E-Book, Deutsch, Band 6, 288 Seiten
Reihe: Stark & Bremer
Chaplet Sauberer Abgang
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96215-385-4
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der sechste Fall für Stark & Bremer
E-Book, Deutsch, Band 6, 288 Seiten
Reihe: Stark & Bremer
ISBN: 978-3-96215-385-4
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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3
Der markerschütternde Schrei erwischte ihn unvorbereitet, obwohl er damit hätte rechnen müssen. Will Bastian verdrehte die Augen. Über ihm ging ein Maschinengewehrgewitter dumpfer Einschläge los.
Dann nichts. Stille, sekundenlang.
Ein rhythmisches Geräusch, das langsam schneller wurde, ein lauter Schlag. Quietschendes Gelächter.
»Tor! Tor! Tor!« Ein Fernseher. Ein Radio? Egal – volle Pulle. Kurz vor der Schmerzgrenze etwas leiser. Dann wieder laut.
Er versuchte, ruhig weiterzuatmen. Maximilian und Julian waren aus der Schule zurück. Und – Überraschung! Sie hatten ihre Freunde mitgebracht.
Der Vormittag hatte in sahniger Stille begonnen; er hatte schon gar nicht mehr an die kleinen Pestilenzen gedacht in der Wohnung über ihm. Aber jetzt versetzte sich sein Körper wieder in den Zustand äußerster Wachsamkeit, Puls und Atmung beschleunigten: Er wappnete sich gegen die nächste Lärmattacke. Streß, dachte Will mit einem Anflug von Wehleidigkeit. Begünstigt Herzkrankheiten und frühen Tod.
Er ließ sich in den Sessel fallen, streckte die Beine von sich und ergab sich der nächsten Lärmwelle.Jemand schien direkt über seinem Kopf immer wieder hochzuspringen. Zwei balgten sich, »Du Arsch!« ächzte der eine, »Du Waschlappen!« der andere. Fast gewann er Spaß am munteren Treiben ein Stockwerk über ihm, schließlich war es das letzte Mal, daß er dessen Zeuge war. Ab morgen ging ihn das alles nichts mehr an. Und das wog sogar die Trennung von Vera auf.
Der Gedanke ernüchterte ihn. Er betrachtete das magere Häuflein Bücher, an denen ihm etwas lag, stand auf und räumte eines davon wieder zurück ins Regal. Die anderen packte er in eine Klappkiste und stellte sie vor die Tür seines Arbeitszimmers. Seines ab morgen ehemaligen Arbeitszimmers.
Oben quietschte es rhythmisch, bevor etwas so heftig auf den Boden bumste, daß die Fensterscheibe klirrte. Er blickte zur Zimmerdecke, erwartete, wie so häufig und immer vergebens, abgebröckelten Putz oder gar ein Loch zu sehen. Er war nicht oft oben gewesen, in der Wohnung der Familie Wagner, aber er glaubte sich zu erinnern, daß dem Fernseher gegenüber ein Bettsofa stand. Wahrscheinlich benutzte einer der Jungs es als Trampolin, bevor er hinuntersprang.
Zu Anfang hatte er noch protestiert. Einmal übrigens zu Unrecht, da war es die Party im Stockwerk unter seiner Wohnung gewesen, die ihn beim Arbeiten gestört hatte. Dennoch war er zu den Wagners hochgelaufen, um eine Einstellung der Kampfhandlungen zu erbitten. Er erinnerte sich lebhaft an die Gesichter der beiden Jungs, wie sie brav nebeneinander auf dem Sofa saßen, jeder einen Joystick auf dem Schoß. Mit großen Kinderaugen hatten sie anklagend zu ihm aufgesehen, zu diesem Kinderfeind, der ihnen ihre harmlosen Vergnügen nehmen wollte, vor allem jenes, jeden Tag direkt über seinem Schreibtisch mit drei anderen, ebenfalls vom Zappelphilipp-Syndrom befallenen Freunden möglichst geräuschvoll fernzusehen.
