E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Dr. / Moalem Das stärkere Geschlecht
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7453-0842-6
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum Frauen genetisch überlegen sind
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7453-0842-6
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Sharon Moalem ist preisgekrönter Wissenschaftler, Mediziner und »New York Times«-Bestsellerautor. Seine Arbeiten verbinden Erkenntnisse aus Evolutionsbiologie und Medizin. Er ist ein weltweit anerkannter Experte auf dem Gebiet der Genetik. Dr. Moalem war Mitherausgeber des »Journal of Alzheimer`s Disease« und er ist Mitbegründer von zwei Biotechnologieunternehmen. Seine Bücher wurden in über 35 Sprachen übersetzt.
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Einleitung
Hier einige grundlegende Tatsachen: Frauen leben länger als Männer.1 Frauen haben ein stärkeres Immunsystem.2 Frauen leiden seltener an einer Entwicklungsstörung,3 sehen die Welt eher in einer größeren Farbenvielfalt4 und sind beim Kampf gegen Krebs erfolgreicher. Frauen sind einfach in jeder Lebensphase stärker als Männer. Aber warum? Diese Frage hielt mich an einem Sommerabend gefangen, an dem ich mich nach einem schweren Verkehrsunfall in einem Krankenwagen wiederfand, der zum nächsten Krankenhaus raste. Während ich dort auf der Trage lag und zu den Monitoren hochschaute, kamen mir plötzlich zwei spezifische Ereignisse aus meiner Vergangenheit in den Sinn, die zu lebhaften Erinnerungen geworden waren. Das eine betraf meine Zeit als Arzt auf einer Neugeborenen-Intensivstation, wo ich Frühchen behandelt hatte; das andere, zehn Jahre zuvor, fiel in die Zeit, in der ich mich auf die Neurogenetik konzentriert und mit Menschen in ihren letzten Lebensjahren gearbeitet hatte. Die beiden Ereignisse schienen irgendwie miteinander verknüpft zu sein, aber ich wusste nicht genau, wie.
Dann wurde mir inmitten der chaotischen Aktivitäten in diesem Krankenwagen schlagartig klar: Bei uns allen gibt es bestimmte Lebensereignisse, die dazu führen, dass wir gewisse grundlegende Annahmen infrage stellen. Die beiden Dinge, über die ich an jenem Sommerabend nachdachte, und der kristallisierende Moment, der folgte, sind verbunden mit der Behauptung, die ich in diesem Buch aufstelle: dass Frauen Männern genetisch überlegen sind.
Als ich in meiner Eigenschaft als Neurogenetiker (jemand, der sich auf die genetischen Mechanismen neurodegenerativer Krankheiten spezialisiert) zu forschen begann, bestand eine der unerwarteten Herausforderungen, denen ich mich gegenübersah, darin, eine ausreichende Zahl gesunder älterer Erwachsener dafür zu gewinnen, an den Studien teilzunehmen. Selbst wenn ich die perfekten Forschungsfragen stellte und die notwendige finanzielle Unterstützung erhielt, um sie zu testen, musste ich mein Vorhaben oft verschieben, weil ich keine alters- und geschlechtskorrelierten gesunden Probanden finden konnte. Der Rekrutierungsprozess dauerte manchmal Jahre.
Es sei denn, natürlich, man hat Sarah auf seiner Seite. Sarah ist Ende 80 und hat zwei künstliche Hüften, ist mit ihrer Gehhilfe jedoch kaum aufzuhalten. Auf ihrem Wochenplan stehen ein Aquarellkurs, Schwimmen, ein Kardiokurs und ein Tanzabend. Reicht das noch nicht, nimmt Sarah an fast täglich stattfindenden Veranstaltungen in verschiedenen Seniorenzentren der Stadt teil. Sie gehört einer Freiwilligenorganisation an, deren Mitglieder hospitalisierte ältere Menschen besuchen, die keine Familie oder keine Freunde haben, die Zeit mit ihnen verbringen. Außerdem ist sie meine Großmutter.
Ich werde oft von Familienmitgliedern gefragt, ob ich bereit sei, offen mit Sarah darüber zu sprechen, dass sie langsamer treten sollte. Alle machen sich Sorgen, dass sie sich einfach zu viel zumutet. Meine Antwort ist immer dieselbe: Es geht ihr deshalb so gut, weil sie so aktiv ist und ihre täglichen Aktivitäten ihrem Leben so viel Sinn verleihen. Wichtiger noch: Wenn sie aufhören würde, Kontakte zu pflegen, würde ich schon bald keine älteren Forschungsprobanden mehr haben.
Meine Großmutter half mir erstmals vor fast 20 Jahren, Freiwillige für meine Forschung zu finden. Sie schreckte auch nicht davor zurück, mir Ratschläge zu erteilen. »Mit diesem gruseligen weißen Laborkittel und dem Namensschild drauf wirst du nie jemanden dazu bringen, dir bei deinen Forschungen zu helfen«, sagte sie. »An deiner Stelle würde ich ihn weghängen. Und deine Krankenschwester sollte das auch tun – keine Laborkittel. Sie machen uns Angst. Sie erinnern mich an meine Operationen und warum sollte ich an die erinnert werden wollen? Ohne den Kittel siehst du einfach wie ein normaler Mensch aus. Schließlich bittest du die Menschen, etwas von sich preiszugeben, und das ist eine große Sache. Du wirst sehen – es gibt viele Leute, die helfen wollen.«
Ich hörte auf sie und entledigte mich meines Laborkittels. Es funktionierte. Nachdem ich in Zivilkleidung potenziellen Probanden mein Vorhaben vorstellte, hatten wir mehr Forschungsteilnehmer, als wir brauchten. Doch es gab ein Problem: Selbst wenn sich jeder im Raum bereit erklärte, an der Studie teilzunehmen, gab es immer einen eklatanten Mangel an Individuen einer spezifischen demografischen Gruppe. Es gab einfach nicht genügend Männer.
