Buch, Deutsch, 386 Seiten, KART, Format (B × H): 136 mm x 213 mm, Gewicht: 491 g
Zum Verhältnis von Hochschule und Wissenschaft in Deutschland
Buch, Deutsch, 386 Seiten, KART, Format (B × H): 136 mm x 213 mm, Gewicht: 491 g
Reihe: Schwerpunktreihe Hochschule und Beruf
ISBN: 978-3-593-50967-9
Verlag: Campus Verlag GmbH
Wie haben die Institutionen des deutschen Hochschul- und Wissenschaftssystems die Entwicklung wissenschaftlicher Produktivität beeinflusst? Jennifer Dusdal zeigt, welche Organisationsformen Wissenschaft produzieren und wie sich ihre Ziele, Aufgaben und Arten der Forschung unterscheiden. Sie hat Zeitschriftenartikel aus den Naturund Technikwissenschaften sowie der Medizin untersucht, die zwischen 1900 und 2010 publiziert wurden. So wird deutlich, dass die Universität die wichtigste Wissenschaft produzierende Organisationsform geblieben ist und die wissenschaftliche Produktivität aufgrund gestiegener Forschungskooperationen exponenziell gewachsen ist.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Wirtschaftssoziologie, Arbeitssoziologie, Organisationssoziologie
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften Interdisziplinär Universitäten, Wissenschaftliche Akademien, Gelehrtengesellschaften
- Sozialwissenschaften Pädagogik Schulen, Schulleitung Universitäten, Hochschulen
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Wissenssoziologie, Wissenschaftssoziologie, Techniksoziologie
- Geisteswissenschaften Philosophie Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsphilosophie
Weitere Infos & Material
Inhalt
1. Zwischen Expansion, Vielfalt und Kooperation: Publikationen als Kennzeichen wissenschaftlicher Produktivität 9
1.1 Zur Relevanz des Themas 11
1.2 Forschungsleitende Fragen 14
1.3 Publikationen in Zeitschriften als zentrales Kennzeichen wissenschaftlicher Produktivität 18
1.4 Getting into Print: Von der Forschungsidee zum fertigen Artikel 29
1.5 Möglichkeiten und Grenzen der Arbeit 34
1.6 Die Struktur der Arbeit 35
2. Multidisziplinärer Kontext 37
2.1 Perspektiven der Hochschul- und Wissenschaftsforschung 38
2.2 Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft: Die Sonderstellung wissenschaftlichen Wissens 52
2.3 Die Entstehung der Wissenschaft als soziale Institution 55
2.4 Little Science, Big Science: Von der Studierstube zur Großforschung 59
3. Aktueller Stand der Forschung 69
3.1 Hochschul- und Wissenschaftssysteme im internationalen Vergleich 69
3.2 Exponentielles Wachstum wissenschaftlicher Produktivität 72
3.3 Die Untersuchung von Organisationsformen, die an der Produktion wissenschaftlichen Wissens beteiligt sind 73
3.4 Nationale und internationale Kooperationen 75
3.5 Die Repräsentativität der Daten des SCIE zur Nutzung von vergleichenden Publikationsanalysen 76
3.6 Zitationsanalysen zur Messung der Qualität wissenschaftlicher Publikationen 79
4. Theoretischer Rahmen: Erklärungsansätze zur Beschreibung der Entwicklung und Institutionalisierung globaler Wissenschaft 82
4.1 Neo-Institutionalismus 83
4.2 Vergleichende institutionelle Theorie: Ein Mehrebenenansatz 94
4.3 Die Transformation der Wissenschaft 100
5. Bibliometrische Analysen im Überblick 108
6. Forschungsdesign und Methoden 113
6.1 SPHERE: Science Productivity, Higher Education, Research and Development, and the Knowledge Society 114
6.2 Methodisches Vorgehen 116
6.3 Herausforderungen im Umgang mit bibliometrischen Daten 127
6.4 Die Repräsentativität der Daten 131
6.5 Die Daten der OECD, des Statistischen Bundesamtes und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung 134
6.6 Konzeptspezifikation und Operationalisierung 135
6.7 Unterschiedliche Methoden zur Berechnung der wissenschaftlichen Produktivität 145
6.8 Die Gewichtung der Daten 149
7. The Global Picture - Hochschul- und Wissenschaftssysteme im Vergleich 152
7.1 It's a World Society - Wissenschaft im 20. Jahrhundert 153
7.2 Die empirische Überprüfung Derek J. de Solla Prices These des exponentiellen Wachstums wissenschaftlicher Literatur 166
