Demand / Knörer | MERKUR  5/2023 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Reihe: MERKUR

Demand / Knörer MERKUR 5/2023

Nr. 888, Heft 5, Mai 2023

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Reihe: MERKUR

ISBN: 978-3-608-12172-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Susan Neiman widerspricht in ihrem Porträt des Charismatikers Jacob Taubes, das auf eigenem Erleben beruht, manch negativer Einschätzung seines Biografen Jerry Z. Muller. Wie weit die heute so sichtbaren Bruchlinien innerhalb der Linkspartei zurückreichen, kann Thomas Holzhauser in seinen Überlegungen zum "linkskonservativen Populismus" anschaulich machen. Viele Funde hat Thomas Etzemüller bei seinen Lektüren des und zum Kursbuch(s) der Deutschen Bahn gemacht.
 
Der Abgesang gehört zum Pop, stellt Jens-Christian Rabe in seiner ersten Pop-Kolumne fest. Anhand neuerer Erinnerungsbücher von Edgar Reitz, Margarethe von Trotta sowie Erika und Ulrich Gregor versucht Ekkehard Knörer nachzuvollziehen, wie Papas Nachkriegskino zum Neuen Deutschen Film werden konnte. 
 
Über Generativität, also die Bedeutung von Geburt und Gebären, ist in der Geschichte der Philosophie, wie Tatjana Noemi Tömmel zeigt, bislang viel zu wenig nachgedacht worden. Volker Hage erinnert sich an den Sommer, in dem John F. Kennedy Deutschland besuchte. Eine Art Collage der (vor allem bösen) Dinge, die über Joe Biden gesagt worden sind, hat Wolfgang Fach unter der Überschrift "Kritik und Krawall" zusammengestellt. Richard Schuberth erklärt, warum das prominente Denkmal des prominenten Wiener Bürgermeisters Karl Lueger abgeräumt werden sollte. In David Gugerlis Schlusskolumne geht es um Entschlüsselung, Alan Turing und Computergeschichte.
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Beiträge DOI 10.21706/mr-77-5-5 Susan Neiman Tiefe Eindrücke
Zu Jerry Z. Mullers Jacob-Taubes-Biografie Charisma ist, ähnlich wie Pornografie, leicht zu erkennen, aber schwer zu definieren. Der (hier verkürzt zitierte) Definitionsversuch von Max Weber grenzt an eine Tautologie: »›Charisma‹ soll eine als außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen Kräften oder Eigenschaften begabt gewertet wird.« Die Sozialwissenschaft kam auch später nicht viel weiter – obwohl Karriere-Coaches und Berater von Managern immer noch versuchen, Charisma auf Aspekte herunterzubrechen, die man sich aneignen könnte. Charisma entzieht sich jeder Erklärung. Es ist eine Eigenschaft, die wir an anderen Menschen sofort bemerken, aber selten an uns selbst. Es ist weder eine Frage von Intelligenz (obwohl Gewitztheit sicherlich förderlich ist) noch von Kompetenz (die einem charismatischen Auftreten oft eher hinderlich ist). Charisma ist wesentlich erotisch, aber nicht unbedingt sexuell. Das Rätsel um Charisma veranlasste die frühen Griechen, es als eine Gabe der Götter zu betrachten: Charisma sei etwas, das man nicht kultivieren kann, sondern eher verliehen bekommt. Beschreibungen von Charisma greifen unweigerlich auf Lichtmetaphern zurück: Charismatische Menschen sind schillernde Persönlichkeiten, sie haben große Ausstrahlung – oder blenden uns.  In einem Punkt waren sich alle, die Jacob Taubes persönlich kannten, einig: Charisma hatte er. Bei praktisch jeder anderen Aussage über ihn gingen die Meinungen auseinander. Der 1923 in Wien geborene und 1987 in Berlin gestorbene Philosoph und Rabbiner entstammte einer langen Reihe jüdischer Gelehrter. Für Charisma war er nachgerade berühmt, obwohl ich es bei der ersten Begegnung kaum bemerkte. Ich traf ihn 1983 in der Wohnung seiner Frau, der Philosophin Margherita von Brentano, mit der mich die gemeinsamen Interessen für Kant, die Aufklärung und die Kritische Theorie verbanden. Ich sah mich konfrontiert mit der süßen jüdischen Melancholie eines Mannes, den diverse psychische und körperliche Gebrechen weitaus älter aussehen ließen als seine 59 Jahre und der sehr viel harmloser schien als die Gerüchte, die über ihn im Umlauf waren.  Es brauchte nur zehn Minuten seiner Nietzsche-Vorlesungen einige Monate später, da hatte ich es verstanden. Selten war ich so in Bann geschlagen. Es lag nicht an seiner Gelehrsamkeit oder rhetorischen Begabung, obwohl er in sechs Sprachen brillieren konnte. Taubes stellte Fragen, die sonst niemand zu stellen wagte. Diejenigen, die Nietzsche lasen, taten dies damals mit den Augen Walter Kaufmanns, der behauptet hatte, der arme Nietzsche sei verhunzt worden, seine Schriften habe seine Nazi-Schwester verfälscht, als er schon von Syphilis und Wahnsinn gezeichnet war. Taubes liebte Nietzsche sehr. Und doch brachte er es zustande, in einem Berliner Auditorium zu stehen, Himmler zu zitieren, die antisemitischsten Passagen aus Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft vorzulesen und dann zu fragen, worin wohl ihr Bezug zu den Gaskammern bestehe. Zwischendurch erzählte er die besten jüdischen Witze, die ich je gehört habe. Bot er Antworten auf die Fragen an, die er aufwarf? Nicht in einer Form, dass ich mich an sie erinnern könnte. Aber seine Ausführungen waren auf eine Weise tiefgründig, die den