Chakravarti | Highway 39 | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 376 Seiten

Chakravarti Highway 39

Reportagen aus Indiens aufständischem Nordosten
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30882-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Reportagen aus Indiens aufständischem Nordosten

E-Book, Deutsch, 376 Seiten

ISBN: 978-3-293-30882-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es ist ein Highway durch die Hölle, die 436 Kilometer lange Straße durch das nordöstliche Indien. Sie beginnt in Numaligarh am südlichen Ufer des Brahmaputra in Assam und reicht bis Moreh in Manipur. Seit den 1950er-Jahren ist diese Region, insbesondere die Bundesstaaten Nagaland und Manipur, geprägt durch permanente Aufstände und durch ein erschreckendes Desinteresse der indischen Regierung. Die Reportagen des indischen Journalisten Sudeep Chakravarti bieten detaillierte Einblicke in die komplexe Realität dieses weitgehend unbekannten bewaffneten Konflikts. Der Autor lässt hochrangige Regierungsvertreter, Politiker und Militärs ebenso zu Wort kommen wie Untergrundführer, Angehörige von Bürgerbewegungen, Frauengruppen und Kulturschaffende.

Sudeep Chakravarti, geboren 1963 in Kalkutta, ist Journalist und Schriftsteller. Er studierte Geschichte in Delhi. Fünfundzwanzig Jahre arbeitete er als Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine. 2004 zog er mit seiner Familie nach Goa, wo er seither Romane und Sachbücher schreibt.
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Einleitung


Es ist verlockend zu behaupten, ich hätte dieses Buch wegen Asangla Angelica Sangtam geschrieben, aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Das Bedürfnis, über das zu schreiben, was Indien seinen Nordosten nennt – ein Etikett für eine Region, die momentan acht Bundesstaaten und mehrere hundert ethnische Gruppen, Stämme und Substämme umfasst und sich über etwa ein Zehntel der indischen Landmasse erstreckt –, verspürte ich auch aus anderen Gründen.

Indien ist unübertroffen darin, die Augen von etwas, was geographische und demographische Fakten genannt werden könnte, abzuwenden. Ist ein Ort nur weit genug von Neu Delhi entfernt und verfügt nicht über ein ausreichendes Bevölkerungsgewicht, um entscheidend zur Regierungsbildung beizutragen, nehmen politische Führung und Koordination dramatisch ab. Selbst unter Berücksichtigung des größtenteils positiven, neuen Schwungs eines »reformistischen« Indiens befinden sich bereits seit Jahrzehnten besonders auffällige blinde Flecken der Regierungsführung im Nordosten, einem regen Knotenpunkt verschiedener Grenzen und Länder (China, Bangladesch, Myanmar, Nepal und Bhutan). Eine Art Unsichtbarkeitszauber scheint über den heute knapp sechsundvierzig Millionen Menschen zu liegen.

Wie dem auch sei, zu Asangla. Diese zierliche Studentin war immer sehr offen gegenüber meinem Freund Jean-Christophe Gardaz, oder J-C, wie wir ihn nannten – recht ironische Initialen für einen Schweizer Computerspezialisten und überzeugten Atheisten. Asangla, im Gegensatz dazu, eine gläubige Baptistin. Meine Freundin und ich sind überzeugte Inder, gleichwohl war Asangla uns gegenüber nie so offen. Das wirkte sehr verstörend auf mich und rüttelte an der Idee einer gemeinsamen indischen Identität, die meine Generation – ein paar Dekaden nach Indiens Unabhängigkeit 1947 geboren – von Kindheit an gelernt hatte, als selbstverständlich zu betrachten. Es war, als ob dieses Mädchen uns verspottete, unsere Urbanität und unsere Überzeugung, globale Bürger einer ungestümen Demokratie zu sein – so hoffnungslos unvollkommen und korrupt diese auch sein mochte. Sie war das lebendige Gewissen der verscharrten neueren Geschichte Indiens.