8. Die Institutionalisierung des deutschen Hochschul- und Wissenschaftssystems 190
8.1 Von Humboldt nach Harvard: Universitäten zwischen Forschung und Lehre 193
8.2 Die Konzentration außeruniversitärer Institute auf wissenschaftliche Forschung 208
8.3 Die anwendungs- und praxisorientierten Fachhochschulen 217
8.4 Die Finanzierung von Forschung und Entwicklung in Deutschland 219
8.5 Wissenschaft als Produktivkraft: Die Organisation der Forschung in der DDR 224
9. Das Zusammenspiel der Organisationsformen der Wissenschaft in Deutschland von 1900 bis 2010 231
9.1 Das Wachstum wissenschaftlicher Publikationen in Deutschland 232
9.2 Die klassischen Organisationen wissenschaftlicher Produktivität im Vergleich 238
9.3 Mehr als nur Universitäten und Forschungsinstitute: Das organisationale Feld der Wissenschaft 243
9.4 Die führenden Wissenschaftsproduzenten Deutschlands 283
10. Nationale und internationale Forschungskooperationen 291
10.1 Der Austausch wissenschaftlichen Wissens durch "brain drain" und "brain circulation" 293
10.2 In Einsamkeit und Freiheit? Die weltweite Entwicklung wissenschaftlicher Zusammenarbeit 294
10.3 Was sind nationale und internationale Kooperationen und wie können sie gemessen werden? 296
10.4 Der Anstieg nationaler und internationaler Kooperationen 307
11. Schlussbetrachtung und Diskussion der Ergebnisse 313
12. Ausblick und offene Fragen 323
Abbildungen und Tabellen 328
Abkürzungen 333
Literatur 338
Dank 383
1. Zwischen Expansion, Vielfalt und Kooperation: Publikationen als Kennzeichen wissenschaftlicher Produktivität
Wissenschaftliche Zeitschriften und die in ihnen veröffentlichten Artikel spielen eine wichtige Rolle innerhalb der Wissenschaft. Warum? Ein Ziel wissenschaftlicher Forschung ist es, sichere Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen, die sich zunächst in der Praxis bewähren müssen. Durch die Gewinnung von Daten können Hypothesen und theoretische Annahmen eines Forschers getestet werden. In der Forschung produziertes Wissen wird innerhalb der Fachgemeinschaft kollektiv abgesichert, indem es strengen Tests unterworfen wird. Diese Art der Diskussion wissenschaftlichen Wissens wird unter anderem in schriftlicher Form geführt. Jedoch eignen sich wissenschaftliche Publikationen nicht nur zur fachlichen Diskussion innerhalb der Gemeinschaft der Forschenden, sie dienen auch der Reputation des einzelnen Wissenschaftlers. Nach einer ersten Publikation von Forschungsergebnissen ist das gewonnene Wissen nicht mehr neu, da jede weitere folgende Diskussion des Themas auf vorangegangene Veröffentlichungen Bezug nehmen muss. Somit dienen sie gleichzeitig als Aufforderung für Wissenschaftler bereits gewonnenen Ergebnisse für eigene Forschungsvorhaben zu nutzen (McClellan 2003: 235). Schon Robert K. Merton hat 1988 dieses spezifische Verhältnis von Zusammenarbeit und Wettbewerb bei der Produktion wissenschaftlichen Wissens beschrieben:
"That crucial element of free and open communication is what I have described as the norm of ›communism‹ in the social institution of science …. Institutionalized arrangements have evolved to motivate scientists to contribute freely to the common wealth of knowledge according to their trained capacities, just as they can freely take from that common wealth what they need." (Merton 1988: 629)
Die Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse ist somit unerlässlich, da nicht publizierte Ergebnisse für die Wissenschaft nicht existieren und Originalmitteilungen von Forschungsergebnissen in Form von Aufsätzen in Fachzeitschriften eine bestimmte Struktur aufweisen, aus der sich ihre Funktion in der Wissenskommunikation ableiten lässt: Sie sollen die Gewinnung neuen Wissens dokumentieren und kommunizieren, was nicht ohne Bezug auf vorangegangene Forschungsarbeiten möglich ist (Havemann 2009: 7f.). Um Informationen über die Wahrnehmung von Veröffentlichungen eines einzelnen Forschers, einer Forschergruppe, oder einer ganzen Institution zu bekommen, können bibliometrische Datenbanken eingesetzt werden (Havemann 2009: 3).
