Clemens | Kinderlachen - Folge 033 | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 33, 64 Seiten

Reihe: Kinderlachen

Clemens Kinderlachen - Folge 033

Kein Platz für Bastian
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7325-4609-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Kein Platz für Bastian

E-Book, Deutsch, Band 33, 64 Seiten

Reihe: Kinderlachen

ISBN: 978-3-7325-4609-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Es ist Freitagabend, als Dorothea den kleinen weinenden Jungen neben der Mülltonne entdeckt - schmutzig, ausgemergelt und total durchgefroren. Heiße Tränen rinnen unentwegt über die blassen Wangen, aber niemand ist da, der das Kind tröstet und wärmt.

'Kleiner Mann, du erfrierst ja noch!' Behutsam tastet die junge Frau nach den eiskalten Kinderhändchen. 'Was machst du denn hier so allein? Wo ist deine Mami?'

Schweigen. Doch das starre Gesicht des kleinen Jungen sagt viel mehr, als Worte ausdrücken könnten: Es gibt keine Mami, es gibt niemanden, der mich liebhat ...

Clemens Kinderlachen - Folge 033 jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Nur beim Erwachen, frühmorgens zwischen sechs und halb sieben, da fehlte Philipp ihr manchmal ein wenig, genau dann, wenn Dorothea noch seufzte und blinzelte und den neuen Tag absolut nicht annehmen wollte.

Ganz automatisch griff sie auch an diesem Freitag Ende Februar auf die andere Seite des französischen Bettes, ertastete einen Zipfel des Kopfkissens und wunderte sich, dass es sich nicht kuschelig, zerknittert und schlafwarm anfühlte, sondern kühl, glatt und unbenutzt.

»Hey, wach auf, Phil!«, wollte sie murmeln.

Doch in diesem Augenblick fiel es ihr ein: Philipp Petermann schlief nicht mehr links von ihr; er hatte sich auch nicht auf ihre angestammte Bettseite geschmuggelt oder krümelte sich wie ein verirrter junger Waschbär am Fußende zusammen.

Nein, Philipp war fort. Sie hatten sich getrennt.

Eine Katastrophe war das allerdings keinesfalls, denn Dorothea hatte diese Trennung gewünscht, vielleicht sogar herbeigesehnt, und war jetzt durchaus bereit, die wenigen klitzekleinen Nachteile einer zerbrochenen Liebe tapfer zu tragen.

»Oh Mann!«, brummelte sie deshalb, gähnte laut, streckte sich und führte wie immer gedankliche Zwiesprache mit dem spießigsten aller spießigen jungen Männer.

»Begreif doch, Phil, das ist nichts für mich: Heiraten, Kinderkriegen, Häuschen bauen. Ich krieg Beklemmungen, wenn ich nur daran denke! So eine kleine, überschaubare Welt mag für dich und viele andere genau das Richtige sein. Aber für mich …?«

Er antwortete nicht, natürlich nicht. Philipp lebte seit sieben Wochen, drei Tagen und genau neunzehn Stunden in einer unmöglichen Behausung über einer Autowerkstatt, und wahrscheinlich beflügelte der Geruch von Schmieröl und Benzin seine althergebrachten Ansichten.

Na ja. Okay. Gut so.

Dorothea gähnte noch einmal, sprang aus dem Bett, öffnete das Schlafzimmerfenster und betrachtete die stille, von einer dünnen Schneedecke bedeckte Innenstadtstraße. Dortmund war nicht Paris, schon gar nicht New York. Dortmund war Ruhrpott, und wer dem rußigen Charme nichts abgewinnen konnte, der sollte besser fortgehen.

Doro gefiel es hier, auch, wenn sie manchmal von einer Insel im Pazifik träumte, auf der es nichts gab außer Palmen und heißem Wind, einer Bambushütte und attraktiven Eingeborenen, die nie an goldene Eheringe dachten.

Andererseits: Ob das etwas für sie war … im Bananenröckchen Hula-Hula zu tanzen? Wahrscheinlich nicht. Sie gehörte hierher wie die Ruhrkohle, wie westfälischer Schinken und das Altbier, das in den kleinen Eckkneipen Dortmunds so billig war wie nirgendwo sonst auf der Welt.