Asangla ist eine Naga – ihre Mutter gehört dem Ao-Stamm an, ihr Vater dem benachbarten Sangtam. Wir sprechen über 1995. Die Regierung Indiens ist noch zwei Jahre davon entfernt, einen bizarren Waffenstillstand mit der größten Naga-Rebellenfraktion, dem National Socialist Council of Nagalim (Isak-Muivah) (Nationaler Sozialistischer Rat von Nagalim, Isak-Muivah, kurz: NSCN-IM) zu unterzeichnen. Im indischen Bundesstaat Nagaland und mehreren Distrikten der Nachbarbundesstaaten Manipur und Arunachal Pradesh werden Einsätze gegen diese Gruppe und die rivalisierende Splittergruppe, die Khaplang-Fraktion, geführt. (Naga-Stämme leben seit hunderten, vielleicht tausenden von Jahren in dieser Gegend, aber mündliche Überlieferungen indigener Völker vertragen sich nicht gut mit politischen Schemata.)

Asangla brauchte einige Jahre, um aufzutauen und mich als Individuum zu sehen. Um zu akzeptieren, dass nicht alle »Kernland-Inder« – diejenigen von uns, die nicht aus dem Nordosten stammen – Feinde ihres Volkes sind. Und dass zumindest einige von uns sich für den Krieg interessieren, in dem Soldaten meines Landes über drei Jahrzehnte hinweg in Asanglas Heimat und der Heimat anderer Stämme der Region zehntausende Menschen töteten, verstümmelten, vergewaltigten, folterten und physisch und psychisch entstellten. Die meisten Opfer waren Zivilisten, keine bewaffneten Rebellen. (Und hier zähle ich die meines Erachtens sinnlosen Tode mehrerer tausend Polizisten, Paramilitärs und Militärs nicht mit, die fünf Jahrzehnte Naga-Krieg und Rebellion im Nordosten bedeuteten, ganz zu schweigen von verschiedenen Rebellionen im Kernland.)

Asanglas Misstrauen lag in dem Schrecken begründet, den das Indien Jawaharlal Nehrus in ihrem Volk verbreitet hatte, als einige Naga-Führer unter der Leitung von Angami Zapu Phizo einen Volksentscheid von 1951 als Beweis für den Wunsch ihres Volkes nach Unabhängigkeit anführten. Die Nagas würden nicht nachgeben, sagten sie. Seit 1929 kämpften sie für eine eigene Identität und ein eigenes Land. Damals hatte eine Gruppe von Naga-Ältesten bei der Simon-Kommission in London eine offizielle Petition eingereicht, die Naga Hills in Ruhe zu lassen. Sie seien nicht Teil der königlichen Herrschaftsgebiete in Indien. Sie gehörten nicht zu Britisch-Indien und auch nicht zu einem späteren Indien. Sie gehörten den Naga-Stämmen. Und als Nagas würden sie sich glücklich schätzen, in ihrem eigenen Land zu leben, sich selbst überlassen.

Phizo, der zukünftigen Symbolfigur der Rebellenbewegung zufolge, habe damals niemand auf sie gehört. Deshalb böten sie nun den Volksentscheid als zusätzliche Willenserklärung.

Ein verärgerter Premierminister Nehru entsendete Paramilitär und Armee, um die Situation in den Griff zu bekommen. Er wollte sich den Traum von Indien und die politischen Gewinne nicht nehmen lassen, die die indische Führung in mehreren Jahren fieberhafter Diplomatie erreicht hatte.

In Strangers of the Mist: Tales of War and Peace from Indias Northeast, einem erfrischend eigensinnigen und informativen Buch von Sanjoy Hazarika, einem Freund aus unserer Zeit als Journalisten bei einer amerikanischen Zeitung, erfuhr ich das erste Mal mehr über dieses Thema. (Das Buch wurde 1995 veröffentlicht. Fast zwanzig Jahre später ist der Einband meines Exemplars verblasst, aber der Titel passt noch immer. Die Menschen und Vorstellungen des von Sanjoy beschriebenen nordöstlichen Indiens sind dem Großteil Indiens und dem Rest der Welt weiterhin fremd.)

In Strangers las ich auch einen Auszug aus dem Chaliha-Report, einem Teil der Bishnuram-Medhi-Papers. Sanjoy hatte in der Bibliothek des Nehru-Memorial-Museums in Neu Delhi Zugriff darauf erhalten. Mitte September 1953 schrieb Bimala Prasad Chaliha, Präsident des Komitees der Kongresspartei in Assam, für seine Kollegen einen Bericht über bevorstehende Handlungen in den Naga Hills.

