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E-Book

E-Book, Deutsch, 350 Seiten

Chambers Swift River

Roman – »Dieses Buch hat mir zuerst das Herz gebrochen – um mir dann Hoffnung zu schenken.« Ann Napolitano
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7517-6458-2
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman – »Dieses Buch hat mir zuerst das Herz gebrochen – um mir dann Hoffnung zu schenken.« Ann Napolitano

E-Book, Deutsch, 350 Seiten

ISBN: 978-3-7517-6458-2
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein generationsübergreifendes Familienepos voller Liebe

Sommer 1987: Die 16-jährige Diamond fühlt sich als Außenseiterin. Ständig wird sie wegen ihres Gewichts gehänselt, zudem ist sie die einzige Schwarze weit und breit und hat mit diversen alltäglichen Rassismen zu kämpfen. Erst recht, seit ihr Vater spurlos verschwunden ist, ein Ereignis, das Anlass ist für allerlei Tratsch im Ort - und Diamond nachhaltig beschäftigt. Doch dann erhält sie Post von einer Unbekannten, und erfährt endlich mehr - über ihren Vater und die eigenen Wurzeln.

Ein berührender, Jahrzehnte umspannender Roman über den Wunsch nach Zugehörigkeit und die komplizierte Beziehung zwischen Vätern und Töchtern. Mit Essie Chambers lernen wir eine beeindruckende neue Autorin kennen!



Essie Chambers hat an der Columbia University einen MFA in Kreativem Schreiben erworben und Stipendien von der MacDowell Colony, dem Vermont Studio Center und von Baldwin for the Arts bekommen. Sie war früher in der Film- und Fernsehbranche aktiv, u.a. als Producerin der Dokumentation DESCENDANT, die 2022 von der Produktionsfirma der Obamas, HIGHER GROUND, und von Netflix herausgebracht wurde. AN DEN UFERN DES SWIFT RIVER ist ihr erster Roman.

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1


1987


Im Sommer nach meinem sechzehnten Geburtstag bin ich so dick, dass ich mein Rad nicht mehr fahren kann. Deshalb sorge ich dafür, dass es geklaut wird.

»Hast du einen neuen Freund?«, ruft Ma, die Klugscheißerin, mit bellendem Raucherhusten-Lachen aus dem Wohnzimmerfenster, als sie sieht, wie ich mit einem Eimer und einem Putzlappen auf dem Boden vor dem Haus liege und mich über mein Fahrrad beuge.

»Willst du das Ding etwa bespringen?«, fragt sie. Ich ignoriere sie, und sie lässt mich in Ruhe und raucht weiter ihre Newport – ein gesichtsloser Schemen hinter dem schmutzigen Fliegengitter. Das ganze Haus sieht aus, als würde es rauchen.

Es ist heiß, und das Fahrrad glüht praktisch, weil es den ganzen Vormittag im Garten herumgelegen hat. Ich beuge mich in dieser Position über das Fahrrad, weil es die einzige ist, in der ich an alle Teile herankomme. Mit einem Lappen wische ich den Straßenschmutz ab, bis die knallrote Farbe des Rahmens zum ersten Mal seit Jahren wieder zum Vorschein kommt. Sie scheint den übrigen Schrott um uns herum zu verhöhnen: skelettierte Gartenstühle, ein kaputter Schieberasenmäher, das Wrack von Pops Wagen in der Einfahrt.

»Steckst du fest?«, ruft Ma und sieht zu, wie ich mich mühsam aufrapple. Mit ihren dummen Witzen stellt sie meine Bereitschaft, ihr zu vergeben, auf eine harte Probe. Vor einer Stunde hat sie mir gestanden, dass sie schon wieder gefeuert wurde, diesmal, weil sie ihrem Chef in der Düngemittelhandlung die Meinung gegeigt hat, als der sich geweigert hat, für einen weiteren Krankheitstag zu bezahlen. Jetzt müssen wir von dem Gehaltsscheck leben, den ich vom Tee Pee Motel bekomme, wo sie früher auch gearbeitet hat, als ich noch klein war. Ich erinnere sie ständig daran, dass wir uns zwischen Strom und Heizung entscheiden müssen, wenn der Winter kommt, aber sie meint, ich soll mir keine Sorgen machen, Erwachsene würden Pläne schmieden, von denen ihre Kinder nicht einmal etwas ahnten. »Ich habe meine Mittel und Wege«, singt sie, in ihrer Kuhle auf der Couch sitzend.

Ma ist die Ausnahme in der langen Reihe von Vorfahren, die ihr Leben lang nur einen Job hatten. Ich bin die Ausnahme in ihrer rein irischen Familie: die erste Schwarze, das Ende der Weißen.

