Draths Vergessene Pubertät
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-456-75123-8
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sexualität und Verhütung bei Jugendlichen mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung
E-Book, Deutsch, 154 Seiten
ISBN: 978-3-456-75123-8
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein frauenärztlicher Blick auf Pubertät, Sexualentwicklung und Verhütung Acht Jugendliche, acht unterschiedliche Lebensgeschichten, acht unterschiedliche Erkrankungen. Bei Jugendlichen mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit wie Spina bifida, Zystischer Fibrose oder Krebserkrankungen wird die Pubertät durch die medizinischen Probleme oft in den Hintergrund gedrängt. Aber Aischa, Selin und Max sind in der Pubertät, und sie haben dieselben Wünsche und Bedürfnisse wie alle anderen Jugendlichen auch. Sie benötigen eine speziell fundierte Beratung. Die erfahrene Frauenärztin öffnet den Blick in diese besonderen Entwicklungsprobleme. Vom ersten Gespräch über die körperliche Untersuchung bis zur persönlichen Beratung über intime Fragen von Sexualität, Fruchtbarkeit und Verhütung wird der Leser in die jugendgynäkologische Sprechstunde mitgenommen. Anliegen des Buches ist es, Jugendliche und auch ihre Eltern und Betreuungspersonen früh und ausführlich zu informieren. Alles wird für Jugendliche gut verständlich erklärt, medizinische Hintergrundinformationen sind besonders hervorgehoben – so dass auch Fachleute in der Beratung von Jugendlichen mit speziellen Bedürfnissen profitieren können. Mit dem Kauf dieses Buches unterstützen Sie firstlove – ein Präventionsprojekt für Jugendliche.
Zielgruppe
Behinderte und chronisch kranke Jugendliche; Angehörige und Betreuer.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Marita
Wenn das Essen schwer fällt (Anorexie)
Marita hat mit ihren 15 Jahren schon einiges erlebt. Zurzeit lebt sie wieder zu Hause bei ihren Eltern und kommt mit ihrer Mutter in die Sprechstunde.
Marita ist eine hübsche, auffallend schlanke, selten lächelnde Jugendliche. Sie ist zurückhaltend und beobachtet alles ganz genau. Nach einem kurzen Gespräch zu dritt bitte ich die Mutter, im Wartezimmer Platz zu nehmen, um mit Marita alleine sprechen zu können. Nun erzählt Marita, dass sie sehr unglücklich sei wegen ihrer kleinen Brust. Sie traue sich kaum, ein T-Shirt anzuziehen oder in der Schule mitzuturnen und schwimmen vermeide sie ganz. Jeden Tag, wenn sie in den Spiegel schaue und ihre Brust sehe, müsse sie an ihre Krankheit denken. Dann erzählt sie ihre Geschichte.
Entwicklungsstillstand – aufgepasst!
Mit elf Jahren bekam Marita zum ersten Mal die Periode, zuerst recht regelmäßig, aber dann blieb sie aus und seit vier Jahren ist sie nicht mehr gekommen. Zuerst war sie ganz froh, keine Blutung mehr zu haben, da sie früher manchmal Schmerzen hatte und das Bluten mühsam fand. Nun macht sie sich aber seit längerem Sorgen um ihren Körper und sie hat Angst, dass sie deshalb später vielleicht keine Kinder bekommen könne.
Ausbleiben der Periode: Wann soll man zum Frauenarzt?
In den ersten zwei Jahren der Periode darf diese noch unregelmäßig sein. Auch ein Abstand von mehreren Monaten ist kein Grund zur Sorge. Nach zwei Jahren sollte sich eine gewisse Regelmäßigkeit der Menstruation einpendeln, sie muss aber nicht auf den Tag genau kommen. Wenn nach diesen zwei Jahren neu die Periode über mehrere Wochen ausbleibt, aber eine Schwangerschaft ausgeschlossen ist, oder wenn die Periode immer wieder erst nach sechs bis acht Wochen auftritt, ist eine Kontrolle beim Frauenarzt zu empfehlen.
