Döblin | Schriften zu jüdischen Fragen | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Döblin Schriften zu jüdischen Fragen

Fischer Klassik PLUS
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-403299-3
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Fischer Klassik PLUS

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ISBN: 978-3-10-403299-3
Verlag: S. Fischer
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»Ich will nicht vergessen: ich stamme von jüdischen Eltern.« Seit den 1920er Jahren bilden Texte zur prekären jüdischen Existenz und Kultur einen großen Teil von Döblins schriftstellerischer Arbeit. Konfrontiert mit dem zunehmenden Antisemitismus in Deutschland, plädiert Döblin für einen selbstbewussten jüdischen ?Territorialismus? und erweist sich auch auf diesem Feld seines Engagements als beeindruckend undogmatisch und provokativ. Mit einem Nachwort von Hans Otto Horch

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.
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Jüdische Erneuerung


(1933)

Jeremias: Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr, Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, das eurer wartet.

I. Ihre Geschichte


Die Not- und Dauerform des Übervolkes


Nachdem über ein Jahrhundert der jüdischen Emanzipation vergangen ist, ist es an der Zeit, zum zweiten Mal nach Herzl, das Resultat zu betrachten und Schlüsse für die weitere jüdische Entwicklung zu ziehen.

Wir werden auf den Gesamtverlauf der Geschichte des unglücklichen, geschlagenen und immer wieder sich erhebenden jüdischen Volkes-Nichtvolkes-Übervolkes einen Blick werfen, werden mit der Strenge und Liebe, die diese Geschichte erfordert, den heute im Westen erreichten Zustand schildern und den Juden, die es noch nicht wissen, seine verdammenswerte Schlechtigkeit und Unwürde zeigen.

Judentum, das ist ein ungeheuer konzentrierter Wachstumskreis. Er hat etwas Planmäßiges und Übersteigertes an sich wie ein Treibhaus. Volk, Nation ist etwas Offenes, Verbreitetes, trotz der inneren Bindungen und Formungen. Aber das kommt nicht an die Schärfe und Strenge der Bindungen und Formungen heran, die das Judentum hat. Diese Auskristallisierung, diese steinerne, scharfkantige Befestigung im Jehovaglauben! Es gibt keinen Gott neben ihm. Diese Sicherheit: er wird eines Tages der Gott aller sein. Es ist die Übersteigerung, die einmal der Kampf um Tod und Leben erzeugte. Man ist damals nicht ausgelöscht, nicht erlegen – und kurz vor dem Tod, den Tod überwindend hat man diesen Übertrotz und Zorn, dieses Trotzalledem-und-alledem erzeugt: wir leben und werden ewig leben.

Und siehe da: man ist leben geblieben! Es ist eiserner Lebenswille da, Kampfesmut und -wut. Wer so aus dem Tod hervorgegangen ist, ist ungeheuer stark und gestärkt. Nietzsche sagt: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.« So ist die Lawine Babylon und dann die Lawine Rom über sie gedonnert und hat sie zermalmt, aber nicht ganz! Und als die Lawine weiterrutschte, wanden sich aus den Trümmern einzelne todwunde, lahme, kranke Wesen heraus. Den phantastischen Schrecken der Katastrophe aber behielten sie im Gesicht, und er grub sich in ihr Inneres ein. Und so gingen sie weiter und fuhren fort zu leben, aber so, so!

Wie lebten sie denn weiter? Als Menschen, die sich langsam erholten und wieder wurden wie früher? Nein. Sie haben die Katastrophe nicht vergessen. Es können sonst Völker Kriege, Niederlagen, ja politisch-geographische Auslöschungen ertragen. Sie durchdringen sich mit dem Siegervolk, das Ringen geht kulturell und auf dem Wege der Klassenschichtung weiter. Es sind ganze Völker scheinbar spurlos untergegangen; wo findet man noch die Goten und andere. Aber da war etwas an den Juden, das diesen Kompromißuntergang des Aufgehens in andere Völker verhinderte. Millionen einzelner Juden sind ja im Laufe der Jahrtausende in andere Völker eingegangen, aber es ist ein Kern geblieben, der es sich gestatten konnte, diese Massen abzugeben und zu verlieren, ohne sich zu schwächen, er blieb doch leben. Was ist der Grund dieser enormen Zähigkeit? Was hielt den Kern zusammen?

Gewichen – denn diese Dauerform ist eine Notform.

Aber es war eine ungeheure, beispiellose Leistung, ein Beweis der großartigen Energie und Zähigkeit des Volkes.

Gott bleibt die Sondersache ihres Volkes. Er heißt Jehova. Sie widersetzen sich ihm, er straft sie, aber er zieht, wie früher in der Wüste, immer vor ihnen her. Er ist ein »verzehrendes Feuer, ein eifervoller Gott«, aber »der Ewige, dein Gott« ist auch »ein barmherziger Gott, er wird von dir nicht lassen, er wird des Bundes mit deinen Vätern nicht vergessen, den er ihnen geschworen hat«. Und es heißt schon in ihrem ältesten Buch: »Der Ewige wird euch unter die Völker zerstreuen, und in geringer Zahl werdet ihr übrig bleiben unter den Nationen. – Von dort werdet ihr dann suchen den Ewigen euren Gott, und du wirst ihn finden, so du ihn suchest mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele.«

Dies war es, was die feste Dauerform, eine Zwischenform schuf, Volk und Nichtvolk, Übervolk.