"Sie sind ein Instrument, um Aufschlüsse über die wissenschaftliche Publikationsleistung, die Integration der Wissenschaftslandschaft und die internationale Sichtbarkeit von Forschungsergebnissen zu erhalten." (Ball/Tunger 2005: 15)
Bereits der Titel meiner Dissertation Welche Organisationsformen produzieren Wissenschaft? Zum Verhältnis von Hochschule und Wissenschaft in Deutschland verspricht, dass sich dem Thema der Entwicklung wissenschaftlicher Produktivität in Deutschland aus verschiedenen Perspektiven genähert werden soll. Meine Studie ist eine der ersten, die eine systematische historische und institutionelle Analyse der Entwicklung des ungebremsten Wachstums wissenschaftlicher Produktivität und der Entwicklung der Hochschulbildung anhand eines langen historischen Zeitrahmens anstrebt. Untersucht wird, wie sich die Entwicklung der Hochschulbildung und der (wissenschaftlichen) Einrichtungen, die Publikationen in Fachzeitschriften veröffentlichen, auf die wissenschaftliche Produktivität auswirken. Mich interessiert, wie sich auf diese Weise die Grundlagen einer Wissensgesellschaft herausgebildet haben. Wie zu zeigen sein wird, tragen nicht nur die "klassischen" Organisationsformen - Universitäten und außeruniversitäre Forschungsinstitute - zur Produktion wissenschaftlichen Wissens bei, sondern auch viele andere, unter ihnen Unternehmen, Behörden und Ressortforschungseinrichtungen sowie Krankenhäuser. Es geht darum, zu erforschen, wie die im deutschen Hochschul- und Wissenschaftssystem vorherrschenden Strukturen und institutionellen Settings die langfristige Entwicklung der wissenschaftlichen Produktivität beeinflusst und eventuell auch verändert haben. Im Zuge der voranschreitenden Globalisierung und Institutionalisierung der Wissenschaft, einer weltweiten Vernetzung von Wissenschaftlern und steigender Mobilität kommt es zu einem vermehrten Austausch von Wissen über die Grenzen eines Landes hinweg. An diese Beobachtung anschließend möchte ich untersuchen, wie sich die nationalen und internationalen Kooperationen in Form von Publikationen in Ko-Autorenschaften im internationalen Vergleich entwickelt haben.
Bevor die Ergebnisse dieser Arbeit vorgestellt werden, möchte ich in einem ersten Schritt die Relevanz des Themas herausstellen (Abschnitt 1.1). In einem zweiten Schritt werden die zu beantwortenden Forschungsfragen präsentiert, indem entlang des Titels der Arbeit die unterschiedlichen Ebenen und Dimensionen der folgenden Analysen diskutiert werden (Abschnitt 1.2). Um sich dem Thema zu nähern, wird in einem dritten Schritt auf den Begriff der wissenschaftlichen Produktivität eingegangen (Abschnitt 1.3). Es ist zu klären, was in dieser Arbeit unter wissenschaftlicher Produktivität verstanden wird und warum der Peer-Review-Prozess ein zentrales Verfahren zur Sicherung der Qualität in der Wissenschaft ist. Hieran anschließend folgt in einem vierten Schritt eine Beschreibung, wie aus einer ersten Forschungsidee ein publizierbares Manuskript in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift entsteht und was das Durchlaufen des peer review für einen Wissenschaftler bedeutet (Abschnitt 1.4). Die Beschreibung der Möglichkeiten und Grenzen dieser Arbeit (Abschnitt 1.5) und ein Hinweis auf die folgende Struktur (Abschnitt 1.6) schließen die Einleitung meiner Dissertation ab.
1.1 Zur Relevanz des Themas
Die aus Zeitungsausschnitten hergestellte Collage des argentinischen Künstlers Rirkrit Tiravanija, ausgestellt im Museum of Modern Art in New York City, ist überschrieben mit der Aussage The Days of this Society is Numbered und zeigt eine Auswahl an Zeitungsartikeln, die alltägliche Dinge unseres Lebens in Tabellen, Diagrammen oder Bildern zusammenfasst (Abbildung 1).