Gebrauch des Wortes »tiefgründig« oberflächlich wirken lässt, und mutig auf eine Weise, die die Verzagtheit des üblichen Denkens umso deutlicher sichtbar werden ließ. Das alles ergab eine Sogwirkung, die jungen Studierenden der Philosophie den Kopf verdrehen konnte. Ich war zum Glück alt genug, Dankbarkeit dafür zu empfinden, dass Taubes nicht der erste charismatische Lehrer war, dem ich begegnete, so dass ich die Erfahrung voll ausschöpfen konnte, ohne von ihr überwältigt zu werden. Und da es im Berlin der 1980er Jahre nicht gerade von jüdischen Intellektuellen wimmelte, schätzte Taubes im Gegenzug die Gesellschaft von jemandem, der seine Witze und viele seiner Anspielungen verstand. Es befeuerte seine Vision von einer Renaissance des deutsch-jüdischen Lebens, an der er Zeit seines Lebens festhielt. Ob im Vorlesungssaal oder in seinem Berliner Stammlokal, der Paris Bar, Taubes konnte über den Talmud ebenso gut reden wie über Nietzsche, über die Frankfurter Schule ebenso wie über die Evangelien, über die neueste französische Literaturtheorie ebenso wie über Kafka oder die Kabbala. Er konnte derart gut über alles reden, dass sich misstrauische Kollegen sogar einen fiktiven mittelalterlichen Philosophen ausdachten, um zu sehen, ob sich Taubes zu Aussagen darüber hinreißen ließ, wie der erfundene Denker damals die Kluft zwischen Thomas von Aquin und Duns Scotus überbrückt habe. In seiner soeben erschienenen Biografie Professor der Apokalypse gibt Jerry Z. Muller drei verschiedene Kollegenpaare als Quelle für diese Geschichte an, die oft als Beweis dafür herhalten muss, dass Taubes ein Hochstapler gewesen sei.1 Es steht außer Frage, dass er es mit der Wahrheit nicht immer genau nahm. Auch wenn das Wort »Scharlatan« gelegentlich treffend war, offenbart die Anekdote doch, mit wem man es hier zu tun hatte: Wie begabt muss jemand sein, um aus dem Stegreif Spekulationen darüber anstellen zu können, welche Positionen ein etwaiger mittelalterlicher Philosoph, der thomistisches mit scotischem Denken verband, vertreten haben würde? Taubes hatte sowohl in religiösen als auch in weltlichen Belangen eine außergewöhnliche Bildung genossen. Sein Vater war ein Rabbiner, der das Glück hatte, Wien bereits 1936 in Richtung Zürich verlassen zu haben. Der engste Familienkreis blieb deshalb verschont, gleichwohl wurden viele Verwandte im Holocaust ermordet. Beide Eltern befolgten die Gesetze des orthodoxen Judentums, waren aber auch in weltlichen Belangen hochgebildet. Taubes promovierte im Alter von dreiundzwanzig Jahren und wurde ein Jahr darauf zum Rabbiner ordiniert. Da es in der Schweiz für einen staatenlosen jüdischen Intellektuellen keine berufliche Perspektive gab, ging er 1947 nach New York. Die Stadt blieb – abgesehen von ein paar Jahren in Jerusalem und Cambridge – sein Lebensmittelpunkt, bis er sich 1966 in Berlin niederließ. Er studierte am Jewish Theological Seminary, lehrte in Harvard und Princeton und erhielt 1956 eine feste Professur an der Columbia University. Schon in jungen Jahren als Wunderkind gepriesen, noch dazu in zwei verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, hat Taubes immer wieder stolz verkündet, er kenne alles und jeden, die zu kennen sich lohne. In einer Zeit, in der Intellektuelle über Ländergrenzen hinweg weitaus weniger miteinander vernetzt waren als heute, diente dieses Wissen der gegenseitigen Befruchtung von Denktraditionen und machte ihn zu einem unschätzbaren Berater, Herausgeber von Buchreihen und Organisator von unzähligen Konferenzen und Salons. Trotzdem fragt Muller in seinem Buch: Was rechtfertigt eigentlich eine neunhundert Seiten starke Biografie über einen charismatischen Mann, der am Ende nicht mehr als tiefe Eindrücke hinterlassen hat? Nur vier schmale Bücher gibt es von Taubes, eines davon eine Dissertation, die anderen drei sind kurze Essays oder Vorträge, die nach seinem Tod transkribiert wurden. So interessant sie auch sein mögen, sind sie doch eher Fragmente als vollständige Werke. Der unvergessliche Einfluss, den Taubes ausübte, hatte mit seiner Person zu tun. Wenn sich ein charismatischer, vielsprachiger Mann in den Jahren 1947 bis 1987 zwischen Zürich, New York, Cambridge, Berlin, Paris und Jerusalem bewegte, konnte er fast der gesamten westlichen Intelligenzija über den Weg laufen. Theodor Adorno, Louis Althusser, Hannah Arendt, Daniel Bell, Hans Blumenberg, Pierre Bourdieu, Stanley Cavell, Paul Celan, Noam Chomsky, Emil Cioran, Jacques Derrida, Paul Feyerabend, Nathan Glazer, Jürgen Habermas, Eric Hobsbawm, Alexandre Kojève, Alexandre Koyré, Paul Ricœur, Gershom Scholem, Carl Schmitt, Susan Sontag und eine ganze Reihe weniger bekannter Persönlichkeiten kommen in Mullers Buch zu Wort. Sie waren Taubes’ ständiger Umgang. Mit den meisten unterhielt er lange Briefwechsel, mit einigen erbitterte Dispute, mit anderen Liebesaffären. Sein Biograf gibt zu, dass es sich bei...


Demand, Christian
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).
Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.


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