E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Dessaint Verlorener Horizont
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-948392-33-8
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman Noir
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-948392-33-8
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pascal Dessaint wurde in eine Arbeiterfamilie im Norden Frankreichs geboren. Er ist einer der wichtigsten Autoren des französischen Noir- Romans, der alle wichtigen Preise der Kriminalliteratur gewonnen hat. Er lebt in Toulouse.
Weitere Infos & Material
EINS
1
Anatole ist ungeduldig
Am Abend nahm Anatole seine Vögel häufig heraus, seine schlecht gemachten Vögel, die mit einem stumpfen Meißel aus einem Stück Treibholz geschnitzt und mit kräftigen Farben bemalt waren, wenig realistisch wirkten, aber, so hoffte er, trotzdem zu täuschen vermochten. Als ich mich eines Tages darüber lustig machte, erwiderte er:
»Und du, was ist mir dir, gibt es in deinem Leben eigentlich irgendetwas, worauf du dich verlassen kannst?«
»Nein ... Abgesehen davon, dass ich ständig in einer Zwickmühle stecke und mir nur die Wahl zwischen dem einen oder dem anderen Übel bleibt.«
»Also, es ist eben alles so, wie ich es haben will, auch meine Vögel sind so, wie ich sie haben will. Macht nichts, wenn das an meiner Ungeschicklichkeit liegt.«
Anatole legte viel Herzblut hinein, aber keiner seiner Vögel war gelungen. Brachvögel sahen aus wie Reiher, Kiebitze wie Tauben. Hartnäckig hatte er darauf bestanden, dass es auf Schönheit nicht ankäme. Es war nicht die Länge des Schnabels oder die Farbe des Schwanzgefieders, was die echten Vögel anzog, sondern die Haltung zählte, die Art, wie sie auftraten, nicht mehr und nicht weniger. Allerdings schien es, als würden sich nur wenige Zugvögel hereinlegen lassen.
Es war eine Jahreszeit mit starkem Tidenhub. Die Eröffnung der Jagdsaison stand unmittelbar bevor, und Anatole traf Vorbereitungen. Er steckte seine Lockvögel in den Sand, betrachtete sie ein Weilchen und drehte sich dann in Richtung Meer, das nicht immer in Sichtweite war. Das Meer zog sich hier manchmal so weit zurück, dass man denken konnte, man würde die Wellen, die längst mit dem Hitzenebel verschmolzen waren, niemals erreichen – selbst wenn man Stunden rennen würde, einen ganzen Tag lang, bis einem die Luft ausging. Nur die unablässig vorbeiziehenden Fähren und Frachter bewiesen, dass das Meer noch existierte. Die großen Schiffe hoben sich vom dunstigen Himmel ab. Sie begegneten sich, und es wirkte so, als ob sie nicht auf dem Wasser, sondern direkt auf dem Watt gleiten würden, inmitten von Strandseglern und Strandreitern. Schöne, spektakuläre und erschreckende Illusion! Bei Flut nahm das Meer die ganze Weite wieder ein, ohne dabei tief zu werden, sodass man sich noch Hunderte von Metern zu Fuß hinauswagen konnte, als ob man auf dem Wasser liefe, ohne weiter als bis zu den Waden nass zu werden.
In diesem Moment wurde die Silhouette eines Wurmsuchers auf dem glitzernden Sand immer kleiner. Bald würde er im Dunst und vor den Wellen verschwinden.
Wenn er seine geschnitzten Vögel nicht herausholte, schloss Anatole sich in der Garage ein. In der Hierarchie der Jäger stand Anatole auf der untersten Stufe. Er war dazu verdammt, am Strand zu jagen. Er träumte nicht mehr davon, eines Tages eine in den Sand eingegrabene Hütte zu besitzen, eine schöne Hütte mit einem Teich, auf dem sich erschöpfte Enten abknallen ließen. Eine Ente, sogar eine Knäkente, war fetter als ein Strandläufer oder eine Schnepfe.
Von nun an stemmte Anatole sich mit guter Arbeit gegen das böse Spiel! Jedes Jahr machte er sich mit Inbrunst wieder ans Werk, aus Not, aus Vergnügen, aber auch, wie er nachdrücklich behauptete, aus sozialer Gerechtigkeit. Es sollte ihn bloß niemand für einen Jammerlappen halten. Fast alle Strandjäger benutzten einen einfachen Schutzschirm, der den Elementen schlecht trotzte. Anatole war auf die Idee gekommen, eine mobile Hütte zu bauen, eine Art Kasten, ungefähr so groß wie ein Klavier, auf Rädern und mit einem Riemen ausgestattet, damit man sie hinter sich herziehen konnte. Am Ort seiner Wahl angekommen, öffnete er den Kasten, an dem eine Schießscharte angebracht war, verteilte seine schlecht gemachten Vögel – und dann wartete er, gut geschützt vor dem Wind. Im Laufe der Zeit hatte er einige Verbesserungen vorgenommen, vor allem kleine Fächer eingebaut, in denen er seine Patronen verstaute, etwas Werkzeug, einen kleinen Imbiss und Bier. Diese Konstruktion war schwer, bei Wind und im feuchten Sand mühsam zu bewegen, aber sie machte was her.