Die numerische Abbildung komplizierter Sachverhalte macht es einfach ihren Inhalt zu verstehen. Auch in den Alltag von Wissenschaftlern haben Zahlen in den letzten Jahren mehr und mehr Einzug gehalten. Wir zählen unsere Publikationen, werden auf Basis unserer Publikationen evaluiert und geben unser Bestes um unsere Forschungsergebnisse in Monografien, Sammelbänden oder Zeitschriftenartikeln zu publizieren. Das Teilen von Erkenntnissen ist fester Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeit. Jedoch kam es in den letzten Jahrzehnten zu einer Veränderung der weltweiten Entwicklung der Wissenschaft und somit auch in Deutschland, eines der ältesten Hochschul- und Wissenschaftssysteme weltweit, das an der Produktion wissenschaftlichen Wissens maßgeblich beteiligt ist.
Nach einer längeren Phase der Stagnation trat das deutsche Hochschul- und Wissenschaftssystem in eine Phase der Umgestaltung ein. Durch die Gründung außeruniversitärer Forschungsinstitute zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Einrichtung anwendungs- und praxisorientierter Fachhochschulen in den 1960er Jahren, einer rückläufigen staatlichen Finanzierung der Forschung an den Universitäten und immer stärker werdenden Internationalisierungs- und Europäisierungsprozessen gerieten die modernen Universitäten, die zusätzlich zur Forschung der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der Studierenden nachkommen müssen, immer stärker unter Druck. Einerseits wird mehr Zusammenarbeit zwischen den als "klassische" Organisationsformen der Wissenschaft bezeichneten Organisationen und den in ihr beschäftigten Wissenschaftlern gefordert, andererseits werden nationale und internationale Kooperationen durch Programme und Förderanreize gestärkt. Es kam zur Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen im Zuge des Bologna-Prozesses und der Auslobung von zusätzlichen Forschungsgeldern für herausragende Universitäten. Ziel der "Exzellenzinitiative" ist die Förderung von Spitzenforschung innerhalb der Universitäten. Die Doktorandenausbildung wurde reformiert, um den wissenschaftlichen Nachwuchs besser auf eine Karriere innerhalb und außerhalb der Wissenschaft vorzubereiten. Rankings, Ratings und leistungsorientierte Mittelvergabe sind nur drei Schlagworte im Kampf um den Titel der "besten Uni der Bundesrepublik". Zugleich wird die chronische Unterfinanzierung des Systems von Wissenschaftlern, politischen Entscheidungsträgern und den wichtigsten wissenschaftspolitischen Beratungsgremien angemahnt. Die Grenzen zwischen den Institutionen, Disziplinen und Aufgabenbereichen sowie den Formen der Forschung werden brüchig (Simon u.a. 2010: 9f.). Als Pendant zur "Exzellenzinitiative" (Münch 2007) wurde im Jahr 2005 der "Pakt für Forschung und Innovation" zur finanziellen Unterstützung der vier großen außeruniversitären Forschungsorganisationen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft ins Leben gerufen. Ziel des Paktes ist die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wissenschaft und eine bessere Ausschöpfung der vorhandenen Potenziale. Die Zusammenarbeit zwischen den geförderten Organisationen soll vorangetrieben werden, um im internationalen Wettbewerb Bestand zu haben.
Die institutionelle Verflechtung findet jedoch nicht nur zwischen den Kerninstitutionen der Wissenschaft statt, sondern auch der Zusammenschluss von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft schreitet immer weiter voran. Es kommt zu einer Verwischung der Grenzen. Peter Weingart (2013 ?2003?: 89ff.) bezeichnet dieses Phänomen als Kopplung von Wissenschaft und Politik oder Wirtschaft. Individuen, Organisationen und Nationalstaaten können nicht mehr nur isoliert voneinander betrachtet werden, sondern sind in größeren sozialen Zusammenhängen miteinander verbunden. Europäisierung, Internationalisierung und Globalisierung sind prominente Schlagworte zur Beschreibung dieser makrosoziologischen Zusammenhänge. Die dort vorherrschenden Akteure sind in übergreifende Regelsysteme eingebettet, die im Rahmen der neoinstitutionalistischen Theorie als Institutionen bezeichnet werden (Hasse/Krücken 2005: 7f.).
