E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Couto Imani
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-293-30957-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. Der Imani-Zyklus (1)
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-293-30957-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mia Couto, geboren 1955 als Sohn portugiesischer Einwanderer in Beira, Mosambik, gehört zu den herausragenden Schriftstellern des portugiesischsprachigen Afrika. Mehrere Jahre war er als Journalist und Chefredakteur der Zeitungen Tempo und Notícias de Maputo tätig. Seit 1983 veröffentlicht er Romane, Erzählungen und Gedichte. Für sein Werk wurde Couto mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2013 mit dem Prémio Camões, 2014 mit dem renommierten Neustadt-Literaturpreis und 2020 mit dem Jan-Michalski-Preis. Mia Couto lebt in Maputo.
Weitere Infos & Material
Ausgegrabene Gestirne
Sagt die Mutter: Das Leben gestaltet sich wie ein Seil. Man muss so lange flechten, bis man die Fäden nicht mehr von den Fingern unterscheidet.
Jeden Morgen gingen über der Ebene von Inharrime sieben Sonnen auf. Damals war das Firmament wesentlich größer, alle Gestirne hatten darin Platz, die lebenden und die schon gestorbenen. So nackt, wie sie geschlafen hatte, ging unsere Mutter mit einem Korbsieb in der Hand aus dem Haus. Sie wollte für den Tag die schönste Sonne aussuchen. Die anderen sechs Sonnen sammelte sie in dem Sieb, nahm sie mit ins Dorf und begrub sie beim Termitenhügel hinter unserem Haus. Das war unser Friedhof für himmlische Geschöpfe. Eines Tages würden wir, falls wir sie brauchten, Sterne ausgraben können. Dank diesem Schatz waren wir nicht arm. Das sagte unsere Mutter, Chikazi Makwakwa. Oder einfach mame, in unserer Muttersprache.
Wer uns besuchte, konnte einen weiteren Grund dafür erfahren, dass wir dies glaubten. Denn beim Termitenhügel wurde auch die Plazenta der Neugeborenen vergraben. Über dem Termitenhügel war ein Mahagonibaum gewachsen. An seinem Stamm banden wir weiße Tücher fest. Dort sprachen wir zu unseren Toten.
Der Termitenhügel war jedoch keineswegs ein Friedhof. Er war der Hüter des Regens, in ihm lebte unsere Ewigkeit.
Einmal, nachdem der Morgen bereits gesiebt war, trat ein Stiefel auf die Sonne, genau jene Sonne, die unsere Mutter ausgesucht hatte. Es war ein Soldatenstiefel, wie die Portugiesen sie trugen. Doch dieser Stiefel saß am Fuß eines Nguni-Soldaten. Der Soldat kam auf Befehl des Herrschers Ngungunyane.
Die Herrscher haben Hunger auf Land, und ihre Soldaten sind Mäuler, die das Land verschlingen. Dieser Stiefel zertrat die Sonne in tausend Scherben. Und der helle Tag wurde dunkel. Alle anderen Tage auch. Die sieben Sonnen starben unter den Soldatenstiefeln. Unser Land wurde aufgefressen. Ohne Sterne als Nahrung für unsere Träume lernten wir, arm zu sein. Und wir gingen der Ewigkeit verloren. Wissend, dass Ewigkeit nur ein anderes Wort für das Leben ist.
Ich heiße Imani. Dieser Name, den sie mir gegeben haben, ist kein Name. In meiner Muttersprache bedeutet Imani so viel wie Wer ist da?. Man klopft an eine Tür, und von drinnen fragt jemand: »Imani?«
Ja, diese Frage habe ich als Namen bekommen. Als wäre ich ein Geist ohne Körper, das ewige Warten auf eine Antwort.