Sie duschte heiß, sie duschte kalt, gurgelte und stöhnte dabei. Das geräumige Bad ihrer großen Dreizimmerwohnung, einst von Tante Hedwig samt Inventar geerbt, glich mit seinen flammend rot lackierten Wänden, den altmodischen, aber immerhin vergoldeten Armaturen und einer abenteuerlich-kitschigen Kuckucksuhr eher einem Raritätenkabinett.

Wer aalte sich heutzutage denn schon noch in einer Doppelwanne aus der Jahrhundertwende, die auf goldenen Klauenfüßen stand … und sah dabei über Palmen hinweg auf eine Reihe Ahnen in geputzten Goldrahmen, die sich durch strenge Gesichter, düstere Kleidung und Missmut in den Mundwinkeln auszeichneten? Niemand. Oder?

Wer schlief schon in einem Bett mit überdimensionalem Haupt aus Ebenholz, das allerdings von einer Malwütigen irgendwann violett und pink angepinselt worden war? Und wer besaß anstatt »vernünftiger« Sessel bloß lauter Chaiselongues und ein Recamier, auf dem Marie-Antoinette einst ihre zerbrechliche Taille gebettet hatte?

Niemand außer ihr. Nur Dorothea Christine Arabella, kurz Doro genannt, stammte aus einer Familie sammelwütiger Verrückter, die ihren Lieben eher trocken Brot vorgesetzt hatten, als auf eine Spieluhr zu verzichten. Leider hatten die von Kleinitz bis zur Zeit der Französischen Revolution auch Kinder gesammelt, kleine Tunichtgute und große Trunkenbolde, die dem Familienwappen Schande bereiteten. Später zog es sie in missionarischem Eifer zu den Papuas nach New Guinea. Die Babys tröpfelten nur noch und blieben schließlich ganz aus.

Doro seufzte, wie immer, wenn sie an ihre sonderbaren Urväter dachte, die entweder streng und hölzern oder bigott gewesen waren oder schräge Galgenvögel.

Sie war die Letzte der von Kleinitz’ … und würde es auch bleiben. Die Familientradition befahl ihr, all die herrlichen Geschichten von anno dazumal weiterzuerzählen. Bei Partys machten sich solche Geschichten einfach wunderbar, und sie hätte Philipp Petermann sicher nicht so schnell bezaubert ohne die Anekdoten von Stanislaus, ihrem Urgroßvater.

Wieso fiel ihr Phil eigentlich schon wieder ein?

Die Kaffeemaschine in der altmodischen Küche gurgelte, und Frau Messner, die vierundachtzigjährige Lehrerin in der Wohnung über ihr, intonierte bereits zum fünften Male ein Sonett auf ihrem Klavier.

Doros Terminkalender für den heutigen Tag wies zwölf Termine auf, am Wochenende würden es weitaus mehr sein. Zwölf Interviews also – das hörte sich großartig an. Leute, die Dorothea nicht kannten, hätten jetzt vielleicht gedacht, sie wäre eine erfolgreiche Journalistin – ein Beruf, mit dem Doro durchaus liebäugelte. In Wirklichkeit war sie eine … nicht besonders ehrgeizige Sekretärin, nahm gerade ihren aufgesparten Urlaub vor dem nächsten, weitaus interessanteren Job und finite die drei Wochen, indem sie für ein Marktforschungsinstitut Befragungen anstellte.

Diesmal war der Auftraggeber die Stadt Dortmund höchstpersönlich, aber das verriet Doro ihren Interviewpartnern meist gar nicht, denn die Leute waren im Moment ohnehin zornig auf alle Politiker. Besser, man verdarb es sich nicht mit Leuten, die deutliche Aggressionen zeigten, sonst war das ohnehin jämmerliche Honorar noch ganz futsch.

Die EUTEBA hatte Doro begeistert für diesen Nebenjob eingestellt.

