Egan Teranesia
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-19155-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch
ISBN: 978-3-641-19155-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf der von Rebellen heftig umkämpften Molukken-Insel Teranesia treten bei Tieren merkwürdige genetische Veränderungen auf, die unmöglich natürlichen Ursprungs sein können. Unter Lebensgefahr versuchen die Wissenschaftler herauszufinden, was die Ursache für diese rätselhaften Mutationen sein könnte. Wer hat die Abweichung in der DNS in die Wege geleitet und zu welchem Zweck? Als die Veränderungen schließlich auch auf die Menschen übergreifen, gerät die Lage außer Kontrolle. Gibt es in letzter Sekunde eine Lösung – oder muss alles Leben weiträumig vernichtet werden, um die irdische Ökologie zu retten?
Greg Egan wurde am 20. August 1961 in Perth, Australien geboren. Er machte seinen Bachelor in Mathematik an der University of Western Australia und arbeitete danach als Programmierer. 1983 veröffentlichte er seinen ersten Roman, mit Quarantäne gelang ihm 1991 der internationale Durchbruch, sodass er sich seither hauptberuflich dem Schreiben widmet. Er befasst sich in seinen Romanen und Kurzgeschichten vor allem mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Themen und zeichnet sich vor allem durch sein beeindruckendes Fachwissen in diesen Bereichen aus. Greg Egan wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt er den Kurd Lasswitz Preis, den Hugo Award und mehrere Seiun Awards. Er lebt und arbeitet in Perth.
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1
Die Insel war zu klein, um von Menschen besiedelt zu werden, und lag zu weit von den üblichen Schifffahrtsrouten entfernt, um als Landmarke für die Navigation dienen zu können. Deshalb hatten die Bewohner der Kai- und Tanimbar-Inseln niemals einen Grund gehabt, ihr einen Namen zu geben. Die Herrscher von Java und Sumatra, die von den Gewürzinseln Tribut verlangt hatten, schienen nichts von ihrer Existenz gewusst zu haben; und Prabir hatte sie auf keiner der niederländischen und portugiesischen Karten ausfindig machen können, die gescannt und ins Netz gestellt worden waren. Für die gegenwärtige indonesische Regierung war sie nur ein Fleck auf der Karte von Maluku propinsi, der genauso wie tausend weitere unbewohnbare Felsen nur der Vollständigkeit halber aufgeführt wurde. Prabir hatte die Gelegenheit, die sich ihm bot, bereits erkannt, bevor sie Kalkutta verlassen hatten, und er hatte sofort damit begonnen, eine Liste aller Möglichkeiten zusammenzustellen, aber es war keine leichte Entscheidung. Erst nachdem er schon über ein Jahr auf der Insel gelebt hatte, fand er einen Namen, mit dem er zufrieden war.
Er probierte das Wort an seinen Klassenkameraden und Freunden aus, bevor er es während eines Gesprächs mit seinen Eltern fallen ließ. Sein Vater hatte anerkennend gelächelt, doch dann hatte er Bedenken angemeldet.
»Warum Griechisch? Wenn du keine einheimische Sprache verwenden möchtest … warum nimmst du dann nicht Bengali?«
Prabir hatte ihn verwirrt angestarrt. Namen klangen blöde, wenn sie auf Anhieb zu verstehen waren. Warum sollte man sich mit einem lahmen Großen Fluss begnügen, wenn man einen majestätischen Rio Grande haben konnte? Das hätte gerade sein Vater am besten verstehen müssen. Denn Prabir war doch nur seinem Beispiel gefolgt.