Um die weltweite Expansion, Vielfalt und Kooperation des deutschen Hochschul- und Wissenschaftssystems sowie die nationale Kapazität wissenschaftlicher Forschung und die Produktion wissenschaftlichen Wissens untersuchen zu können, müssen folgende Trends, die die Entwicklung einer globalen Wissensgesellschaft vorangetrieben haben, berücksichtigt werden: Erstens, eine grenzüberschreitende Verwissenschaftlichung und Etablierung der Wissenschaft als Weltkultur (world polity) (Drori u.a. 2003; Drori u.a. 2006; Meyer 2009) und eine Verschiebung des Zentrums wissenschaftlicher Produktivität im Verlauf des 20. Jahrhunderts (Zhang u.a. 2015).
Zweitens, die Institutionalisierung der Bildung (Meyer 1977) und die Herausbildung einer schooled society (Baker 2014), in der Bildungsinstitutionen einen erheblichen Einfluss auf die Konstitution der Gesellschaft ausüben.
Drittens, die Gründung neuer (Massen-)Universitäten im Zuge der Hochschulexpansion (Meyer u.a. 2008; Schofer/Meyer 2005). Durch diese Entwicklung wurde Hochschulbildung auf einmal für viele Studierende zugänglich und Universitäten trugen zum globalen Paradigma für Hochschulbildung und Wissensproduktion bei (Baker 2014; Hadjar/Becker 2006). Die Expansion führte zu neuen Formen der Generierung von Wissen und politische Entscheidungsträger betrachteten wissenschaftliche (Aus-) Bildung von nun an als Ressource wirtschaftlichen Wachstums (Drori 2000).
Viertens, ein massiver Anstieg wissenschaftlicher Produktivität in Form von Zeitschriftenartikeln (de Solla Price 1961; 1974 ?1963?), steigender Wettbewerb und ein erheblicher Anstieg nationaler und internationaler Forschungskooperationen (Lukkonen u.a. 1992; Jeong u.a. 2014).
Innerhalb der letzten Jahrzehnte rückte wissenschaftliches Wissen und seine Entstehung immer weiter ins Zentrum politischen Interesses, unabhängig davon, ob es sich um Grundlagenwissen oder angewandtes Wissen handelt. Es spielt auch keine Rolle, wo das Wissen produziert wurde, ob in Universitäten oder anderen Organisationen (Pestre 2003: 247). Aus diesem Grund ist es erforderlich die Orte der Produktion wissenschaftlichen Wissens zu identifizieren und herauszufinden, mit welchen Interessen seine Produktion erfolgte. Welche Fragen in dieser Arbeit beantwortet werden sollen, wird im folgenden Abschnitt erklärt.
1.2 Forschungsleitende Fragen
Die Fülle an Literatur zum Thema, besonders aus dem Forschungsfeld der Bibliometrie, suggeriert, dass wir eigentlich schon wissen, wie der Trend der Entwicklung der Publikationszahlen weltweit und auch in vielen etablierten und bereits lange bestehenden Hochschul- und Wissenschaftssystem aussehen müsste. Allerdings beziehen sich die vorliegenden Studien meist auf einen sehr begrenzten Zeitraum der neueren Entwicklungen seit den 1980er Jahren. Meine Arbeit hingegen betrachtet die Entwicklung der Publikationszahlen über eine Zeitspanne von mehr als einem Jahrhundert, von 1900 bis 2010, also seit Beginn der Sammlung von Publikationen in Thomson Reuters Web of Science (heute: Clarivate Analytics) Zeitschriftendatenbank. Zur Analyse wird der Science Scitation Index Expanded herangezogen, der hauptsächlich Zeitschriften aus dem Bereich der Natur- und Technikwissenschaften sowie der Medizin enthält. Besonders wichtig ist mir, die zur Verfügung stehenden Daten mit dem multidisziplinären Kontext der Arbeit in Beziehung zu setzen, da Publikationsanalysen häufig als zentrale Aufgabe der Bibliometrie angesehen werden. Jedoch werden die von den Wissenschaftlern