In Nkokolani, unserem Dorf, heißt es, der Name eines Neugeborenen kommt von einem Flüstern, das man vor seiner Geburt hört. Im Mutterleib entsteht nicht nur ein neuer Körper. Es formt sich auch die Seele, der moya. Noch im Halbdunkel des Bauches entwickelt sich dieser moya aus den Stimmen der schon Verstorbenen. Einer der Vorfahren bittet das neue Lebewesen, seinen Namen anzunehmen. In meinem Fall wurde mir Layeluane, der Name von meiner Großmutter väterlicherseits, eingeflüstert.
Wie es die Tradition verlangt, befragte unser Vater einen Zauberkundigen. Er wollte wissen, ob wir den Willen des Geistes richtig verstanden hatten. Es geschah, was er nicht erwartet hatte: Der Seher bestätigte die Rechtmäßigkeit der Namensgebung nicht. Es musste ein zweiter Wahrsager befragt werden. Dieser versicherte ihm freundlich und gegen Zahlung eines Pfunds Sterling, dass alles seine Ordnung habe. Dennoch, da ich in den ersten Monaten meines Lebens ohne Unterlass weinte, kam die Familie zu dem Schluss, dass man mir den falschen Namen gegeben hatte. Man befragte Tante Rosi, die Seherin der Familie. Nachdem sie die Wahrsagerknochen geworfen hatte, verkündete unsere Tante: »Nicht ihr Name ist falsch, ihr Leben muss auf den richtigen Weg gebracht werden.«
Vater hielt sich aus meiner Erziehung heraus. Meine Mutter sollte sich um mich kümmern. Was sie dann auch tat, als sie mich »Cinza« nannte, »Asche«. Warum sie mir diesen Namen gab, verstand niemand, aber es blieb auch nicht lange dabei. Nachdem meine Schwestern in den großen Überschwemmungen umgekommen waren, wurde ich »die Lebende« genannt. So sprachen sie von mir, als wäre die Tatsache, dass ich überlebt hatte, das einzig Besondere an mir. Unsere Eltern schickten meine Brüder immer auf die Suche nach »der Lebenden«. Es war kein Name. Es war ihre Art, nicht zu sagen, dass die anderen Töchter tot waren.
Der Rest der Geschichte ist noch eigenartiger. Irgendwann überdachte mein Vater die ganze Sache und sprach ein Machtwort. Ich sollte einen Namen bekommen, der überhaupt kein Name ist: Imani. Endlich herrschte wieder Ordnung in der Welt. Einen Namen verleihen heißt Macht ausüben, es ist die erste und endgültige Inbesitzname eines fremden Territoriums. Mein Vater, der so sehr gegen die Herrschaft der anderen protestierte, benahm sich erneut wie ein kleiner Herrscher.
Ich weiß nicht, warum ich mich so lange mit diesen Erklärungen aufhalte. Denn ich bin nicht dafür geboren, eine Person zu sein. Ich bin eine Rasse, ein Volk, ein Geschlecht, ich bin alles, was mich daran hindert, ich selbst zu sein. Ich bin schwarz, ich bin von den VaChopi, einem kleinen Volk an der Küste von Mosambik. Meine Leute haben es gewagt, sich den eindringenden VaNguni zu widersetzen, diesen Kriegern, die aus dem Süden gekommen sind und sich breitgemacht haben, als wären sie die Herren des Universums. In Nkokolani sagt man, die Welt ist so groß, dass darin für einen einzigen Herrn kein Platz ist.
Um unsere Heimat aber stritten sich zwei angebliche Besitzer: die VaNguni und die Portugiesen. Sie hassten sich so sehr und führten Krieg gegeneinander, weil sie sich in ihren Absichten so sehr ähnelten. Das Heer der VaNguni war wesentlich größer und mächtiger. Viel stärker waren auch seine Geister, die auf beiden Seiten der Grenze herrschten, die unser Land in der Mitte zerschnitt. Auf der einen Seite das Gaza-Reich unter dem Führer der VaNguni, dem Herrscher Ngungunyane. Auf der anderen Seite die Ländereien der Krone, wo ein Monarch regierte, den kein Afrikaner jemals zu Gesicht bekommen sollte: Dom Carlos I., König von Portugal.
