Drawert Idylle, rückwärts
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-406-61264-0
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gedichte aus drei Jahrzehnten
E-Book, Deutsch, 273 Seiten
ISBN: 978-3-406-61264-0
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kurt Drawert wurde 1956 in Hennigsdorf (Brandenburg) geboren und lebt seit 1996 als Autor von Lyrik, Prosa und Dramatik in Darmstadt. Zuletzt erschien von ihm die Flaubert-Studie 'Emma. Ein Weg' (2005) und der Roman 'Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte' (C. H. Beck, 2008). Besonders bekannt wurde er mit seiner seit 1987 veröffentlichten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Lyrik: u.a. 'Privateigentum' (1989), 'Wo es war' (1996) und 'Frühjahrskollektion' (2002). Für seine Prosa wurde er ausgezeichnet u.a. mit dem 'Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung', dem 'Uwe-Johnson- Preis' und dem 'Ingeborg-Bachmann-Preis', für seine Lyrik mit dem 'Leonce-und-Lena-Preis', dem 'Lyrikpreis Meran', dem 'Nikolaus-Lenau- Preis' und dem 'Rainer-Malkowski-Preis' der Bayerischen Akademie.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Impressum;4
4;Motto;5
5;I: In den Fabriken (die 80er Jahre);7
5.1;Gedicht, als Brief angekommen, 15.7.1981;8
5.2;Im Rhythmus;9
5.3;Zu mir/für mich;10
5.4;Tagebuch;11
5.5;Zwischenzeitlich;12
5.6;Zu sagen die wenigen Dinge;13
5.7;Projektion;14
5.8;Schließe die Augen;15
5.9;Innenmuster;16
5.10;Zweite Inventur;17
5.11;Gedicht im Juni, Juli, August;19
5.12;Anwesenheit;24
5.13;März;25
5.14;Zu spät gekommen;26
5.15;Artig;27
5.16;Gehen. Kommen. Und gehen.;28
5.17;Abwesenheit;30
5.18;Positive Zahl;31
5.19;Zufällig;32
5.20;Unter uns gesagt;34
5.21;Ohne Ende;35
5.22;Außerhalb;36
5.23;Vom Gehen, und vom Zurückbleiben;37
5.24;Morgen, ohne dich;39
5.25;Ich muß das noch einmal sagen;40
5.26;Ohne Stimme;41
5.27;Personalpronomen;43
5.28;Spurenwechsel;44
5.29;Tief durchatmen;45
5.30;Stilles Bild;47
5.31;Mai;48
5.32;Romanze;50
5.33;Ein verlangsamter und ein beschleunigter Vorgang;51
5.34;Weg. Schritte.;52
5.35;Ziemlich froh;53
5.36;Mißglückt;54
5.37;Nichts Besonderes;55
5.38;Und überhaupt;56
5.39;Beschreib das nicht mehr;57
5.40;Im Klartext;58
5.41;Andere Arbeiter, ein anderer Herbst;60
5.42;Unterwegs – dann grenzüberschreitend;61
5.43;... am sinnvollen Ende der Wälder aber;62
6;II: Der letzte Hund der Geschichte (die 90er Jahre);63
6.1;… doch;64
6.2;Wo es war;65
6.3;Zustandsbeschreibung. Zwischenbericht.;66
6.4;Ortswechsel;68
6.5;Zum deutschen Liedgut;71
6.6;Mit Heine;72
6.7;Unterwegs;73
6.8;Das letzte Bild;74
6.9;Tauben in ortloser Landschaft;75
6.10;… aber das Thema;83
6.11;Näher kommen die Kriege;84
6.12;Sisyphos;85
6.13;… jedoch die Texte;86
6.14;Kaspar Hauser;87
6.15;Binnenreime. Endreime.;88
6.16;Heimatgedicht, C-Dur;90
6.17;Man kann nichts machen dagegen;91
6.18;… vielleicht sind wir alle;93
6.19;Vom Endprodukt her;94
6.20;Ein goldener Herbst. Erfolgreiche Zeiten.;96
6.21;Betriebsnachrichten. Intern.;98
6.22;So gehen die Unsterblichkeiten;99
6.23;Bleib sitzen;101