produzierten Kennzahlen, Indikatoren und Daten von anderen Akteuren wie Hochschulmanagern, Politikern oder aber auch anderen Forschern genutzt, um Aussagen über die Qualität der Wissenschaft zu treffen, sich miteinander zu vergleichen, oder aber um steuernd in die Organisation und Strukturen der Wissenschaft einzugreifen. Publikationszahlen spielen auch eine Rolle, wenn es um die Vergabe von Drittmitteln oder die Besetzung neuer Stellen und der Berufung von Professoren geht. Jedoch ist eine Interpretation der zur Verfügung stehenden Informationen nur mit hohem Sachverstand zu bewältigen. An diesem Punkt wird deutlich, dass Publikationsanalysen in einem breiteren Kontext betrachtet werden müssen. Sie berühren auch die Hochschul- und Wissenschaftsforschung als zentrale Disziplinen, die sich mit der Entwicklung der Hochschulbildung und den in ihr befindlichen Organisationen und Akteuren auseinandersetzen. Dennoch ist zu beobachten, dass es in den letzten Jahren zu einer Annäherung der Teilbereiche der Wissenschaft kam, zumindest in Deutschland (Kapitel 2). In dieser Arbeit wird auf eine Verzahnung von empirischen Daten mit theoretischen Konzepten geachtet. Es ist zwar spannend, allein die Entwicklung der Publikationszahlen oder die Zahl der nationalen und internationalen Forschungskooperationen zu betrachten und eine Auswertung der Wissenschaft produzierenden Organisationsformen vorzunehmen, jedoch schließt sich hier die Frage an, wie es zur beobachteten Entwicklung kam und mit Hilfe welcher Konzepte eine Kontextualisierung der Befunde vorgenommen werden kann, um den Anstieg der Publikationszahlen zu erklären.
Das vorliegende Buch bearbeitet ein Forschungsthema, dem sich mit unterschiedlichen Fragestellungen auf unterschiedlichen Ebenen, Dimensionen und Zeitpunkten genähert wird.?In der Soziologie werden klassischerweise drei Analyseebenen voneinander unterschieden: Makro-, Meso- und Mikroebene. Auf der Makroebene geht es um eine Beschreibung des weltweiten Trends wissenschaftlicher Produktivität im Zeitverlauf, aber auch um vergleichende Analysen ausgewählter europäischer Hochschul- und Wissenschaftssysteme: Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Luxemburg. Die Beschreibung des globalen Kontexts ist essentiell, um die Entwicklung des deutschen Hochschul- und Wissenschaftssystems verstehen zu können. Hinzu kommt die zunehmende Internationalisierung der Forschung, einhergehend mit anwachsenden nationalen und internationalen Kooperationen seit den 1990er Jahren weltweit. Auf der Mesoebene werden die Organisationsformen und Einzelorganisationen untersucht, die hauptsächlich zur wissenschaftlichen Produktivität des deutschen Hochschul- und Wissenschaftssystems beitragen. Hierbei handelt es sich um eine umfangreiche Einzelfallanalyse. Ein Vergleich mit anderen Ländern ist in dieser Arbeit auf der Mesoebene nicht vorgesehen. Die Mikroebene strebt eine Analyse des Publikationsoutputs einzelner Wissenschaftler an. Da persönliche Informationen, wie die Namen von Wissenschaftlern, zu Einzelpersonen für diese Arbeit nicht zur Verfügung stehen, muss auf eine Untersuchung dieser Analyseebene verzichtet werden. Zu beachten ist aber, dass die Publikationstätigkeit an sich, also das Schreiben eines Zeitschriftenartikels, nicht von einem Land oder einer Organisation durchgeführt werden kann, sondern die Ergebnisse dieser Arbeit immer in Zusammenhang mit dem in den Ländern oder Organisationen arbeitenden Wissenschaftlern gesehen werden müssen.