Die anderen Völker, unsere Nachbarn, hatten die Sprache und Sitten der schwarzen Invasoren aus dem Süden übernommen. Wir, die VaChopi, zählen zu den wenigen, die auf dem Gebiet der Krone leben und sich mit den Portugiesen gegen das Gaza-Reich verbündeten. Wir sind wenige, geschützt durch den Wall unseres Stolzes und die kokholos, die Palisaden, die wir um unsere Dörfer bauen. Durch diesen Schutz war unser Dorf so klein geworden, dass sogar die Steine einen Namen trugen. In Nkokolani tranken wir alle aus demselben Brunnen, ein einziger Tropfen Gift hätte genügt, um das ganze Dorf zu töten.
Unzählige Male wurden wir von den Schreien unserer Mutter geweckt. Schreiend wankte sie wie eine Schlafwandlerin durch das Haus. In ihren nächtlichen Wahnvorstellungen führte sie die Familie auf einer endlosen Reise, überwand Sümpfe, Wasserläufe und Schimären. Und kehrte in unser früheres Dorf am Meer zurück, wo wir zur Welt gekommen waren.
In Nkokolani gibt es ein Sprichwort: Willst du einen Ort kennenlernen, sprich mit den Abwesenden; willst du einen Menschen kennenlernen, frag ihn nach seinen Träumen. Der einzige Traum unserer Mutter war, dorthin zurückzukehren, wo wir glücklich gewesen waren und in Frieden gelebt hatten. Ihre Sehnsucht kannte keine Grenzen. Gibt es überhaupt eine Sehnsucht, die nicht grenzenlos ist?
Meine Wahnvorstellung ist ganz anders. Ich schreie nicht und schlafwandle auch nicht durch das Haus. Aber es vergeht keine Nacht, in der ich nicht träume, Mutter zu werden. Heute habe ich wieder geträumt, ich sei schwanger. Die Wölbung meines Bauches wetteiferte mit der Rundung des Mondes. Doch was dieses Mal geschah, war die Umkehrung einer Entbindung: Mein Kind trieb mich aus. Vielleicht ist es dies, was die Kinder bei der Geburt tun – sie befreien sich von der Mutter, trennen sich ab von dem unterschiedslosen, einheitlichen Körper. Denn mein geträumtes Kind, dieses gesichts- und namenlose Geschöpf, befreite sich in heftigen und schmerzhaften Krämpfen von mir. Ich wachte schweißgebadet und mit furchtbaren Schmerzen in den Beinen und im Rücken auf.
Dann begriff ich. Es war kein Traum. Es war ein Besuch meiner Vorfahren. Mit einer Botschaft – sie machten mich darauf aufmerksam, dass ich mit meinen fünfzehn Jahren längst Mutter sein müsste. Alle Mädchen meines Alters in Nkokolani waren schon schwanger geworden. Nur mir war anscheinend Fruchtlosigkeit bestimmt. Ich war also nicht nur eine Frau ohne Namen. Ich war auch ein Name ohne Mensch. Eine Hülse. Leer wie mein Leib.
Wenn in unserer Familie ein Kind geboren wird, schließen wir die Fenster nicht. Das ist das Gegenteil von dem, was das übrige Dorf macht. Selbst in der größten Hitze wickeln die anderen Mütter ihre Babys in dicke Tücher und sperren sich im dunklen Zimmer ein. Nicht so bei uns, Türen und Fenster bleiben weit geöffnet, bis das Neugeborene zum ersten Mal gebadet wird. Indem man es so brutal allem aussetzt, wird das Kind letztlich geschützt, denn es wird von Lichtern, Klängen und Schatten durchdrungen. So ist es seit Anbeginn der Zeit. Nur das Leben schützt uns vor dem Leben.
An jenem Januarmorgen im Jahr 1895 weckten die Fenster, die ich offen gelassen hatte, den Eindruck, ein Kind sei geboren. Zum wiederholten Male hatte ich geträumt, ich sei Mutter, und das ganze Haus rieche nach einem Neugeborenen....