6.24;Museumsbesuche – ein enzyklopädischer Beitrag;102
6.25;Arten;104
6.26;Geständnis;107
6.27;… doch leer wie die Landschaft;115
6.28;Sonett;116
6.29;Frühling;117
6.30;Frühlingstag;118
6.31;Die Frucht;119
6.32;Leer und sehr blau;121
6.33;Momente;123
6.34;Frieden;124
7;III: Die Lust zu verschwinden im Körper der Texte;125
8;IV: Das Jahr 2000 findet statt / (offline);147
8.1;Just now, 99 am Ende;148
8.2;Vögel;150
8.3;Keine Zeit;151
8.4;Stiller Sonntag;152
8.5;«Der Wald.» Katalogtext und Ausstellungshinweis;153
8.6;Idylle, rückwärts;155
8.7;Koloskopie;157
8.8;Post;158
8.9;Leicht;159
8.10;Wie immer;160
8.11;Ich liebe Industriegebiete;161
8.12;Fit for fun;163
8.13;Subjekt 1 & 2;164
8.14;Töne;165
8.15;Nachbarschaften;166
8.16;Was passiert morgen?;167
8.17;Kontakte;168
8.18;Die Zeit, die stillsteht;169
8.19;Tod einer alten Frau;171
8.20;Zeit;173
8.21;Engel;174
8.22;Efeu;175
8.23;Anrufe;176
8.24;Orientierungslos;177
8.25;Mahnung der Engel;178
8.26;Mathematisch;179
8.27;Regen;180
8.28;Transsib. Trauma. Dante.;181
8.29;Aus dem Nachlaß eines Diktators;183
8.30;Revolutionen. Letzter Stand.;184
8.31;Zbigniew Herbert;185
8.32;Die Engel der Landstraße;188
8.33;Die Beskiden;190
8.34;Krakau. Rynek.;191
8.35;Letzte Tage in Bordeaux;192
8.36;Südlich von Arcachon – Feldpostkarte, im Februar 2001;194
8.37;Geld & Gedichte;196
8.38;klagelied (barock);198
8.39;Zwischen den Zeilen;200
8.40;Mein armer Sohn;201
8.41;Quiz;202
8.42;Geld;203
8.43;Traum der Verführung;204
8.44;Ich wollte noch sagen;205
8.45;Komm wieder, Traum;206
8.46;Aus;207
8.47;Blumenverkäufer;208
8.48;Gewöhnliche Reime;209
8.49;Wunder;210
8.50;Wintergedicht;212
9;V: Laufen. Traumtext.;213
10;VI: Jeder Tag kostet Geld / (Matrix America);219
10.1;Vom Ende der Poesie I-V;220
10.2;Er und ich;224
10.3;Keine schlechten Nachrichten;225
10.4;Kant;226
10.5;Geschichte;227
10.6;Dubai;228
10.7;Im Riesenrad;230
10.8;Tagende;231
10.9;SMS;232
10.10;Im Garten;233
10.11;Ich denke an dich;234
10.12;An einem Ort, später;235
10.13;Fünf Zeilen;236
10.14;Nach dem Sommer;237
10.15;Sylt. Eine Ansichtskarte.;238
10.16;Naturgedicht I-IV;240
10.17;Matrix America;246
10.17.1;I (Good luck am Natursee. Rückblende.);246
10.17.2;II (Die Mode. Der Schlachthof.);250
10.17.3;III (Fast alles Lügen, aber das macht nichts.);253
10.17.4;IV (Zwischentext. Liedhaft.);256
10.17.5;V (Ground Zero. Museum Workshop.);256
10.17.6;VI (Fabriken);257
10.17.7;VII (Livestream, at Oct., 3rd.);258
10.17.8;VIII (Brooklyn Bridge);258
10.17.9;IX (In Erwartung der Steine);260
10.17.10;X (Brighton Beach);263
11;Editorische Notiz;266
12;Inhalt;267
13;Zum Buch;273
II
Der letzte Hund der Geschichte
(die 90er Jahre)
… doch es muß auch eine Hinterlassenschaft geben,
die die Geschichte des Körpers,
auf die ich selbst einmal, denn das Vergessen
wird über die Erinnerung herrschen,
zurückgreifen kann wie auf eine Sammlung
fotografierten Empfindens, und die die Geschichte,
denn das innere Land
wird eine verfallene Burg sein
und keinen Namen mehr haben und betreten sein
von dir als einem Fremden
mit anderer Sprache, erklärt.
