Carrisi | Diener der Dunkelheit | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 340 Seiten

Carrisi Diener der Dunkelheit


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-03792-121-0
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 340 Seiten

ISBN: 978-3-03792-121-0
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



An einer Landstraße wird eine orientierungslose junge Frau aufgegriffen. Sie wird in ein Krankenhaus gebracht, wo sich herausstellt, dass es sich um Samantha Andretti handelt, die 15 Jahre zuvor als damals 13-Jährige spurlos verschwand. Nach und nach kehrt Samanthas Erinnerungsvermögen zurück: Sie wurde in einem unterirdischen Labyrinth gefangen gehalten, von einem Mann, der eine Hasenmaske trug.
Dieser verstörende Bericht ruft Bruno Genko auf den Plan, der vor 15 Jahren von Samanthas verzweifelten Eltern als Privatdetektiv engagiert worden war. Genko ist unheilbar krank und weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Er beschließt, die Zeit, die ihm noch bleibt, zu nutzen, um Samanthas Fall doch noch zu lösen. Als er seine alten Fährten wieder aufnimmt, stößt er in einem Keller auf einen Karton mit grausigen Kinderzeichnungen. Unwissentlich setzt Genko damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die auf erschütternde Weise alles infrage stellen, was er, die Polizei und sogar Samantha selbst über den Mann mit der Hasenmaske zu wissen glaubten.
Carrisi Diener der Dunkelheit jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


1


Während für den Großteil der Menschheit an jenem 23. Februar ein Tag wie jeder andere begann, brach für Samantha Andretti der womöglich wichtigste Tag ihres jungen Lebens an.

Tony Baretta wollte mit ihr reden.

Wie die Teufelsbesessene aus einem Horrorfilm hatte sich Sam die ganze Nacht im Bett hin und her gewälzt und versucht, sich einen Reim darauf zu machen, was einen der süßesten Jungs der Schule – und der gesamten Schöpfung – dazu trieb, ausgerechnet mit ihr ein paar zusammenhängende Sätze wechseln zu wollen.

Angefangen hatte alles am Tag zuvor. Sie war natürlich nicht direkt und von ihm persönlich gefragt worden. Für gewisse Dinge galten unter Teenagern schließlich feste Regeln. Klar, die Initiative ging immer vom Interessenten aus. Doch dann folgte ein ganzer Rattenschwanz von Aktionen. Tony hatte sich an Mike aus seiner Clique gewandt, der es an Sams Banknachbarin Tina weitergegeben hatte. Und Tina hatte es ihr gesagt. Ein einfacher, klarer Satz, der jedoch im unergründlichen Universum der Mittelstufe alles Mögliche bedeuten konnte.

»Tony Baretta will mit dir reden«, hatte Tina ihr während der Sportstunde freudig hopsend mit leuchtenden Augen und strahlender Stimme ins Ohr geflüstert – eine wahre Freundin freut sich schließlich von ganzem Herzen, wenn einem etwas Schönes passiert.

»Woher weißt du das?«, hatte Sam gierig gefragt.

»Von Mike Levin, er hats mir gesagt, als ich vom Klo kam.«

Wenn Mike sich an Tina gewandt hatte, dann war die Sache vertraulich und sollte es auch bleiben.

»Was genau hat er denn gesagt?«, hatte Sam nachgehakt, um sicherzugehen, dass Tina ihn wirklich verstanden hatte. Die gesamte Schule erinnerte sich noch allzu gut an die Geschichte von der armen Gina D’Abbraccio: Als ein Junge sie gefragt hatte, ob sie schon einen Begleiter für den Abschlussball habe, hatte sie seine Neugier mit einer Einladung verwechselt und dann in bodenlangem, pfirsichfarbenem Tüll in Tränen aufgelöst auf ein Phantom gewartet.

»Er hat gesagt: ›Sag Samantha, dass Tony mit ihr reden will‹«, hatte Tina wortgetreu wiederholt.

Und Samantha hatte sie den Satz wieder und wieder hersagen lassen, um sicherzugehen, dass Tina nichts verdrehte oder nicht irgendein Alien beschlossen hatte, ihre Freundin zu klonen, um sie reinzulegen.