Ältere Frauen überleben ihre männlichen Zeitgenossen im Durchschnitt um mindestens vier bis sieben Jahre.5 Die Diskrepanz zwischen der Lebenserwartung von Männern und Frauen wird umso auffälliger, je mehr wir uns dem äußersten Ende der menschlichen Lebensspanne nähern. Bei den über 85-Jährigen gibt es zuweilen doppelt so viele Frauen wie Männer. Und bei den Hundertjährigen ist der Überlebensvorteil von Frauen sogar noch viel größer: Von hundert derzeit lebenden Hundertjährigen sind 80 Frauen und nur 20 Männer.[1]
Zehn Jahre später wurde ich an einem Abend im Frühherbst, in dem die Blätter gerade begonnen hatten, sich bunt zu färben, ausgerufen, auf die Neugeborenen-Intensivstation zu kommen. Rebecca, die Krankenschwester, die Bereitschaftsdienst hatte, trat zu mir ans Waschbecken und informierte mich über zwei Frühchen, die einige Tage zuvor aufgenommen worden waren. Die zweieiigen Zwillinge Jordan und Emily waren bereits in der 25. Woche zur Welt gekommen – mehr als drei Monate vor dem offiziellen Geburtstermin. Ich streifte einen sauberen Kittel und blaue Nitrilhandschuhe über und legte einen Mundschutz an, denn das Letzte, was diese Babys brauchten, war, irgendetwas ausgesetzt zu werden, was ich vielleicht unabsichtlich aus dem Krankenhausatrium, in dem ich, nur wenige Minuten bevor mein Pager losging, gesessen hatte, mit hereinbrachte.
Rebecca gehörte seit mehr als drei Jahrzehnten zum Krankenhauspersonal und sah trotz der Überstunden und der sehr schwierigen Arbeit auf der Neugeborenen-Intensivstation jünger aus als 60 plus. Sie zählte zu den Menschen, deren Stimme und Wesensart beruhigend wirken, egal wie schlimm die Situation ist. Der größte Teil des Personals, einschließlich vieler Ärzte, schloss sich ihrem Urteil an, wenn es darum ging, den Versorgungsplan für die jüngsten Patienten des Krankenhauses zu ändern. Rebecca, die Oberschwester auf der Level-4-Neugeborenen-Intensivstation, war eine wahre Frühchenflüsterin. Und das, was sie mir an jenem Abend sagte, änderte nicht nur meine Forschungsrichtung, sondern auch mein Leben.
Glücklicherweise sind sich die meisten Menschen des Kampfes, den neugeborene Frühchen führen müssen, nur um den Tag zu überstehen, nicht bewusst. Allein in ihrem kleinen, durchsichtigen Zuhause kämpfen diese winzigen, zerbrechlichen Wesen um ihr Überleben. Ihr Brutkasten, der grob wie ein künstlicher Mutterleib gestaltet ist, dient als kontrollierte Umgebung, bis die Babys so alt und stark sind, dass sie ihn nicht mehr brauchen.
Auf einer Level-4-Neugeborenen-Intensivstation sind normalerweise die jüngsten und kränksten Frühgeborenen untergebracht. Viele der hier benutzten Brutkästen haben ein Luftfilterungssystem, welches das Infektionsrisiko senkt, indem es die Babys vor der Außenwelt schützt. Die Brutkästen sorgen auch für die richtige Menge an Feuchtigkeit in der Luft. Wenn Babys sehr früh geboren werden, ist die Hautbarriere, die vor Dehydration schützt, noch nicht voll ausgebildet.
Eine enorme Menge an Technologie, menschlichem Wissen und Engagement wird in die wenigen investiert, die diese Plexiglasgehäuse bewohnen. Krankenschwestern, Ärzte und Familienmitglieder führen gemeinsam einen unaufhörlichen Kampf, um die Babys am Leben zu halten und zum Wachsen und Gedeihen zu ermutigen.
Man gewöhnt sich nie wirklich an die Geräusche der Geräte auf einer Neugeborenen-Intensivstation. Die Ventilatoren brummen, die Monitore summen und gelegentlich sind so laute Alarmsignale zu hören, dass dies selbst bei den abgebrühtesten Mitgliedern des medizinischen Personals für Verwirrung sorgt. Und so verwundern die Forschungsergebnisse nicht, die zeigen, dass das Licht- und Geräuschspektakel der modernen Medizin eine negative Auswirkung auf die Gesundheit von Frühchen haben kann (etwas, was Ärzte heutzutage zu verringern versuchen).6 Bei meiner Einführung in die Arbeit auf der Neugeborenen-Intensivstation – zuerst als Student und dann als Arzt – war mir keine Schonzeit vergönnt und die erste Zeit war sehr hart. Ich schwankte ständig zwischen reiner Ehrfurcht und purem Entsetzen, wobei oft beide Emotionen schnell aufeinanderfolgten – und manchmal gleichzeitig auftraten.
Meistens heißt es jedoch: viel warten. Trotz all der medizinischen Fortschritte, die wir im Lauf der Jahre gemacht haben, brauchen diese jungen Körper...