Wo es war
Ich wußte nicht mehr, wie wir uns trafen,
damals, in den Städten, in denen heute
die Hymnen verwaist
ihr Vaterland suchen. In den Ruinen
des letzten Krieges war eine friedliche,
vaterlose Stille zu finden.
Hier kam ich als Kind her, verstört,
hier ging es uns gut, hier war die Sprache
außerhalb des Körpers geblieben.
Später, an einer empfindlichen Stelle
der Biographie, brach, wie dem einen
die Stimme, dem anderen
das Rückgrat, erinnere dich,
mir war das Glück des Verstummens
gegeben, wo es war.
Wo es war, hat das Gras schon zu wuchern
begonnen. Die kleine Senke im Boden,
in der ich von Liebe geträumt haben muß,
ist mit Schotter gefüllt, Lachen von Flußtang
und Öl, zerdrückte Aluminiumdosen,
ein Brandfleck. Auch diese Erde
hat ihre Geschichte verleugnet. Schon lange
war es dunkel geworden, als ich noch immer
bewegungslos dastand. Was ich hörte,
war fremd. Was ich dachte. Und es war Tag.
Zustandsbeschreibung. Zwischenbericht.
Im sächsischen L., einer Stadt
im Auswurf der Zeiten,
habe ich nichts mehr
verloren. Gewonnen hab ich
die Einsicht vom Ende
der Herkunft. Was bleibt,
ist der Name
für meine vermutete
Person,
wie er auf amtlichen
Kopfbögen steht,
und daß mein linker Fuß
auf Dauer krank
und verpfuscht ist.
Da hilft auch die Freiheit
als geordnetes Rauschen
im Heizkörper nichts,
nichts hilft
der letzte schöne Weg
aller Dinge von gestern
in die Entsorgung,
nichts hilft die Gnade,
die Orte der Hinfälligkeit
zu vergessen.
Politisch betrachtet
meine ich bildlich gesprochen
schon lange nichts mehr,
und so sage ich klar:
meine Jahre bis heute
sind eine Schleifspur
gebrochener Schritte
aus oben beschriebenen Gründen
im anders grauen Sand.
Ortswechsel
Meine Freunde im Osten
verstehe ich
nicht mehr, im Landstrich
zwischen Hamme und Weser
kenne ich keinen.
Gelegentlich grüßt mich
der taubstumme Bauer
von gegenüber, oder ein Beamter
kommt auftragsgemäß
und überreicht,
was zu befürchten war,
mit lockerer Hand.
Nirgendwo bin ich angekommen.
Nirgendwo war ich zu Haus.
Das stelle ich fest
ohne Trauer. Was also
hole ich her,
wenn ich bleibe,
was sollte bleiben,
wo es jetzt ist.
Der Geruch nach nassem,
faulendem Holz
morscher Dielen
ist im Gedächtnis,
die Gespräche des Nachts
waren wertlos und sind schon
in alle Winde
verkauft. Voyeure
des besseren Wissens
sind wir gewesen, mit der
gesicherten Stille
des dauernden Winters
im Rücken, mit schönen Sätzen,
die irgendwo im Büro
eines kläglichen Amtes
zerbrachen.
Daran
schweigen sich lautstark
meine Freunde von gestern
heute vorbei,
denn schon wieder gilt es,
das falsche Wort
im rechten Moment
zu verpassen, den Startschuß,
das nächste Ziel abwärts.
Jetzt also spreche ich Klartext:
Ihr habt mich getäuscht. Ich
bin ein anderer gewesen
im Zentrum der beschädigten Jahre.
Doch wenn ich, für die Sekunde,
meinen Namen vergesse,
dann verstehe ich wohl
diesen Grabgang
der Sprache und möchte bedauern
und die Verwesung
allen Gewissens
milde betrachten,
so wie sich das Herbstlicht
am Abend sanft senkt
zwischen den Weiden
und die Dinge im Nebel
davongehn wie müde,
geschundene Tiere. Doch
ich verstehe es nicht.
Doch mein Körper
ist ruhig geworden,
und es grüßt mich
der gemiedene Bauer.
Zum deutschen Liedgut
Ich bin ganz von selber gegangen,
und fühlte mich doch wie vertrieben.
Ich bin sehr entschieden gegangen,
und wäre doch gern auch geblieben.