»Hast du was an den Ohren?« Sie lässt nicht locker. Ich beschließe, zwei Tage lang nicht mit ihr zu sprechen.

Während ich auf alle viere komme, huscht ein laserartiger Lichtstrahl über meine Hand und das Gras vor mir. Als ich mich umdrehe, entdecke ich unsere Nachbarin und ihre Freundinnen – dumme Neuntklässlerinnen –, die in knallbunten Badeanzügen im Vorgarten liegen und lachend versuchen, mich mit den Bräunungsreflektoren zu blenden, die sie sich unter das Kinn halten. Sie sind nicht allzu weit entfernt, nur zwei Häuser, aber ihre Gesichter sind vor glänzendem Babyöl und blitzenden Zahnspangen kaum zu erkennen. Ich stelle mir vor, dass ich, wenn ich wollte, zu ihnen rüberspazieren und mein schmutziges Putzwasser über ihre schäbigen Badetücher und blassen, fettglänzenden Körper schütten könnte. Die eine oder andere Ohrfeige verteilen könnte. Aber ich bin nicht wie Pop. Ich kann nicht gegen alles und jeden ankämpfen.

»Danke für unsere gemeinsame Zeit.« Ich berühre den Reifen meines Fahrrads. »Ich hab dich wieder hübsch gemacht. Du bist jetzt frei.«

Später am Nachmittag lehne ich das Rad sanft, wie eine Opfergabe, an einen Laternenpfahl vor dem CVS Health. Ma hat mich in die Drogerie geschickt, um ihren Monatsvorrat an verschreibungspflichtigen Medikamenten abzuholen, was ungefähr fünf Minuten dauert, aber ich treibe mich eine ganze Stunde lang im hinteren Teil des Zeitschriftengangs herum und lese das National Gardening Magazine und Seventeen, bis die Kassiererin mich ermahnt, entweder etwas zu kaufen oder in die Bibliothek zu gehen. Als ich draußen die leere Stelle am Laternenpfahl entdecke, bin ich bestürzt – aber nicht wegen des Fahrrads, sondern wegen des Fahrradkorbs. Ich habe vergessen, die Bänder zu entfernen, die Grandma Sylvia zwischen die Stäbe geflochten hatte – leuchtend rote, blaue und weiße Streifen, die umso lauter im Wind schnurrten, je schneller ich fuhr. Es sind dieselben, die sie mir ins Haar geflochten hat, als ich noch klein war und mir wünschte, meine krausen Locken wären ebenso fedrig wie die der anderen Mädchen. Es macht mich immer noch fertig, dass Ma die Nähutensilien von Grandma weggeworfen hat, als sie gestorben ist. Ma mag kein sentimentales Chaos. Sie sammelt leere Colaflaschen (»die machen sich gut als Vase«), alte Fernsehzeitschriften und einen Müllsack voller Hautlotionen in Reisegröße, die sie im Tee Pee mitgehen lassen hat, als sie dort noch als Zimmermädchen gearbeitet hat. Aber die Habseligkeiten ihrer eigenen Mutter wirft sie weg.

In diesem Moment überkommt mich eine solche Sehnsucht nach Grandma Sylvias Garn, Reißverschlüssen, Knöpfen und Stoffresten, die nach Jergens-Lotion gerochen haben, dass mich ein Gefühl von Schwindel und Schwere erfasst und ich mit meinem ganzen Gewicht – 130 Kilo, als ich mich zuletzt gewogen habe – auf den Gehweg knalle. Kurz überlege ich, auf der menschenleeren Straße Diebstahl! zu rufen, aber dann fällt mir wieder ein, wie es sich angefühlt hat, wenn meine Beine bei jeder Umdrehung der Pedale gegen den Bauch drückten, sodass meine Lunge zusammengepresst wurde und ich kaum noch atmen konnte. Meine drei Bauchspeckrollen sind zu einer solide Einheit verschmolzen. Ich bin unbeweglich geworden. Meine Beine sind wie massive Phantome, die mich durch die Gegend tragen. Ich habe Blutergüsse und schmerzhafte blaue Flecken am ganzen Körper, die von meinen wöchentlichen Stürzen herrühren und mich ständig daran erinnern, dass das Rad mich nicht mehr tragen mag. Wir brauchen einander nicht mehr.

Macht’s gut, Grandmas Bänder.