Die Dimensionen der Arbeit umfassen die folgenden drei Aspekte: Expansion, Vielfalt und Kooperation. Unter Expansion wird das exponentielle Wachstum der Wissenschaft verstanden, das erstens auf der Makroebene durch eine Analyse der weltweiten Publikationszahlen analysiert wird, zweitens einen europäischen Vergleich des Wachstums ausgewählter Länder vorsieht und drittens auf nationaler Ebene eine Auswertung der wissenschaftlichen Zeitschriftenartikel in Deutschland unter Berücksichtigung einer detaillierten Analyse der Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik nach Abschluss des Zweiten Weltkrieges und bis zur Wiedervereinigung vorsieht. Viertens wird zu zeigen sein, dass es auch im Zuge der Globalisierung der Wissenschaft zu einer Expansion der Kooperationen einzelner Hochschul- und Wissenschaftssysteme kam, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Vielfalt wird in dieser Arbeit ausschließlich auf der Mesoebene untersucht. Unter ihr wird die Entwicklung der an der Produktion wissenschaftlichen Wissens beteiligten Organisationsformen in Deutschland verstanden. Kooperationen können wiederum nicht auf der Mesoebene analysiert werden, da keine Daten zu den Organisationsformen in unterschiedlichen Ländern vorliegen und eine Auswertung der Kooperationen mit deutscher Beteiligung den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätte. Somit beschränke ich mich auf eine Bearbeitung der Entwicklung nationaler und internationaler Kooperationen im Vergleich mit ausgewählten Hochschul- und Wissenschaftssystemen. Hierzu zählen Belgien, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Japan, Luxemburg und die USA.
Der zeitliche Rahmen meiner Analyse umfasst die Jahre 1900 bis 2010. Die Auswertung der Daten wurde in den meisten Fällen in 5- bis 10-Jahres-Schritten durchgeführt. Absolute Publikationszahlen wurden für alle Länder in 5-Jahres-Schritten ermittelt. Die Nutzung der Rohdaten ermöglicht diese feine Abstufung. Aufgrund des hohen Kodieraufwands zur Aufbereitung der Daten für die Analysen auf der Mesoebene (Kapitel 6), kann die Auswertung des Publikationsoutputs der Organisationsformen in Deutschland in dieser Arbeit lediglich in Abständen von 10 Jahren erfolgen. Das gleiche gilt für die Untersuchung der nationalen und internationalen Kooperationen im Vergleich.
Aus der Verzahnung unterschiedlicher Analyseebenen, Dimensionen und des Zeitrahmens wurde der empirische Teil der Arbeit in drei Kapitel unterteilt, die sich unterschiedlichen Fragestellungen widmen, aber mit der übergeordneten und leitenden Forschungsfrage dieser Arbeit verbunden sind:
Welche Organisationsformen produzieren Wissenschaft?
Bevor mit der eigentlichen detaillierten historischen und institutionellen Analyse des deutschen Hochschul- und Wissenschaftssystems und der wissenschaftlichen Produktivität in Deutschland begonnen werden kann, erfolgt die Einbettung der Fallstudie in den weltweiten und europäischen Kontext. Folgende Fragen strukturieren das Kapitel:
1. Wie hat sich die wissenschaftliche Produktivität weltweit und im europäischen Vergleich zwischen 1900 und 2010 entwickelt?
Als überleitende Frage vom globalen und europäischen Kontext und als Hinführung zur Untersuchung Deutschlands wird die Frage aufgeworfen:
2. Wie war/ist das deutsche Hochschul- und Wissenschaftssystem in die globalen Entwicklungen der Hochschulbildung und Wissenschaft im Zeitverlauf eingebettet?
Das zweite empirische Kapitel bildet das Herzstück dieser Dissertation und widmet sich der Erörterung der Frage, welche Organisationsformen in Deutschland im Zeitraum von 1900 bis 2010 Wissenschaft produziert haben. Vier Forschungsfragen sollen beantwortet werden:
3. Wie hat sich die wissenschaftliche Produktivität in Deutschland zwischen 1900 und 2010 entwickelt? ?
4. Unter allen Wissenschaft produzierenden Organisationsformen, was tragen die "klassischen" Formen zur wissenschaftlichen Produktivität bei?
5. Welche Organisationsformen stellen die besten Bedingungen für wissenschaftliche Produktivität bereit? ?
6. Welche Einzelorganisationen gehören zu den forschungsstärksten in Deutschland? ?
Im dritten und letzten empirischen Kapitel werden nationale und internationale Kooperationen durch eine Analyse von Ko-Autorenschaften im internationalen Vergleich anhand folgender Fragestellung untersucht:
7. Welchen Einfluss hat die zunehmende Internationalisierung der Forschung auf nationale und internationale Kooperationen in Form von Publikationen in Zeitschriftenartikeln?