Mutter Wagner zeigte naturgemäß nicht das geringste Verständnis für seine Nöte, die im Sommer begonnen hatten, als er, vom Urlaub mit Vera zurückgekehrt, seinen ehemals so ruhigen Arbeitsplatz in ein Inferno verwandelt fand.
Auch Vera hatte das anders gesehen. »Ja wenn du Totenstille brauchst zum Arbeiten ...«
Totenstille? Er hatte auch die Jahre zuvor jedes Husten und Schnarchen gehört und jeden Anflug eines Ehestreits zwischen Thommy und Doro, den Vorgängern der Familie Wagner. Aber wenigstens waren die beiden rechtzeitig ausgezogen und hatten sich ihr familienfreundliches Reihenhäuschen gesucht, bevor die ersten Babyschreie ertönten. Das nannte man Rücksichtnahme.
Will ging hinüber ins Wohnzimmer, stellte sich vor die gemeinsame CD-Sammlung und überlegte, auf welche Scheibe er unter keinen Umständen verzichten wollte. Es gab nicht viele davon. Alles war eingetrübt durch die sechs Jahre mit Vera: Queen, »We will rock you« – das hatte er immer aufgelegt, wenn er dem Krach von oben etwas entgegensetzen wollte. Andrea Bocelli – um Himmels willen, das war nicht sein Ding, sondern Veras, aber sie hatten immer so traumhaft schön gevögelt dabei. Tom Waits – ja, das schon eher. Das war Musik, die Vera nicht mochte. Er zog die CD aus dem Regal und legte sie neben »Queen« in die Bücherkiste.
Und plötzlich war alles ganz einfach. Heute morgen noch hatte er Bilanz gezogen, hatte Vera in Gedanken vorgerechnet, was er vor sechs Jahren in ihren gemeinsamen Haushalt eingebracht hatte und worauf er deshalb einen knüppelharten Anspruch besaß. Und jetzt hätte er ihr am liebsten alles dagelassen, all den Ballast, der sich in einem Menschenleben so ansammelt. Nur der Schreibtischsessel mußte mit. Und, blöderweise, die Steuerunterlagen.
Jetzt hörte er schwere Schritte über sich. Annette Wagner hatte ihren mächtigen Körper in Bewegung gesetzt und ging durch den Flur hinüber ins Zimmer ihrer Sprößlinge. Er hörte sie keifen.
Sie wußte noch nichts von ihrem Glück: ab heute Rücksichtnahme nicht mehr nötig! Noch glaubte sie offenbar, Max und Julian alle zwei Stunden anbrüllen zu müssen, um sich nicht nachsagen zu lassen, sie sorge nicht für Zucht und Ordnung. Will schüttelte sich beim Gedanken an ihr flaches Gesicht und an ihre kleinen dicken Hände. Sie wollte einfach nicht begreifen, daß er nicht kinderfeindlich war, sondern daß sie und er gemeinsam an etwas Drittem litten: an der schlechten Bausubstanz, Annette, kapier das doch endlich!
Das Wohnhaus stammte aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts und hatte im Zweiten Weltkrieg eine Brandbombe abgekriegt. Die beiden obersten Stockwerke waren nach dem Krieg auf billigste Weise und mit geringerer Dekkenhöhe wiederaufgebaut worden – das Problem, das daraus folgte, war weit verbreitet und hieß Hellhörigkeit. Man hörte nicht nur jedes Wort von oben, sondern auch von unten. »Ich kann dir alle deine Telefongespräche nacherzählen«, hatte Annette gezischt. Eben! Aber Annette brachte, wie die meisten Frauen, Ursache und Wirkung durcheinander.
Wie Vera. »Erzähl mir bloß wieder, daß du kein Kinderfeind bist!« hatte sie eines Tages gesagt, als sie später als üblich aus dem Büro zurückkam und er sich bei ihr beklagte über den verdorbenen Arbeitstag. Es war in der Adventszeit gewesen, Annette hatte seit dem frühen Morgen direkt über seinem Kopf Weihnachtsmusik abgedudelt, während er an einem gefühlvollen Artikel über einen während der Nazizeit verfemten Frankfurter Architekten saß. Stille Nacht und Schneeflöckchen bis zum Abwinken. Es war grausam gewesen. Und dann kam Vera auch noch mit dem Superüberbeziehungskonflikt, von dem er gehofft hatte, er hätte sich durch Beschweigen von selbst erledigt.