Von der Drogerie aus – die in einem neuen, hässlichen Ziegelbau am südlichen Ende der Main Street untergebracht ist – sind es zwei Meilen bis zu mir nach Hause. Es steht etwas abseits von der langen Reihe traditioneller Geschäftsfassaden, die noch folgen, mit ihren dicken, trüben Scheiben und kitschigen Schildern, gemalt von irgendjemandes Cousine, deren Hobby Kalligraphie ist. Die Papierfabrik, in der Pop früher gearbeitet hat, befindet sich ganz in der Nähe. Ma und ich wohnen oben im Norden, in einem der gleichförmig aussehenden Häuser, die früher den franko-kanadischen Fabrikarbeitern gehörten. Die Weißen nennen sie »The Quarters«, aber ganz früher haben dort Schwarze gelebt, die die Textilfabrik geführt haben. Sie haben das Viertel »Little Delta« getauft, weil es dreieckig ist und jemanden an seine alte Heimat in den Südstaaten in einem Flussdelta erinnert hat. Alle, bis auf meine Großtante Clara, haben die Stadt verlassen. Und weil sie noch vor meiner Geburt gestorben ist, hatte ich nicht mal Gelegenheit, sie kennenzulernen. Pop hat erzählt, dass sie Hebamme war. Hin und wieder sagt jemand: Deine Grandma hat meinen Dad auf die Welt gebracht! Und ich frage mich dann, warum sie uns nicht anders behandeln, besser behandeln.

Ich rufe Ma nicht an, damit sie mich von der Drogerie abholt. Sie kann nicht Auto fahren, und Taxis sind zu teuer – wir nutzen sie nur im Notfall oder am Zahltag. Wir sind die einzigen in der Stadt, die zu Fuß irgendwo hingehen. Es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel außer den Schulbussen, und die einzigen vernünftigen Gehwege schlängeln sich durch die Meile mit den klobigen Wohnblöcken, die das Stadtzentrum bilden. Manchmal sieht man Homeless Richard, der an der Highway-Auffahrt imaginäre Steine gegen das Auffahrtsschild kickt, als würde er die Grenzen eines Kraftfelds austesten. Seit Beginn der Hirschplage, die wir »Hirsch-o-kalypse« nennen, kann man auch gelegentlich ein paar von den Tieren an einer Straßenecke herumlungern sehen wie gelangweilte Teenager. Ansonsten sind nur wir dort unterwegs, marschieren nacheinander dem Verkehr auf der linken Straßenseite entgegen, wenn es uns nichts ausmacht zu laufen, oder vorgebeugt auf der rechten Seite, wenn wir per Anhalter fahren wollen.

Auf dem Fahrrad scheint der Teil der Stadt zwischen der Main Street und zu Hause nur aus vorbeirauschenden Orten zu bestehen, an denen man schnell vorbeifährt, ohne anzuhalten, sodass all die schlimmen Erinnerungen, die damit verbunden sind, im Luftzug auf meinem Gesicht und dem Hämmern in meiner Brust verschwimmen. Aber jetzt, zu Fuß, geraten sie schrecklich-scharf in den Fokus: Hier ist der Barbershop, in dem man sich geweigert hat, Pops Afro zu stutzen; dort das muffig riechende Kaufhaus, wo sie schale Saltwater-Taffy-Bonbons und Garfield-Figuren verkaufen; und hier das Diner, wo Ma und ich früher am Sonntagabend üppige Abendessen genossen, bis man mich beschuldigte, Trinkgelder von den Tischen geklaut zu haben.

Wenn ich zu Fuß unterwegs bin, starren die Leute mich so entgeistert an, als würde ich lichterloh in Flammen stehen. Sie verdrehen sich in ihren Autos die Hälse um fast hundertachtzig Grad. Verkäufer in Schaufenstern halten bei der Arbeit inne und schauen mich mit ausdrucksloser Miene an, als wäre ich nicht die Mitschülerin ihrer Tochter oder die Kollegin ihrer Freundin, als würden sie mich nicht schon mein ganzes Leben lang kennen. Wenn ich kurz vergesse, was für ein Spektakel ich bin, drehe ich mich um, um zu schauen, wen sie so anstarren. Pop ist früher manchmal abrupt stehengeblieben und hat wortlos zurückgestarrt, bis sie sich irgendwann abgewandt haben. Meist aber hat er sie ignoriert, zumindest bis zu den letzten schlimmen Monaten. Heute...


Jakob, Simone
Simone Jakob lebt und arbeitet in Mülheim an der Ruhr und übersetzt englischsprachige Literatur ins Deutsche, u. a. von David Nicholls, Sefi Atta und Yvonne Adhiambo Owuor.

Chambers, Essie
Essie Chambers hat an der Columbia University einen MFA in Kreativem Schreiben erworben und Stipendien von der MacDowell Colony, dem Vermont Studio Center und von Baldwin for the Arts bekommen. Sie war früher in der Film- und Fernsehbranche aktiv, u.a. als Producerin der Dokumentation DESCENDANT, die 2022 von der Produktionsfirma der Obamas, HIGHER GROUND, und von Netflix herausgebracht wurde. AN DEN UFERN DES SWIFT RIVER ist ihr erster Roman.



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