Welche Art Not bewerkstelligte das? Was sie als Volk vor zwei Jahrtausenden betraf, war eine langsame Dauerkatastrophe. Es traf sie von innen und von außen.

Es ist ein furchtbar eigensinniges, halsstarriges, widerspenstiges Volk, dieser unbezähmbare Freiheitssinn, die antiautoritäre Gesinnung. Der Mann Mose hat sie aus Ägypten geführt, wo sie Knechte hatten sein müssen. Kaum ist er auf dem Berg Sinai verschwunden, auf dem die »Herrlichkeit Gottes ruhte«, um Jehovas Worte entgegenzunehmen in vierzig Tagen und Nächten, nach kaum vierzig Tagen laufen sie zu Aron und machen ein goldenes Kalb aus den Ringen ihrer Frauen, Söhne und Töchter, essen, trinken, bringen Brandopfer und belustigen sich. Vor dem Kalb sagen sie, eben dem ägyptischen Schrecken durch Moses Führung entronnen: »Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Lande Ägypten herausgeführt haben.« Was konnte Mose vor diesem Volk anderes, als die Gesetzestafeln im Zorn zerbrechen. Das goldene Kalb verbrannte er, die Asche streute er in Wasser und ließ die Kinder Israel davon trinken. Aber es blieb nicht bei diesem Einzelfall. Von solchen Rebellionen, Entartungen, ist die Geschichte des Volkes voll. Aber immer war eine kleine Masse Starker da, manchmal nur Einzelne – die hämmerten seit Beginn des Volkes an seiner Form. Sie hämmerten die eiserne Achse, von der das Rad nicht herunterfiel.

Und sie wurden in ihrer Arbeit unterstützt durch den nie nachlassenden Das Volk in seiner stählernen Dauerform also – entstand zwischen zwei Feuern.

Sie waren nicht immer wie heute


Stählerne Dauerform? Wie sieht nun diese Dauerform aus? Sie haben die Jahrtausende in dieser Dauerform überlebt, die gewaltige Leistung haben sie vollbracht, das sagen sie und rühmen sie immer, aber sie sagen nicht wie. Und sie verschweigen zweitens den Sinn dieser Dauerform, welche nur eine Notform zur Überwinterung ist.

Sind sie aus Stahl? Seht sie euch an! Lest ihre Geschichte, die seit dem sechsten Jahrhundert vor Christi strotzt von Verfolgungen, Niederlassungen, Kämpfen, Verjagen, Ausrottungen, Pogromen, sie blieben leben –. Wie? Versteckt, weggestoßen, von früh an verachtet und gehaßt. Als Verachtete und Gehaßte haben sie überall seit zweieinhalb Jahrtausenden zittern müssen um ihr nacktes Dasein. Kein Recht gab es für sie, denn das Recht gab ein anderer, und der konnte die Laune wechseln. Anpassung, Anpassung, Verstecken: das sind ihre Hauptworte. Sich ducken, sich unsichtbar machen, Mimikry: das sind ihre Hauptgebote. Ein stählerner Charakter? Ein stählerner, unsichtbarer, unfaßbarer Widerstandswille seit Nebukadnezar und Titus und Vespasian, aber zugleich eine gequälte Art Mensch, eine zum Hund, zum Speichellecker und zum Knecht verdammte. Gescheit und überklug mußten sie werden – verflucht, daß sies werden mußten, es ist die Klugheit der tausendjährigen Notwehr, und die erbärmliche Klugheit der Angst, die Klugheit der Knechte, die Sklavenschläue. Und dafür sind sie leben geblieben. Ein Einzelner kann schwach sein und wird seine Schutzmauern um sich bauen, er weiß sich keinen Rat – aber ein ganzes Volk, wie kommt das, in zweitausend Jahren findet es keinen Ausweg und stirbt nicht und bleibt in der geschützten Dauerform, in dieser? Darf es das? Soll es das dürfen?

In der Bibel sehen wir sie als ein tapferes, kriegerisches Volk mit starkem Gottesglauben. Es ist ein weltliches Volk unter Königen und Richtern. Sie stecken in einem gefährlichen Wetterwinkel zwischen Großmächten, Ägypten und Babylon, Assyrien, später kommt Persien, sie kämpfen fabelhaft. Rom muß enorme Anstrengungen machen, sie niederzuwerfen. Auszurotten die Juden gelingt auch Rom nicht, trotz der grauenhaften Metzeleien. Grob gesehen kam das daher, daß die Juden sich aus der hochentwickelten und ebenso gefährdeten Form eines Wirbeltiers früh in die Form des Regenwurms umbildeten; alle Glieder können sich zu einem ganzen Tier regenerieren. Schlug man die Juden in Jerusalem nieder, so lebten Gemeinden in Babylon, rottete man sie in Alexandrien aus, so wohnten welche in Arabien und Italien. Und überall sie zugleich auszurotten war keine Möglichkeit und bestand kein Anlaß, sie übten Funktionen.

Liest man die Bibel, so weiß man: dies ist ein Kriegsvolk. Die Erde wird von ihrem Gott geschaffen, damit sie sich ihrer bedienen. Nicht jüdisches Wort ist es, wenn es später heißt: wenn dich einer schlägt, halte ihm die andere Backe hin. Bei ihnen heißt es hart: Auge um Auge, Zahn um Zahn, und es regnet Todesstrafen, Steinigungen. Ihr Staat war vernichtet, es ist das...


Döblin, Alfred
Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Alfred DöblinAlfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.



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