»Eine bildhübsche junge Person«, hatte der Chef des Marktforschungsinstitutes hinter vorgehaltener Hand zu seinem Mitarbeiter gesagt. Und: »Glauben Sie, dass ihr Blond echt ist?«

Es war echt. Doros lange Wuschelmähne brauchte keinen Friseur. War die gerade Einunddreißigjährige schlecht gelaunt, säbelte sie es mit der Nagelschere selbst ab. Ansonsten durfte es wachsen, wie es wollte … und genau das stand ihr gut.

Das ovale, fast zu schmale Gesicht, die funkelnden, fast zu groß wirkenden blaugrünen Augen, der Mund, der immerzu lachte und sich gern über andere lustig machte, die Figur, die zart wirkte, aber durchaus Formen aufwies – doch, Dorothea war recht zufrieden mit sich.

»Klasse Zeugnisse«, hatte der EUTEBA-Chef vor sich hingemurmelt. »Wollen Sie Ihre Fähigkeiten nicht ganz in die Dienste unseres Institutes stellen?«

Nein, danke! Bei knapp fünfundzwanzig Euro Honorar pro Interview müsste Doro auf ihr Traumauto, ihre Traumuhr und ihre Traumreise ja hundert Jahre warten. Sie wollte aber nicht warten!

Ihr schmaler Kleiderschrank barg nicht allzu viele Möglichkeiten, zwei Kleider, ein Hosenanzug, zwei schicke Mäntel und ansonsten all die überweiten, formlosen, bunten Sachen, in denen sie es sich gern gemütlich machte. Ein Glas Wein dazu, Klassik oder Popmusik und eine Zeitschrift, die ihre Träume wachhielt -genau das brauchte sie. Nicht mehr, aber auch keinesfalls weniger.

Es war sieben Uhr. Doro schlüpfte in den molligen Wintermantel. »Dein Fiffi«, nannte Phil ihn.

Wieso eigentlich Phil? Es war schon komisch, dass ihr der junge Gymnasiallehrer – Erdkunde, Geschichte, Deutsch … brrr – immer wieder einfiel. Philipp war ein modischer Niemand, und seine Träume richteten sich auf einen Sieg seines Lieblingsvereins in der Bundesliga. Ansonsten war er mit vier Tagen Camping im Harz durchaus zufrieden.

»Aus ihm wird nie etwas«, brummte Doro.

Sie malte sich im Vorübergehen noch einen Kirschmund, spitzte die Lippen, machte ein schmatzendes Geräusch und schnappte ihren Aktenkoffer mit all den Formularen.

»Was ist Ihre Meinung von den Politikern der großen Parteien?«, hieß es dort zum Beispiel. Manchmal gab es drei, oft aber auch vier, fünf Möglichkeiten der Antwort.

»Die taugen alle nichts!« Oder: »Na ja, ich weiß nicht!« Oder auch: »Ich finde alle Politiker gut!« Oder: »Wenn ich so viel Geld verdienen würde, leistete ich weitaus mehr!«

Ihr Auto war eingeschneit und mochte nicht gleich anspringen. Später rutschte es nur so über den Asphalt. Während der Fahrt verglich Doro noch einmal die Adressen und änderte ihre Route. Die letzten Interviews waren eilig. Spätestens am Mittwoch musste sie alle Gespräche abgehakt haben, und bis zum Montag darauf besaß die Stadt Dortmund dann eine repräsentative Auswertung und wusste, wie die Meinung des Volkes zum heimlich geplanten Abriss einer alten Zechensiedlung war.

Volkes Meinung war für Dorothea von vornherein klar. Die Leute lebten billig in ihren Häuschen; sie pflanzten die Mini-Gärtchen und schwatzten mit den Nachbarn. Ein Abriss dieser Vorstadt-Idylle würde steigende Grundstückspreise bedeuten, und schöner würde die Umgebung durch zwei, drei fantasielose Billig-Bauwerke auch nicht.

Sie brauchte fast eine Stunde zur ersten Adresse. Eine Hausfrau und Mutter war die Auserwählte. Sie empfing Doro im Bademantel. Die Küche sah aus wie nach einem Bombenhagel.

»Was halten Sie von den letzten Preiserhöhungen?«

Frau Griesdorf hielt nichts davon.

»Was würden Sie...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.