Geburtstagsfeier tragen sollte. Bert würde sechs werden … wie ich im...