»DASS ES KEIN BLUTVERGIESSEN GEBEN SOLL, VERSTEHT SICH«, mahnt der Chaliha-Report in Großbuchstaben. Weiter schreibt Chaliha:

  1. »Dass ein Weg aus der momentan verfahrenen Situation in Nagaland gefunden werden muss.

  2. Dass die Meinungsverschiedenheiten freundschaftlich und friedlich durch Verhandlungen gelöst werden sollen.

  3. Es besteht Einvernehmen, dass Verhandlungen stattfinden, wenn die Kongresspartei sich zu einem Gespräch über die Naga-Unabhängigkeit bereiterklärt …«

Nehru und seine regierende Kongresspartei schlugen einen anderen Weg ein. Mitte Mai 1956, als der Krieg in den Naga Hills in vollem Gange war, schrieb er, so las ich weiter, eine Mitteilung an Assams damaligen Ministerpräsidenten Medhi. Die Mitteilung wurde nach einer Zusammenkunft mit den höchstrangigen Kabinettsministern, Beamten aus dem Außen- und Verteidigungsministerium und dem Oberbefehlshaber der Armee geschrieben. Unter anderem leistete die Mitteilung die Vorarbeit für weitere Maßnahmen, indem sie Themen jenseits des Kernanliegens der Nagas ins Feld führte: »Es geht hier um viel mehr als um eine bloße militärische Herangehensweise«, schrieb Nehru. »Die Aufstände und Revolten der Nagas haben für uns auch auf internationaler Ebene Bedeutung. Sie spielen unseren Gegnern in die Hände. Vor allem zieht natürlich Pakistan seinen Vorteil daraus.«

Chinas großer Auftritt in der subkontinentalen Partie stand noch bevor – erst in einigen Jahren würde Maos Imperium den Naga-Rebellen Training und logistische Unterstützung anbieten. Aber die Nähe Ostpakistans – heute Bangladesch – und die bloße Vorstellung, Indiens Erzfeind könnte einer der Rebellen-Schulen Unterschlupf und Materiallieferungen gewähren, reichten Nehru aus, um eine harte Haltung gegenüber den Nagas einzunehmen. So wurde die Vorlage für zukünftige Maßnahmen seiner und folgender Regierungen geliefert, weit über übliche Gefechtsnormen hinauszugehen und Zivilisten vorsätzlich einzubeziehen – etwas, was das Wörterbuch des Konflikts eiskalt als »Kollateralschaden« bezeichnet.

»Es besteht kein Zweifel, dass bewaffnete Revolte mit Gewalt erwidert und unterdrückt werden muss«, las ich weiter in Nehrus Mitteilung an Ministerpräsident Medhi. »Darüber gibt es keine zweite Meinung, und wir beabsichtigen, die Sache so effizient und effektiv wie möglich anzugehen. Dennoch basiert unsere Grundeinstellung, damals wie heute, auf der Annahme, dass Gewalt an sich keine Lösung sein kann … Das müssen wir umso mehr im Hinterkopf behalten, wenn es um unsere eigenen Landsleute geht, die es zu überzeugen und nicht zu unterdrücken gilt … Momentan scheint jedoch nicht der richtige Zeitpunkt für politische Ansätze zu sein, denn sie könnten als Zeichen von Schwäche interpretiert werden. Trotzdem müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass wir nichts tun sollten, was diesem politischen Ansatz im Weg stünde, und wir sollten verlautbaren lassen, dass wir die Freunde der Nagas sein möchten, sofern sie nicht gegen uns revoltieren.«

Die Idee, mit Krieg zu beginnen und erst dann zur Überzeugungsarbeit überzugehen, hat seit den 1950ern einen weiten Weg zurückgelegt. Nagaland ist seit 1963 ein indischer Bundesstaat – das Ergebnis des »politischen Ansatzes«, Rebellen...


Chakravarti, Sudeep
Sudeep Chakravarti, geboren 1963 in Kalkutta, ist Journalist und Schriftsteller. Er studierte Geschichte in Delhi. Fünfundzwanzig Jahre arbeitete er als Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine. 2004 zog er mit seiner Familie nach Goa, wo er seither Romane und Sachbücher schreibt.

Schein, Reinhold
Reinhold Schein, geboren 1948, studierte Germanistik und Geschichte. Er arbeitete viele Jahre als Deutsch-Lektor an indischen Hochschulen und ist als Übersetzer aus dem Englischen und dem Hindi tätig.



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