Nach Vorstellung der Forschungsfragen dieser Arbeit wird im nächsten Abschnitt eine Begriffsdefinition vorgenommen, um zu klären, was unter wissenschaftlicher Produktivität verstanden wird und wie diese in Zusammenhang mit dem in der Wissenschaft vorherrschenden Konzept des peer review steht.
1.3 Publikationen in Zeitschriften als zentrales Kennzeichen wissenschaftlicher Produktivität
Nichts als Gutachten im Kopf (Spiewak 2016) titelte die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" am 28. Juli 2016. "Wer forscht, muss in Fachzeitschriften publizieren. Aber nicht ohne Kontrolle durch Kollegen." Mit dieser Aussage charakterisiert der Autor des Artikels einen zentralen Punkt der Wissenschaft. Bereits seit längerem wird darüber diskutiert, wie und in welchen Formaten neues Wissen kommuniziert und publiziert werden soll (zum Vergleich der deutschen Chemie und Soziologie siehe Volkmann u.a. 2014). Hierbei gehen die Meinungen zwischen den Disziplinen stark auseinander. Besonders die Geistes- und Sozialwissenschaften unterscheiden sich von den Natur- und Technikwissenschaften und der Medizin. Erstere verfassen häufig Monografien und veröffentlichen Beiträge in Sammelbänden, letztere melden Erfindungen zum Patent an oder haben die Veröffentlichung von Artikeln in hochklassigen wissenschaftlichen Zeitschriften bereits zum gold standard (Altbach 2016: 8) erklärt. Gemeinsam haben sie alle, dass Zeitschriftenpublikationen einen immer höheren Stellenwert einnehmen, jedoch reichen die Anfänge wissenschaftlicher Kommunikation in Form wissenschaftlicher und technischer Journale bis ins 17. Jahrhundert zurück (Kronick 1962). Ohne Publikationen, egal in welcher Form, gäbe es keinen Wissensfortschritt. Durch die Veröffentlichung prüft die wissenschaftliche Gemeinschaft anhand der Kritrien des eigenen Fachs, was als Wissen gelten kann. Sie bilden die Grundlage für die Zuweisung von Reputation und heben die Bedeutung von Forschungsthemen hervor (BBAW 2015: 11). Publikationen dienen aber nicht mehr nur dazu, generiertes Wissen zu verbreiten. Auch andere Akteure, wie Regierungen und Geldgeber, haben ein Interesse an der Publikation von Forschungsergebnissen, besonders wenn es sich um öffentlich finanzierte Forschung handelt. Es geht aber nicht ausschließlich um Geld, sondern auch um die Legitimierung des Beitrags der Forschung für die Gesellschaft oder ein Interesse an der Evaluierung wissenschaftlicher Performanz von Organisationen oder einzelner Wissenschaftler. Die Entscheidung für ein bestimmtes Publikationsformat wird von miteinander in Beziehung stehenden Motiven beeinflusst: Neben die Distribution von Wissen treten der Anspruch der Sicherung des Wissens als geistiges Eigentum, der Erhalt von Anerkennung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft für die geleistete Arbeit, aber auch Anforderungen der Mittelgeber oder der Organisation, an der die Wissenschaftler beschäftigt sind. Hinzu kommt der Gebrauch der Messung von Publikationszahlen als Indikator für die Qualität der Forschungsarbeit oder ihres Einflusses (Research Information Network 2009: 2). Publiziert wird aber nicht einfach in irgendeiner Zeitschrift, sondern vorzugsweise in Journalen, die einen hohem Impactfaktor aufweisen und eine Begutachtung der Beiträge durch Fachkollegen durchführen.
Die Beurteilung wissenschaftlicher Leistung wird heute also nicht mehr in Frage gestellt, sie ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Es geht vielmehr um die Frage, wie am besten vorgegangen werden sollte. Verschiedene Formen qualitativer Expertenbeurteilungen stehen einer Vielzahl quantitativer Indikatoren gegenüber, die Gegenpole im breiten Spektrum möglicher Verfahren der Qualitätsbewertung bilden (Hornbostel 2000: 19). Da in dieser Arbeit die Vermessung der Produktion wissenschaftlichen Wissens in Form von Zeitschriftenartikeln im Zentrum des Interesses steht, wird auf die qualitativen Formen der Bewertung wissenschaftlicher Leistungen nicht eingegangen.