Will stellte die DVD-Kassette mit »Der Herr der Ringe« wieder zurück ins Regal. Über ihm klatschte die Wagner-Brut rhythmisch in die Hände und rief etwas. Hörte sich glatt an wie »Raus raus raus aus diesem Haus«. Kinder an die Macht, dachte Will. Eine blödere Parole hatte er noch nie gehört.
Wenn er wenigstens noch festangestellt wäre. Die liebe Annette hatte den Finger gleich in die richtige Wunde gelegt: »Warum mußt du überhaupt zu Hause arbeiten? Andere Leute gehen tags doch auch ins Büro!« Na klar. Das hatte er ja getan, jahrelang. Es sei denn, es gab einen Text zu schreiben, für den man ein bißchen häusliche Ruhe brauchte. Aber mittlerweile war seine Zeitung von einem Organ der Meinungsführerschaft zu einer Art Sozialprojekt zurückgeschrumpft, in dem alle gemeinsam weniger arbeiteten und verdienten, in der Hoffnung, das würde die Geschäftsleitung von Kündigungen abhalten. Hatte es natürlich nicht. Ihm mußte man nicht groß nahelegen, was er längst ahnte. Bevor er an die Reihe gekommen wäre, ging er freiwillig.
»Aber du hättest doch Arbeitslosengeld gekriegt!« Vera wollte nicht verstehen, daß er genau das vermeiden wollte. Er war ja nicht arbeitslos. Er hatte nur – na ja: den Aggregatzustand geändert. Nannte sich eben freier Journalist jetzt, ganz einfach.
Das schlimmste war Annettes Lächeln, als er ihr mitteilte, er würde jetzt noch öfter als früher zu Hause arbeiten. Genauer gesagt: jeden Tag. Auch am Wochenende. In ihren Augen las er Verachtung für den Versager, der seine Frau arbeiten schickte und die Kinder anderer Leute terrorisierte-die Kinder, die später für seine Rente aufzukommen hatten!-sagte Annette und schürzte vorwurfsvoll die Lippen.
»Woher weißt du das?« hatte er zurückgefragt. »Kinder, die so oft fernsehen, kriegen später Sozialhilfe, für die wir zu zahlen haben.«
Sie hatte noch spitzer gelächelt, und dann ganz leise »Wo-von denn?« gesagt.
Gute Frage. Vera sah das offenbar ähnlich, jedenfalls behandelte sie ihn so, als ob er zu Hause säße, nichts Vernünftiges zu tun habe und nur darauf warte, daß sie ihm kleine Aufträge gab: Hol doch mal für mich die Bluse aus der Reinigung. Kannst du heute einkaufen? Was kochst du morgen? Er nahm Päckchen entgegen, er beantwortete Anrufe schöner als jeder Automat. Er putzte, er kochte, er machte den Hausmann. Und dann schnappte die Falle zu. »Wo du doch eh zu Hause bist, könnten wir da nicht auch ...«
Will ging hinüber in die Küche. Über ihm lachte es schrill. Die Wagner hatte Freundinnen zu Besuch, das erklärte das massenhafte Auftreten der Kids. Kaffeeklatsch mit viel Kuchen. »Aber bitte mit Sahne.« Und dann wunderte sie sich, daß ihre beiden Jungs schon jetzt so übergewichtig waren wie die Mutter. Die Damen oben lachten wieder, sehr entspannt. So ein Kaffeeklatsch konnte dauern, die Kinder waren ja vorm Fernseher geparkt. »Video killed the radio star«, dachte er und fühlte sich plötzlich steinalt.
Die Küche war sein Revier gewesen. Er hatte für...