Anatole hoffte, bald fertig zu sein. Während er auf die Eröffnung der Jagd wartete, arbeitete er, ohne Blicken ausgesetzt zu sein. Er schnitt, sägte, hobelte, nagelte oder schraubte. Ersetzte hier ein Brett, entrostete dort ein Scharnier. Die Feuchtigkeit und das Salz zerfraßen Holz und Metall. Er würde dem Ganzen noch einen schönen Tarnanstrich verpassen. Wenn er erst damit fertig wäre und die Garagentore öffnete, na, das würde eine Show geben!
Die auf einem Rasenstück aufgestellte Garage bildete den Mittelpunkt einer Galaxie, die aus drei Planeten bestand: der Frittenbude, Anatoles Wohnmobil und meinem Wohnwagen. Um seine Behausung wie ein Chalet aussehen zu lassen, hatte Anatole sie mit Holzlatten verkleidet und das Dach marineblau gestrichen. Mein Wohnwagen, der über allerlei Komfort verfügte, kostete mich nur fünfzig Euro im Monat, das war geschenkt, und manchmal zahlte ich auch gar nichts; das hing davon ab, ob Anatole übel gelaunt war oder nicht.
Ich war auf das Schild aufmerksam geworden, das am Drahtzaun angebracht war. Dann brauchte ich etwas Glück. Anatole hatte mich gefragt, ob ich wirklich in einem Wohnwagen leben wollte, als ob sein Schild nur ein Witz wäre und ich verrückt genug, keine Angst vor einem alten Bock wie ihm zu haben. Im ersten Moment war das tatsächlich so, er kam mir ziemlich hinfällig vor, aber dann, im Laufe der Wochen und Monate, sollte ich ihn immer jünger finden, und es sollte mir nicht gelingen, diesen Zauber zu begreifen.
»Ich brauche einen Unterschlupf. Sofort.«
»Muss ich dir wohl abnehmen ...«
Und ohne jeglichen Übergang hatte er mir eine Frage gestellt, die mich etwas aus der Fassung brachte und sofort Vertrauen entstehen ließ:
»Hast du eine Mutter?«
»Sie ist sauer, weil ich dort unten im ›Dschungel‹ geholfen habe.«
»Mag sie keine Menschen?«
»Nicht alle.«
»Also im Grunde so wie jeder ...«
Anatole hatte sich den Schädel gekratzt. Er war eine Stufe vom Wohnmobil heruntergekommen. Hinter ihm an der Wand konnte ich drei Gewehre auf einem Ständer sehen.
»Du bist reichlich jung für das hier«, hatte er hinzugefügt.
»Man muss nicht alt sein, um sich ins Unglück zu stürzen.«
Ich hatte sogar gedacht, dass ich ganz allein mit dem gesamten Unglück der Erde fertigwerden könnte. Ich hatte die Tür der Schulbehörde hinter mir zugeschlagen und mich dieser NGO angeschlossen, die neben anderen Aufgaben Französischkurse organisierte. Damit hatte ich mich nicht begnügt, und so saß ich eines Tages mitten inmitten all der Gesichter, die mir seltsam vertraut vorkamen, zwischen vom Wind aufgeblähten Zelten, beschädigten Bäumen, überbordenden Abfallhaufen auf dem platt getretenen Schlamm und dennoch mit viel Hoffnung. Ich hatte mich nicht mehr bewegt, jemand hatte mir eine Hand auf die Schulter gelegt, und ich hatte angefangen zu weinen.
»Das macht fünfzig Euro pro Monat.«
»Ich heiße Lucille, bin 26 Jahre alt, und ich bin müde vom Leben.«
»Na gut, dann ist es jetzt so!«
Warten macht nervös. Oder vielleicht hatte Anatole die Nase voll von seinen aus Treibholz geschnitzten Vögeln. Er räumte sie weg und ging in sein falsches Chalet mit dem marineblauen Dach zurück.
Warten macht nervös, ganz bestimmt. Einen Augenblick später lief ein junger Mann den Sandstreifen hinauf, die lange gerade Spur, die quer durch das Watt und zum Strand führte. Vom Aussehen her ähnelte er Thibaut, meinem früheren Liebhaber. Anatole hob einen Vorhang und sah, wie er durch die kranke Thujahecke ging.
Der junge Mann hielt alle zehn Meter an und suchte die Landschaft mit seinem Fernglas ab. Es war Ebbe, und das Watt zeigte sich dank der Salicorne in einer hübschen grünen Farbe. Der Vorhang senkte sich wieder. Anatole nahm ein Gewehr vom Ständer, steckte sich Patronen in die Tasche und ging los.
Unbekannte mit Ferngläsern waren hier nicht gern gesehen. Als ob nichts wäre, verfolgte Anatole den Jungen, der nicht auf der Hut war und zusammenzuckte, als er angesprochen wurde.
»Was suchst du hier mit deinem Glas?«, fragte Anatole schroff.
»Zugvögel. Um diese Zeit gibt es Schwärme von Strandläufern und Regenpfeifern.«
Anatole glaubte zwar, es handele sich um Vögel, die man laut Vorschrift wegen ihrer Größe ohnehin nicht jagen durfte, aber er fragte trotzdem weiter:
»Willst du mir etwa die Jagd vermiesen?«
Der junge Mann ließ sich...