»Aus demselben Grund, aus dem du dem Schmetterling einen lateinischen Namen gegeben hast.«
Seine Mutter hatte gelacht. »Jetzt hat er dich kalt erwischt!« Und sein Vater hatte sich schließlich gefügt und Prabir emporgehoben, um ihn durch die Luft zu wirbeln und zu kitzeln. »Also gut, also gut! Teranesia!«
Doch das war noch vor der Geburt von Madhusree gewesen, als sie selbst noch gar keinen Namen gehabt hatte (abgesehen von der viel zu wörtlichen ›versehentlichen Beule‹). Schließlich stand Prabir also am Strand, hatte seine Schwester hochgehoben, drehte sie langsam herum und sang: »Teranesia! Teranesia!« Madhusree starrte nur auf ihn und interessierte sich mehr dafür, wie er dieses seltsame Wort aussprach, als für das Panorama, das er ihr eigentlich zeigen wollte. War es normal, bereits im Alter von fünfzehn Monaten kurzsichtig zu sein? Prabir beschloss, sich darüber sachkundig zu machen. Er ließ sie ein Stück herunter und küsste schmatzend ihr Gesicht, dann taumelte er und hätte beinahe die Balance verloren. Sie nahm schneller an Gewicht zu, als sich seine Kraft entwickeln konnte. Seine Eltern behaupteten, gar nicht mehr an Kraft zuzunehmen; trotzdem weigerten sich inzwischen beide, ihn wie früher aufzuheben.
»Die Revolution wird kommen«, sagte Prabir zu Madhusree und überprüfte den blendend weißen Sand auf Muscheln oder Korallen, bevor er sie absetzte.
»Was?«
»Wir werden unsere Körper neu designen. Dann werde ich immer genügend Kraft haben, um dich hochzuheben. Selbst wenn ich einundneunzig bin und du dreiundachtzig.«
Sie lachte nur, als er über diese metaphysisch ferne Zukunft sprach. Prabir war sich ziemlich sicher, dass Madhusree eine mindestens genauso klare Vorstellung von der Zahl dreiundachtzig hatte wie er beispielsweise von zehn hoch einhundert. Er beugte sich über sie, zeigte ihr achtmal hintereinander die offene Hand und dann drei Finger. Sie beobachtete ihn verunsichert, aber fasziniert. Prabir blickte in ihre pechschwarzen Augen. Seine Eltern verstanden Madhusree nicht, sie erkannten nicht den Unterschied zwischen dem, was sie für sie empfanden, und dem, was sie war. Prabir konnte es nur deshalb verstehen, weil er sich dunkel daran erinnerte, wie es bei ihm gewesen war.
»Ach, du süßes Ding!«, krähte er.
Madhusree lächelte verschwörerisch.
Dann blickte Prabir über den Strand und auf das ruhige, türkisfarbene Wasser der Banda-See. Die Wellen, die sich am Riff brachen, wirkten von hier aus recht harmlos, aber er hatte genügend übelkeitserregende Überfahrten mit der Fähre nach Tual und Ambon mitgemacht, um zu wissen, wie sehr ein stetiger Monsunwind – ganz zu schweigen von einem Sturm – das Meer aufpeitschen konnte. Teranesia wurde zwar vor der Gewalt des offenen Ozeans geschützt, doch die großen Inseln, die die Abschirmung bildeten – Timor, Sulawesi, Seram, Neuguinea – waren fern und unsichtbar. Selbst der nächste ähnlich unscheinbare Felsen war zu weit entfernt, um ihn vom Strand aus sehen zu können.
»In geringer Höhe ist die Entfernung zum Horizont ungefähr gleich der Quadratwurzel aus dem Produkt deiner Höhe über dem Meeresspiegel und dem Erdradius mal zwei.« Prabir stellte sich ein rechtwinkliges Dreieck vor, dessen Scheitel aus dem Erdmittelpunkt, einem Punkt am Horizont und seinen Augen bestand. Er hatte sich diese Funktion von seinem Notepad darstellen lassen und kannte inzwischen viele Punkte der Kurve auswendig. Die Neigung des Strandes war recht stark, sodass sich seine Augen schätzungsweise zwei Meter über dem Meeresspiegel befanden. Das bedeutete, dass er fünf Kilometer weit sehen konnte. Wenn er den Vulkankegel Teranesias bestieg, bis die nächste der benachbarten Tanimbar-Inseln in Sicht kam, konnte er anhand der Höhe, die er dann erreicht hatte – und die er über sein Notepad vom Satelliten-Navigationssystem abfragen konnte –, genau berechnen, wie weit die Inseln entfernt waren.
Aber er wusste die Entfernung längst von Landkarten: fast achtzig Kilometer. Also konnte er die Formel umdrehen und sie dazu benutzen, um seine Höhe über dem Meeresspiegel zu bestimmen. Der niedrigste Punkt, von dem aus er Land sehen konnte, lag bei fünfhundert Metern. Er würde die Stelle mit einem Stock im Boden markieren. Prabir wandte sich dem Zentrum der Insel zu, dem schwarzen Gipfel, der knapp über die Kokospalmen hinausragte, die den Strand säumten. Es würde bestimmt ein langer Aufstieg werden, vor allem, wenn er Madhusree die meiste Zeit tragen musste.