Dass es über das »Wann« und »Wo« der Unterhaltung mit Tony keine Klarheit gab, machte Sam zusätzlich zu schaffen. Vielleicht würde sie im Chemielabor stattfinden oder in der Bibliothek, überlegte sie. Oder hinter der Tribüne der Sporthalle, in der Tony Baretta mit seiner Basketballmannschaft und Samantha mit ihrem Volleyballteam trainierten. Beim Betreten oder Verlassen der Schule passierte es ganz bestimmt nicht, und auch nicht in der Mensa oder auf den Fluren – zu viele neugierige Augen und Ohren. Doch die Qual, nichts Genaueres zu wissen, hatte auch etwas Schönes. Anders hätte Sam das seltsame Auf und Ab zwischen Euphorie und Herzensschwere, das diese schlichte Aufforderung ausgelöst hatte, nicht beschreiben können, denn immerhin konnte der Anlass des Treffens genauso gut eine Enttäuschung wie eine schöne Überraschung sein. Dennoch war sie dankbar – ja, dankbar – für das, was ihr gerade widerfuhr.

Und es passierte ausgerechnet ihr, Samantha Andretti, und keiner anderen!

Ihre Mutter hatte unrecht, wenn sie sagte, gewisse Dinge, die man mit dreizehn erlebe, wisse man erst als Erwachsene richtig zu schätzen. Denn in diesem Moment wärmte sich Sam an einem Glück, das ganz allein ihr gehörte und das niemand sonst auf der Welt hätte empfinden oder begreifen können. Es machte sie zu einer Auserwählten … Oder vielleicht war sie nur eine törichte Träumerin, die kurz davor war, mit der Nase auf eine grausame Wahrheit gestoßen zu werden. Immerhin war Tony Baretta berüchtigt dafür, sich bei Mädchen wichtigzumachen.

Tatsächlich hatte Tony sie nie großartig interessiert. Zumindest nicht so. Die Natur hatte mit ihrem geheimnisvollen Werk an ihrem Körper begonnen, und Sam hatte sich schon an die kleine monatliche Strafe gewöhnt, die sie einen Großteil ihres Lebens würde abbüßen müssen, doch bis zu dem Moment waren ihr die positiven Seiten dieser »Wandlung« verborgen geblieben. Samantha empfand sich nicht als besonders hübsch – vielleicht ein bisschen, aber es hatte bislang keine Bedeutung gehabt. Die knospenden Rundungen, die die Jungs plötzlich neugierig machten, waren für sie selbst ebenso überraschend.

Waren sie Tony aufgefallen? Hatte er es darauf abgesehen? Wollte er ihr unters T-Shirt fassen oder sogar – weiter unten hin?

Deshalb war Sam am Morgen des 23. Februar – dem Tag der Tage! –, während sie übermüdet von der schlaflosen Nacht zusah, wie das erste Morgenlicht über ihre Zimmerdecke kroch, zu dem Schluss gekommen, dass Tony Barettas Satz nicht wirklich gefallen war und Einbildung sein musste. Oder womöglich hatte sie zu viel darüber nachgedacht, und die Vorstellung hatte auf den verschlungenen Pfaden ihrer blühenden Teenagerfantasie an Glaubwürdigkeit verloren. Es gab allerdings nur eine Möglichkeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre müden Glieder aus dem verschwitzten Bett zu quälen, sich fertig zu machen und zur Schule zu gehen.

Sam ignorierte die Vorwürfe ihrer Mutter, sie habe nicht genug gefrühstückt – sie konnte kaum atmen, geschweige denn etwas essen, verdammt! –, warf sich den Rucksack über die Schulter und schlüpfte hastig aus der Wohnungstür, um mit fatalistischer Furchtlosigkeit ihrem unausweichlichen Schicksal entgegenzugehen.

Um kurz vor acht waren die Straßen des Viertels, in dem die Familie Andretti lebte, so gut wie menschenleer. Wer einer Arbeit nachging, war schon vor einer ganzen Weile aufgebrochen, die Arbeitslosen waren damit beschäftigt, den Rausch der vergangenen Nacht auszuschlafen, die Alten warteten auf die wärmsten Stunden des Tages, um ihren gewohnten Spaziergang zu machen, und die Studenten würden sich erst in allerletzter Minute auf den Weg machen. Auch für Sam war es eine unübliche Zeit. Sie wäre gern bei Tina vorbeigegangen, wie sie es sonst häufig tat. Doch dann überlegte sie, dass ihre Freundin wahrscheinlich noch nicht fertig wäre und sie nicht die Geduld hatte, auf sie zu warten.