In der Zeit, als sie die letzte Periode hatte, begann bei ihr eine Essstörung. Sie verlor in kurzer Zeit sehr viel an Gewicht und aß kaum noch. Die Eltern versuchten alles, um sie zum Essen zu bewegen. Als das Gewicht immer tiefer fiel, gingen sie zum Kinderarzt. Marita war so schwach, dass sie kaum mehr gehen konnte. Sie fror dauernd, ihre Hände waren kalt und sie war richtig krank. Der Kinderarzt zögerte nicht lange und wies Marita ins Kinderspital ein. Das war gerade noch rechtzeitig. In Maritas Körper war alles durcheinandergeraten: Hormone, Herz, Nieren, Blut und Haut, alle Organe reagierten auf den Mangel an Energie und Nahrung.
Magersucht, Anorexia nervosa
Die Magersucht oder medizinisch «Anorexia nervosa» ist eine psychosomatische Krankheit, die schwerwiegende körperliche Folgen hat.
Ungefähr 1 % der Mädchen im Jugendalter und der jungen Frauen und 0,1 % der Knaben und jungen Männer sind von Anorexie betroffen. Selten kommt sie bei Kindern vor der Pubertät vor, meist tritt sie bei den 12- bis 16-Jährigen auf. Das ist die Zeit der Pubertät, welche durch die Anorexie beeinträchtigt werden kann. Alle Organsysteme sind vom Untergewicht betroffen. Je länger das Untergewicht anhält und je ausgeprägter der Gewichtsverlust ist, umso gefährlicher wird dies für den Körper. Die Diagnose Magersucht wird gestellt, wenn gewisse Kriterien erfüllt sind. Diese sind im Anhang 1 aufgelistet.
Die häufigsten Gründe für den Arztbesuch sind Müdigkeit, Schwindel und fehlende Menstruation. Für die Heilung dieser Erkrankung ist es entscheidend, dass die Essstörung rechtzeitig erkannt und eine entsprechende Therapie begonnen wird. Das Ausbleiben der Menstruation ist ein wichtiges Zeichen der Krankheit und sollte ernst genommen werden. Eine gute Zusammenarbeit der Ärztinnen und Therapeuten (Psychotherapeut, Kinderärztin/ Hausärztin, Ernährungsberaterin, Gynäkologin) ist für die erfolgreiche Therapie nötig.
Marita blieb damals vier Monate im Kinderspital. Zuerst ging es darum, den weiteren Gewichtsverlust zu stoppen und sie ganz allmählich wieder an einen normalen Tagesablauf mit Mahlzeiten zu gewöhnen. Vor allem aber war entscheidend, dass Marita verstehen lernte, dass Magersucht eine Krankheit ist und sie Hilfe braucht, um darüber hinwegzukommen. Nach vier Monaten war Marita so stabil, dass sie nach Hause entlassen wurde und in eine ambulante Therapie übertreten konnte. Es blieb aber ein Kampf für sie, ein Kampf mit dem Essen. Sie war noch weit entfernt von ihrem ursprünglichen Gewicht und versuchte zwei Jahre lang zuzunehmen. Dann kam der Rückfall. Innerhalb kurzer Zeit magerte sie erneut ab und verlor so viel Gewicht, dass die Eltern sie direkt ins Kinderspital brachten. Die Auswirkungen auf den Körper waren noch bedrohlicher als beim ersten Mal. Wieder blieb sie für drei Monate im Spital, zuerst zur Überwachung des Körpers und Stabilisierung des Gewichts, dann gewöhnte sich Marita wieder langsam daran, mit den anderen zu essen. Anschließend trat sie in eine psychotherapeutische Station ein, das ist eine stationäre Behandlung für Jugendliche mit ganz unterschiedlichen Problemen. Diese Zeit war für Marita, wie sie mir jetzt erzählt, sehr hilfreich, denn endlich ging es nicht nur ums Essen, um das Gewicht oder die Kalorien, sondern auch darum zu verstehen, warum sie eigentlich in diesen Teufelskreis geraten war. Seit vier Jahren kreisten ihre Gedanken immer um das Thema Essen, Gewicht, um abnehmen und zunehmen, und wie man die Ärzte austricksen und den Eltern, auch sich selber, etwas vormachen kann. Sie lernte auch, dass viele junge Mädchen an Essstörungen leiden.
