Eggers Die oder ich
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-89425-854-2
Verlag: GRAFIT
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 4, 178 Seiten
Reihe: Anwalt Schlüter
ISBN: 978-3-89425-854-2
Verlag: GRAFIT
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wilfried Eggers, geboren 1951, verheiratet, drei Kinder, ?berzeugter Moorbewohner. Seit Ende der Siebzigerjahre ist er als selbstst?ndiger Notar und Rechtsanwalt t?tig und hat so Einblick in das gesamte Spektrum des prallen Lebens. Seit 2000 schreibt er Kriminalromane. Sein Buch 'Paragraf 301' wurde als einer der f?nf besten Romane seines Erscheinungsjahres f?r den 'Friedrich-Glauser-Preis' nominiert.
Autoren/Hrsg.
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Prolog
Oder jenseits der Gerechtigkeit
Ich werde es Ihnen erklären.
Ich muss mich nicht rechtfertigen. Ich würde es jeden Tag wieder so tun. Jeder, der bei Verstand ist, hätte gehandelt wie ich. Alles, was ich getan habe, beruht auf nüchterner Überlegung.
Also:
Eine Frau berührte mich. Sie seufzte, rieb ihren Leib brünstig an meinem, ihre Brüste an meiner Wange. Ich spürte es, so wie ich jetzt meinen rechten Handballen über das Papier rucken spüre beim Schreiben.
»Wach auf!«
Keine Brüste mehr. Nur ein kalter Luftzug. Ich brachte ein Auge auf, sah eine Hand über meinem Gesicht. Der Fingernagel am kleinen Finger eunuchenhaft lang und zu einer Kralle gebogen.
Ein Trugbild. Ich schloss mein Auge.
Und wieder fühlte ich diese wunderschönen Brüste an meinem Gesicht, an meiner Haut. Die Warzen richteten sich auf. Sie strömten einen betörenden Duft aus, nach Schweiß und Honig. Ich wollte sie küssen, sie in mich aufnehmen, die Frau umarmen. Aber sie kicherte und hielt meine Hände fest.
»Komm, Liebste«, hörte ich mich sagen. Ich hatte mich noch nie getraut, so zu einer Frau zu sprechen. Ich habe nicht sehr viel Erfahrung mit Frauen. Ich fühlte mich frei von aller Last.
»Du Schlingelchen, du schlimmes, sei still …«
Still sollte ich sein. Die Hände hielt sie mir fest. Ich hätte sie so gern umarmt.
»Du bist mir einer! Pennst mir glatt weg!«
Das war nicht ihre Stimme. Das war eine trockene blecherne Stimme, die Stimme eines Automaten.
Ich sah in ein verschrumpeltes Kindergesicht, auf dem sich dürre Büschel fetter Haare sträubten.
»Hast du auch ’ne Frau umgebracht, Kumpel?«
»Wieso soll ich eine Frau umgebracht haben?«, fragte ich und wollte fort von diesen Augen, die mich anstarrten, die nicht genug Platz hatten in diesem verdorrten Gesicht.
»Weil du nach ihr gerufen hast, nach deiner Liebsten«, lachte es, »und da dachte ich, du hättest auch mal eine umgebracht und ich könnte mit dir darüber reden … Ich bringe nämlich immer Frauen um, ich …«
»Was?!«
Ich wollte fort, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich war noch müde, gefangen im Schlaf.
»Frauen …«
Sein Kopf war wie eine Backpflaume an einem dürren und knochigen Leib, er schwankte über mir hin und her, der Schatten eines rattenhaften Grinsens huschte über sein Gesicht.
»Frauen sind so … Und wenn ich eine schlachte, dann mache ich immer …« Er tippte mir den Zeigefinger auf die Stirn.
»Lass mich!«
»Willst wohl nicht zuhören? Musst aber zuhören! Will dir erzählen von der Roswitha, die Letzte, die ich müde gemacht habe, sie hatte so viel Blut, sie …«
Er schluckte trocken, er hatte einen Adamsapfel so dick und ledrig wie eine Kröte. Dann lachte er und es klang wie das Keckern eines Fasans, der auffliegt.
»Hör auf!« Ich wurde wütend. Endlich war ich richtig wach, ich wollte mich aufrichten, aber etwas hielt mich, und eine Angst durchfuhr mich, als ich merkte, dass ich gefesselt lag.
»Se ham dich festgemacht, Freundchen. Festgemacht ham se dich, ganz fest, so wie ich die Roswitha festgemacht habe …« Die Backpflaume grinste ihr Schattengrinsen.
Jetzt erst fielen mir die beiden anderen am Fenster auf. »He, ihr zwei, kommt mal bitte her, ich will …«
Der eine drehte sich um. Er hatte ein totes Gesicht und Asche in den Augen.
»Wo bin ich?!«
Ich hatte Angst wie noch nie in meinem Leben, noch nicht einmal an jenem Tag, den ich den Tag der Entscheidung nenne, der jetzt schon Monate zurückliegt. Inzwischen ist November. Ich hatte keine Waffe. Ich hatte noch nicht einmal meine Hände. Es rauschte in meinen Ohren. Es war, als wenn du gesprungen bist – dir bleiben noch ein paar Sekunden, bis du aufschlägst: das Ende.
Die Backpflaume grinste. »Na rate mal, wo du bist. Bei uns biste, hähähä.« Er keckerte wieder wie ein Fasan, schrill und laut und schüttelte die Knochen seines Kinderleibes.
Der andere am Fenster drehte sich um. Er hatte eine wulstige Unterlippe, die tief herabhing, und blöde Augen unter halben Lidern in einem mächtigen Schädel, auf dem rote Haare wuchsen.