Nicht heute.

Auf ihrem Weg den grau gepflasterten Gehsteig entlang begegnete sie nur einem Postboten, der nach der richtigen Adresse suchte, um seine Lieferung loszuwerden. Sie bemerkte ihn nicht einmal, und der Mann sah das Mädchen kaum, das gelassen an ihm vorbeischlenderte – niemand hätte ihr den inneren Aufruhr angesehen. Sam ging an dem grünen Haus der Macinskys mit dem grässlichen schwarzen Köter vorbei, der sich hinter die Hecke kauerte und sie jedes Mal zu Tode erschreckte, dann an der kleinen Villa, die früher einmal Frau Robinson gehört hatte und jetzt in sich zusammenfiel, weil die Angehörigen sich über das Erbe stritten. Sie passierte den Fußballplatz hinter der Kirche der Heiligen Barmherzigkeit. Dort gab es eine Grünanlage mit einem kleinen Spielplatz mit Schaukeln, einer Rutsche und einer großen Linde, an der Pater Edward die Bekanntmachungen mit den Gemeindeaktivitäten anschlug. Trotz der Stille ringsum konnte man am Ende der menschenleeren Straße bereits die mehrspurige Allee sehen, wo der Verkehr hektisch in Richtung Zentrum floss.

Doch Sam nahm all das nicht wahr.

Die Landschaft vor ihren Augen war wie eine Leinwand, auf die ihr Geist das lächelnde Gesicht von Tony Baretta projizierte. Ihre Füße folgten dem verinnerlichten, Hunderte Male gegangenen Schulweg wie von selbst.

Sie hatte die halbe Strecke bereits hinter sich, als Sam plötzlich der Zweifel ergriff, ob sie für das Treffen gut genug aussah. Sie trug ihre Lieblingsjeans – die mit dem Strass auf den hinteren Taschen und den kleinen Rissen über den Knien – und unter der ein paar Nummern zu großen schwarzen Bomberjacke das weiße Sweatshirt, das ihr Vater ihr von seiner letzten Dienstreise mitgebracht hatte. Doch das eigentliche Problem waren die Augenringe von der schlaflosen Nacht. Sie hatte versucht, sie mit dem Make-up ihrer Mutter zu kaschieren, doch so richtig überzeugt war sie nicht – sie durfte sich noch nicht schminken und hatte deshalb keine Übung darin.

Sie verlangsamte ihren Schritt und musterte die am Straßenrand geparkten Autos. Den metallicgrauen Dodge und den beigefarbenen Volvo schloss sie sofort aus, die waren zu dreckig. Dann entdeckte sie einen weißen Minivan mit verspiegelten Fenstern. Samantha überquerte die Straße und betrachtete sich. Nachdem sie festgestellt hatte, dass das Make-up die Augenringe gut verdeckte, verharrte sie noch vor dem Van und bewunderte ihr langes, kastanienbraunes Haar. Sie liebte ihre Haare. Und trotzdem fragte sie sich, ob sie wirklich hübsch genug für Tony war, und versuchte, sich mit seinen Augen zu sehen. Und während sie noch darüber nachdachte, glitt ihr Blick für einen winzigen Moment durch das Spiegelglas.

, fragte sie sich. Sie schaute genauer hin.

Im Dunkel auf der anderen Seite der Scheibe hockte ein riesiger Hase und starrte sie reglos an.

Sicher, Samantha hätte weglaufen können – etwas in ihr drängte sie, die Beine in die Hand zu nehmen, und zwar schleunigst –, doch sie tat es nicht. Dieser abgrundtiefe, hypnotische Blick faszinierte sie. , sagte sie sich. ,...


Carrisi, Donato
Donato Carrisi, geboren 1973 in einem Dorf in Apulien, lebt in Rom. Er studierte Jura und spezialisierte sich auf Kriminologie und Verhaltensforschung. Nach einer kurzen Tätigkeit als Anwalt arbeitet er heute als Autor und Regisseur. Neben seinem Bestseller Der Nebelmann mit Jean Reno wurde auch sein Thriller Diener der Dunkelheit mit Dustin Hoffman fürs Kino verfilmt.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.