»Möchtest du zu Ma?«
Madhusree verzog das Gesicht. »Nein!« Normalerweise konnte sie nie zu viel von Ma bekommen, aber sie wusste genau, wenn er sie nur abschieben wollte.
Prabir zuckte die Achseln. Er konnte das Experiment auch noch später durchführen; es lohnte sich nicht, deswegen einen Wutanfall zu riskieren. »Willst du vielleicht schwimmen gehen?« Madhusree nickte begeistert und rappelte sich auf, dann lief sie mit unsicheren Schritten zum Wasser. Prabir ließ ihr ausreichend Vorsprung, dann stürmte er laut grölend über den Sand hinterher. Sie warf ihm einen verächtlichen Blick über die Schulter zu, fiel hin und stand wieder auf. Prabir lief im Kreis um sie herum, während sie ins seichte Wasser watete. Seine Füße ließen das Wasser aufspritzen, aber er achtete darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen, weil es unfair wäre, ihr ins Gesicht zu spritzen. Als sie hüfttief im Meer stand, tauchte sie ein und begann mit regelmäßigen Bewegungen ihrer pummeligen Armchen zu schwimmen.
Prabir erstarrte und beobachtete sie voller Bewunderung. Es war sinnlos zu leugnen, dass auch er gelegentlich dieses Madhusree-Gefühl verspürte. Die gleiche süße Erregung, die gleiche Zärtlichkeit, der gleiche unverdiente Stolz – all die Regungen, die er auch in den Gesichtern seines Vaters und seiner Mutter beobachtete.
Er seufzte schwer und ließ sich rückwärts ins Wasser fallen. Er berührte den Boden, öffnete die Augen, um das Brennen des Salzes zu spüren und eine Weile das verschwommene Sonnenlicht zu betrachten, bevor er sich wieder erhob und sich am ganzen Körper angenehm nass fühlte. Er schüttelte sich die Haarsträhnen aus den Augen und watete dann hinter Madhusree her. Das Wasser reichte ihm bis zu den Rippen, als er sie eingeholt hatte. Dann schwamm er an ihrer Seite weiter.
»Alles in Ordnung?«
Es war unter ihrer Würde, ihm darauf eine Antwort zu geben. Stattdessen warf sie ihm wegen dieser indirekten Beleidigung einen bösen Blick zu.
»Schwimm nicht zu weit hinaus.« Wenn sie allein waren, galt die Regel, dass Prabir noch Boden unter den Füßen haben musste. Es ärgerte ihn ein wenig, aber die Aussicht, eine strampelnde und kreischende Madhusree in Sicherheit bringen zu müssen, war wesentlich unangenehmer.
Prabir hatte seine Taucherbrille zu Hause gelassen, aber er konnte trotzdem sehr viel im klaren Wasser erkennen, wenn er den Kopf hoch genug emporreckte. Wenn er innehielt, damit der Schaum und die Turbulenzen, die er verursachte, verschwanden, konnte er beinahe die Sandkörner auf dem Meeresgrund zählen. Das Riff lag immer noch hundert Meter voraus, aber unter ihm befanden sich bereits dunkelrote Seesterne, Schwämme und einsame Seeanemonen, die sich an Korallenbruchstücke klammerten. Dann entdeckte er ein konisches gelb und braun gefärbtes Schneckengehäuse, das so groß wie seine Faust war, und tauchte, um es aus der Nähe zu betrachten. Im Wasser wurde alles wieder verschwommen, und er musste mit dem Gesicht beinahe den Boden berühren, um zu erkennen, dass das Gehäuse bewohnt war. Er ärgerte die bleiche Molluske mit Luftblasen, und als sie sich vor ihm zurückzog, wich auch er verlegen zurück, indem er ein paar Schritte auf den Händen ging, bevor er sich wieder aufrichtete. Er leerte geräuschvoll seine Nasenhöhlen, die voller Meerwasser waren, und drückte dann die Zunge an seinen brennenden Gaumen. Es fühlte sich an, als...




