E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Butterweck Der Nürnberger Prozess
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7076-0769-7
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Richter spielten nicht mit
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-7076-0769-7
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hellmut Butterweck wurde 1927 in Wien geboren. Er war langjähriger Theaterkritiker und Ressortleiter fu?r Zeitgeschichte der angesehenen Wiener Wochenzeitung »Die Furche«, leitete bis 2002 deren Buchressort und schrieb Theaterstu?cke, Hörspiele und Bu?cher, u.a. Standardwerke u?ber die österreichische Nachkriegsjustiz gegen NS-Straftäter.
Autoren/Hrsg.
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EINLEITUNG
Die dunkle Schwester des Vergessens heißt Verdrängung
Wieder einmal zog die Gegenaufklärung durch Städte und Dörfer. Sie trug Judensterne vor sich her und bespuckte die Vernunft. Wir erlebten, wie sich der im Dienste durchschaubarer Interessen für überwunden erklärte Ungeist mit neuen irrationalen Strömungen verband und wie er zynisch in den Fundus der Zeitgeschichte griff, um sie auf den Kopf zu stellen und die Menschen zu verwirren. Wir erlebten zugleich, was geschieht, wenn man Geschichte voreilig für abgetan und erledigt hält: Sie wird missbrauchbar und wird missbraucht, und zwar gerade von jenen, die sich ihren Lehren widersetzen. In den Demonstrationen gegen die Covid-19-Maßnahmen trieb das usurpatorische Verhältnis politischer Bewegungen zur Geschichte völlig neue Blüten. Es findet sein einziges Korrektiv in einer an den Fakten orientierten Information. Daher wird diese von allen, die die Geschichte verdunkeln und verfälschen, so gehasst.
In Nürnberg wurde zum ersten Mal der Angriffskrieg als Verbrechen geächtet und zum ersten Mal wurden die Angreifer vor Gericht gestellt. Welchen revolutionären Schritt dies bedeutete, erhellt allein aus der Schärfe der von den über jeden Verdacht politischer Einseitigkeit erhabenen Zeitgenossen am Nürnberger Prozess geübten Kritik. Kein Geringerer als Hans Kelsen, der Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung, hielt den Prozess für unrechtmäßig, denn als Hitler ein Land nach dem anderen überfiel, habe es im Völkerrecht keine Bestimmung gegeben, die dies verbot, und keine, wonach Angreifer vor Gericht gestellt werden konnten. Ein so kluger Kopf wie George F. Kennan vertrat noch zwanzig Jahre später die Ansicht, dass es besser gewesen wäre, die größten deutschen Übeltäter formlos an die Wand zu stellen, als sie nach rückwirkendem Recht zu verurteilen.
In diesem Buch wird auf den weithin unbekannten Sachverhalt hingewiesen, dass der amerikanische, der britische und der französische Richter mit ihrer Mehrheit gegenüber dem sowjetischen Mitglied des Tribunals mit einer Ausnahme Urteile durchsetzten, die Schuldsprüche wegen Verbrechen gegen den Frieden enthielten, ohne dass sich diese Schuldsprüche jedoch auf die verhängten Strafen ausgewirkt hätten. Bis auf das Lebenslang für Rudolf Heß entsprachen die Strafen der Schuld der Verurteilten wegen Kriegsverbrechen und/oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Richter holten die »Sterne eines neuen Völkerrechts«, nach denen der amerikanische Hauptankläger Robert Jackson in seiner brillanten Eröffnungsrede gegriffen hatte, auf den sicheren Boden des Strafrechtes herunter.
Und doch wurden gerade die Anklagen wegen Verbrechen gegen den Frieden zukunftswirksam. Der Nürnberger Prozess hat entscheidend dazu beigetragen, dass der Angriffskrieg heute in dem Maß verpönt ist, wie es der Fall ist. Alles in allem hat der Nürnberger Prozess jedoch auf dem Papier, auf dem geschrieben steht, was sein darf und was nicht, weniger bewirkt als in den Köpfen der Menschen, auch wenn er für viele heute nicht mehr ist als eines der vielen historischen Ereignisse, von denen man einmal gehört hat, oder nicht einmal das. Den unbelehrbaren Ewiggestrigen ist er nach wie vor besonders verhasst, denn an den Fakten, die weniger als ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg ans Licht kamen, führte und führt kein Weg vorbei. Der größte Strafprozess aller Zeiten wurde zum bevorzugten Aggressionsziel der Neonazis und der äußeren Rechten. Für sie besteht das wahre Ärgernis von Nürnberg nach wie vor nicht in den Fehlkonstruktionen und Schwächen des Prozesses, sondern im Gegenteil darin, dass er korrekt und fair geführt wurde und dass sich an den Ergebnissen des Beweisverfahrens selbst beim bösesten Willen nicht herumdeuteln lässt. Trotzdem polarisierte er nahezu über die ganze Breite des politischen Spektrums hinweg.