Ich wußte, ich müsse jetzt gehen,
kein Weg war ein Heimweg mir mehr.
Und doch blieb ich einmal noch stehen,
und Schnee lag schon hoch um mich her.
Was hatte ich hier noch zu suchen,
was hielt mich am lichtlosen Ort.
Die Liebe ging fort unter Buchen,
ich wollte ihr gültiges Wort.
Ich habe es nicht mehr gefunden
und habe auch nichts in der Hand.
Im Nebel ist alles verschwunden.
Wir hatten kein brauchbares Land.
Mit Heine
Dies Land, von dem die Rede geht,
es war einst nur in Mauern groß,
dies Land, von Lüge zugeweht,
ich glaubte schon, ich wär es los.
Ich glaubte schon, es wär entschieden,
daß wer nur geht, auch gut vergißt.
Doch war nun auch ein Ort gemieden,
der tief ins Fleisch gedrungen ist.
Als fremder Brief mit sieben Siegeln
ist mir im Herzen fern das Land.
Doch hinter allen starken Riegeln
ist mir sein Name eingebrannt.
Unterwegs
Wo immer ich bin, bin ich fremd.
Meine jeweils flüchtigen Freunde,
deren Namen ich jeweils vergaß,
erinnern sich, wenn wir uns treffen,
nicht meines Namens.
Ich erkläre mich neu,
von Ort zu Ort anders,
und fahre weiter.
Unterwegs dann wird die Geschichte,
die meinem Körper gehört,
zunehmend fremder vor der Geschichte,
die ich erzähle.
Abermals angekommen,
bin ich mir selbst fern.
Nur die Dinge im Koffer
sind noch aus einem Leben geblieben,
das ich geführt haben muß.
Sie erzählen ins Leere,
wann etwas war, und bleiben
zerbrechlich.
Das letzte Bild
Jetzt singen sie auf den Märkten
des Westens. Ich sah sie noch auf hohen Tribünen,
wir waren gerade verkleidet und spielten Pioniere im Land,
Adoptivenkel stolzer, russischer Folkloresoldaten.
Wie faules Obst von den Zweigen
stürzten später die Engel. Wer erwachsen genug war,
schaufelte die Gräber. Ihre Lieder änderten sich nicht.
Eine rote Nase aus Pappe aber vollendet das Bild
und erklärt, was die Texte verschweigen. Danke.
Tauben in ortloser Landschaft
Mein kleines, aufgeschlitztes Land
mit seiner textlosen Hymne –
begraben liegt es im Himmelreich
der Hunde, und modert,
und verendet nicht. Wie die gelben,
giftigen Tauben mit gedunsenen Leibern
in den faulenden Giebeln der Häuser,
wo sie hocken, kraftlos und ewig
auf den schwarzweißen Bergen
eigenen Kots, schaut es, gescheitert
an seinen historischen Siegen,
herab und verspricht sich
für einen siebenten Tag im Oktober
noch einmal. Diese gründliche Warnung
hat uns, als Mythos über Vergangenes,
schon aus den Schleusen der Zukunft
erreicht und läßt uns entstellt
ohne Gedächtnis hinter uns selber
zurück. Die Tauben aber, sie wollen,
doch sie können nicht sterben,
diese letzten, sprachlosen Zeugen
in den Ruinen der Republik.
Wie lebendig in gläsernen Särgen
des Vergessens bestattet,
sind sie sichtbar doch
in ihrer dauernden Krankheit,
und wo immer sie sind,
und wo immer man stolpert
und strauchelt und hinstürzt,
ist, eine Körperlänge unter uns,
ein Grab und ein Kreuzgang
in die Verliese dieser verpfuschten
Epoche, wo die rechtlosen Toten
ihren Weg durch die Finsternis gehn
im stummen, spurenlosen Schritt.
Und wie Hospitäler des Siechtums
am Rande der Städte liegen die Sätze
zur Erklärung des Niedergangs bereit,
weite gehobene Senken zur Entsorgung
von Biographien, Abwassergruben
der Sprache für die Chiffren einer
Verfehlung, wie sie staatlich
subventioniert war, im Untergrund
solcher neudeutschen Stunden,
die im Ehrgeiz der Pioniere beim Klang
von Schalmeien beschäftigt vergehn
und ihr grünes, grundverschmutztes Blut
in künftige Zeiten vergießen....