Verschiedene Essstörungen
Es gibt verschiedene Essstörungen und es kommen immer neue dazu. Essstörungen sind weit verbreitet, und es ist nicht einfach, sie von Diäten oder gestörtem Essverhalten abzugrenzen. Menschen, deren Denken zum großen Teil um das Essen, um Kalorien und selbstauferlegte Verbote, Strafen und «Esssünden» kreisen, leben oft bereits in einer Essstörung, auch wenn sie das nicht als Krankheit sehen. Essstörungen führen zu gesundheitlichen Problemen und bedürfen einer Therapie. Die wichtigsten Essstörungen umfassen die Magersucht, die Bulimie (Essen und Erbrechen), die Fressattacken (Binge Eating Disorder) und Esssucht (mit Fettleibigkeit). Liegt eine Essstörung vor, ist es unbedingt ratsam, eine Fachperson aufzusuchen. Essstörungen kann man nicht alleine heilen, sie gehen auch nicht von alleine weg, sondern bedürfen einer spezialisierten Hilfe.
Marita ist ein kluges Mädchen, sie kann gut über sich nachdenken und sich genau beobachten. Und sie hat gemerkt, dass ihre Stimmung viel besser ist, seit sie genug isst. Denn das Hungern schädigt auch das Gehirn, man wird traurig und einsam. Sie möchte nicht mehr dahin zurück, sie möchte jetzt vorwärts gehen in ihrem Leben. Während der stationären psychotherapeutischen Behandlung hat sie langsam zugenommen, sich an normales Essen gewöhnt und tatsächlich auch etwas Freude gewonnen am Essen. Nun hat sie endlich ihr ursprüngliches Gewicht wieder erreicht und möchte wissen, wann die Periode zurückkehren und die Brust wieder wachsen wird.
Magersucht und Pubertätsentwicklung
Marita war gerade zwölf Jahre alt, als die Essstörung begann. Durch den Gewichtsverlust wurden die Eierstöcke in dieser Zeit «ruhiggestellt», sie hörten auf, weibliche Hormone zu produzieren. Alle Hormonwerte fielen auf ein so tiefes Niveau wie vor der Pubertät. Auch die Brust wuchs nicht mehr weiter, sondern blieb in einem frühen Stadium stehen (vgl. Abb. 30, S. 111). Während ihrer Krankheit bekam Marita keine Hormonbehandlung und bis jetzt sind die Eierstöcke vermutlich noch nicht wieder aktiv geworden. Früher verschrieb man den jungen Frauen großzügig eine Pille, um eine ausbleibende Periode wieder auszulösen und verpasste dadurch öfters die Diagnose Magersucht. Denn das Ausbleiben der Periode ist doch für viele Betroffene ein Warnzeichen, weswegen sie überhaupt erst zum Arzt gehen. Wird dann leichtfertig eine Pille verschrieben, wird die Krankheit nicht erkannt und die richtige Therapie nicht eingeleitet.
Die Krankheit von Marita dauert inzwischen schon vier Jahre. In diesen vier Jahren hat sie keine Hormone erhalten und die Pubertät ist in einem frühen Stadium stehengeblieben. Marita hat zwar inzwischen das Gewicht von damals erreicht, aber der Körper benötigt längere Zeit, um sich vom Stress der Magersucht zu erholen. Ob es in so einer Situation sinnvoll ist, den Körper und die Pubertätsentwicklung mit Hormonen zu unterstützen, ist in der Forschung noch nicht eindeutig geklärt. Daher muss die Entscheidung in jedem einzelnen Fall genau besprochen und überlegt werden.
Die frauenärztliche Untersuchung
Für die Untersuchung wird die Mutter gebeten, im Wartezimmer zu warten. Das ist wichtig, um die Intimsphäre der Patientin zu achten und auch, um die Gelegenheit zu nutzen, unter vier Augen zu sprechen. Denn bei Jugendlichen gibt es immer Themen, die man nicht unbedingt mit den Eltern besprechen will, auch wenn man sich sonst sehr gut versteht.
Es fällt Marita schwer, ihren Körper zu zeigen, da sie sich wegen der kleinen Brust schämt. Zuerst schaue ich den Hals an, kontrolliere die Schilddrüse, die Lymphknoten und die...