In Deutschland, in Österreich und auf der ganzen Welt wurde über den Nürnberger Prozess monatelang täglich an prominenter Stelle berichtet. Und dies in einer Zeit, in der die Zeitungen, damals Massenmedium schlechthin, den Themenkreis Holocaust höchst selektiv behandelten. Die ganze Wahrheit, die die Menschen durch die Gerichtssaalberichte aus Nürnberg erfuhren, wäre sonst erst über Jahre hin verzettelt zu ihnen durchgesickert, was sich für die Wiener Publizistik eindeutig nachweisen lässt.1 In Deutschland und Österreich wurde die Wahrnehmung der NS-Verbrechen in der frühen Nachkriegszeit vom Nürnberger Prozess bestimmt, und durch die geballte Macht der Zeugenaussagen und Dokumente wurde eine Fakten- und Beweislage geschaffen, auf der spätere Generationen ihre Bewusstseinsbildung aufbauen konnten. Ohne sie wäre es heute schwieriger, Holocaust-Leugnern entgegenzutreten. Auch darum kann an den Nürnberger Prozess nicht oft genug erinnert werden. Er hält eine Fülle wertvoller Erfahrungen für die Gegenwart bereit. Doch um sie verwerten zu können, muss man ihn kennen.
Er war als politischer Prozess, der neue völkerrechtliche Grundsätze zur Geltung bringen sollte, konzipiert und so lebt er im kollektiven Gedächtnis weiter: als Verfahren, in dem Männer zum Tode verurteilt wurden, weil sie einen Angriffskrieg geplant und geführt hatten. Tatsächlich aber wurde in Nürnberg niemand zum Tode verurteilt, der nicht in die Mordtaten des NS-Regimes verstrickt war. Die Strafen wären mit einer Ausnahme nicht anders ausgefallen, wenn man den Angeklagten ausschließlich Mord, Mitschuld am Mord oder Anstiftung zum Mord und keine Verbrechen gegen den Frieden vorgeworfen hätte. Wegen der Vorbereitung und Führung von Angriffskriegen wurden zwar Schuldsprüche gefällt, doch in den Strafen spielten sie bis auf den Fall Heß keine Rolle und ausgerechnet Rudolf Heß verbüßte sein Lebenslang bis zum Selbstmord mit 93 Jahren. Sein Fall wirft den einzigen Schatten auf den Prozess. Dies entspricht allerdings einer Fehlerquote zu Lasten der Angeklagten von fünf Prozent – damit besteht er den Vergleich mit jeder ordentlichen Strafjustiz. In diesem Sinne war er ein Blindflug zur Gerechtigkeit.
Die Freiheitsstrafen entsprachen überraschend genau dem Grad der persönlichen Verantwortung oder Mitverantwortung für den Tod von Menschen. Doch der Spruch vom Griff nach den »Sternen eines neuen Völkerrechts« grub sich ein und wurde zum Mythos. Ursache der Missverständnisse war vor allem die angelsächsische Verfahrensordnung. Die Ankläger, zuerst und am meisten die amerikanischen, dominierten das Geschehen. Gerade in den ersten Wochen, in denen das Interesse am größten war, ging es ihnen vor allem darum, die Anklagen wegen der Führung von Angriffskriegen zu erhärten. Die Richter folgten, gelegentlich Fragen stellend, der Beweisführung der Ankläger, dann der Verteidiger, den Aussagen der von jeder Seite aufgerufenen Zeugen. 216 Verhandlungstage lang deutete nichts darauf hin, worauf es ihnen am Ende ankommen würde, auf die politischen oder auf die »klassischen« Straftaten. Dass sie am Ende etwas völlig anderes als das ursprünglich Geplante aus diesem Prozess gemacht hatten, ließen erst die am 1. Oktober 1946 verkündeten Strafen erkennen.
Doch die Urteile wurden verkündet, die zum Tode Verurteilten hingerichtet oder zur Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen am 19. Juli 1947 nach Spandau überstellt, die Richter, die Ankläger und ihre Stäbe flogen nach Hause und der Kalte Krieg überschattete alles andere. Nürnberg wurde zum Hassobjekt der Unbelehrbaren und zum Objekt jahrelanger juristischer Debatten über rückwirkendes Recht.
Die Vorstellung, in Nürnberg seien Männer wegen Verbrechen gegen den Frieden aufgehängt worden, setzte sich so fest, dass der Herausgeber der »Chicago Tribune« die Einladung zu einem Bankett für das amerikanische Mitglied des Tribunals Francis Biddle mit dem Satz ablehnte, »er werde nicht mit einem Mörder essen«.2 Gab es eine Absprache der Richter? Oder haben sie, wenn schon nicht die Schuldsprüche, so doch jedenfalls die Strafen in einem schweigenden Einverständnis im herkömmlichen Strafrecht verankert? Oder, wenn es anders war, wie? Diesen Fragen wird im vierten Kapitel anhand der Aufzeichnungen über die Urteilsberatungen der Richter nachgegangen.
In diesem Buch wird auch deutlich ausgesprochen, was bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses schiefgelaufen ist – und warum es zum Nürnberger Prozess keine Alternative gab. Es gab keine, weil er seinerseits die Alternative zum ernsthaft erwogenen Vorhaben war, die größten deutschen Missetäter einfach an die Wand zu stellen, sobald man sie erwischte. Selbstverständlich könne man Kriegsverbrecher formlos erschießen, erklärte der spätere amerikanische Hauptankläger Robert Jackson in einer Rede vor der American Society for International Law, wenn man sich aber zu einem Gerichtsverfahren entschließe,...