»He, ihr, macht mich los, macht mich …«
Der mit den Ascheaugen wandte sich ab und sah wieder aus dem Fenster. Der Wulstlippige machte es ihm nach, in Zeitlupe. Das Fenster hatte keinen Griff. Die Tür keine Klinke.
»Ihr müsst mich …!« Ich zerrte an meinen Fesseln. Sie schnitten mir ins Fleisch.
»Geht nicht, Mann. Geht nicht«, sagte die Backpflaume. »Und jetzt erzähle ich dir, wie ich die Roswitha müde gemacht habe. Erst habe ich sie gefangen, Mann. Gefangen, ja. Ganz für mich, sie war …« Sein Grinsen war zärtlich, kalt und gefährlich zugleich. Ich habe das alles registriert und ich sehe ihn immer noch vor mir.
Was konnte ich tun? Ich konnte nur noch schreien. Nach Hilfe. So laut ich konnte.
»Was is?«
Eine neue Stimme. Der Mann stand am Fußende meines Bettes. Er musste durch die Tür gekommen sein, durch die Tür ohne Klinke. Er trug einen weißen Kittel und hatte einen Stoppelbart.
»Machen Sie mich los!«
»Das geht leider nicht.«
»Warum nicht? Ich will wissen, wo ich bin. Wo bin ich?«
»Sie sind auf der forensischen Abteilung der psychiatrischen Klinik Lüneburg, 3. Stock«, antwortete der Weiße. »Mehr bin ich nicht befugt, Ihnen zu sagen.«
»Foren-, was?«
Ich hatte begriffen. Ich bin nicht dumm. Auch wenn ich kein Abitur habe und nicht studiert bin wie die andern, die jetzt über mich bestimmen. Ein paar Fremdworte kenne ich. Und dann dämmerte es mir. Drei Verrückte waren hier. Und ich sollte der vierte sein. Die Erinnerung an das, was geschehen war, kehrte zurück.
»Aber das geht nicht«, sagte ich. »Ich werde alles erklären, es ist nicht so, wie Sie denken, ich habe nicht …«
»Sagt hier jeder«, unterbrach mich der Weiße müde. »Inklusive des Lenins und der zwei Jesusse, die wir hier haben.« Er wandte sich zum Gehen.
»Und wieso bin ich hier und nicht im …«
»Suizidgefahr. Sie waren ganz schön fertig, als man Sie festgenommen hat.«
Jetzt, während ich dies schreibe, weiß ich es wieder, aber damals, an meinem ersten Tag in der Psychiatrie, war mein Hirn leer.
»Aber ich will …«
»Sie wollen gar nichts. Beruhigen Sie sich. Werden Sie vernünftig. Dann sehen wir weiter.«
Jedes Wort ein Urteil.
Ich muss wohl einen Seitenblick auf die Backpflaume geworfen haben, denn der Weiße ergänzte: »Der ist harmlos. Bringt nur Frauen um, wenn er draußen ist, hähä.«
»Doof wie ein Bauer«, hörte ich noch, dann krachte die Tür hinter dem Mann ins Schloss. Ich hatte vergessen, nach einem Anwalt zu verlangen. Das ist doch das Erste, an das man denken muss, wenn man seiner Freiheit zu Unrecht beraubt worden ist!
»Jetzt will ich dir endlich erzählen, wie ich die Roswitha …«
»Du erzählst mir gar nichts!«, schrie ich.
»Wirst schon hören! Kannst dir nicht die Ohren zuhalten! Ich hab ihr mit dem …«
»Halt die Schnauze, du Wichser, du …«
»Wirst beleidigend, Kleiner, was? Bin kein Wichser. Bist wohl selber ein Wichser. Ich hab’s in echt gemacht mit der Roswitha.«
Ich brüllte aus Leibeskräften, bis sogar der mit den Ascheaugen zu mir hinsah, bis wieder der Weiße vor meinem Bett stand.
»Holen Sie mich hier raus! Ich will …«
»Sagte ich das nicht schon? Hier gibt’s nichts zu wollen, Herr … ähh. Wenn Sie weiter Lärm machen, kriegen Sie ’ne extra Portion, damit Sie wieder ruhig werden. Noch mal, und ich hole den Chef und dann ist es so weit.«
So war das. Du bist eine Nummer. Sie kennen noch nicht einmal deinen Namen. Du bist ohne Rechte. Wie im Mittelalter. Sie können alles mit dir machen. Sie werden alles mit dir machen. Das lernte ich schnell. Was sollte ich tun? Wie hieß dieser Anwalt? Ich hatte viel vergessen.
»Also die Roswitha, die hatte einen Bauch, sag ich dir, einen Bauch, so was von herrlich, und erst ihr Blut, ihr warmes Blut …«
Ich kniff die Augen so fest zu, wie ich konnte, und versuchte, an etwas Schönes zu denken, an die Zeit, als alles in Ordnung schien, aber ich schaffte es nicht, damit gegen Roswithas blutigen Bauch anzukommen. Ich begriff, dass die fremde Frau, die mit ihren schönen Brüsten mein Gesicht gestreichelt hatte, nur ein Traum gewesen war, in Wahrheit aber hatte Kalle der Lustmörder in meinem Gesicht herumgefummelt mit seinen Flossen. Es würgte mich, weil ich fast an ihnen genuckelt hätte, an diesen Eunuchenfingern, und dass ich Mörderfinger und Frauenbrüste nicht hatte unterscheiden können – was gilt eigentlich noch, worauf kann man sich eigentlich noch verlassen, ich hätte mich schlagen können, ich war so dumm gewesen, ich hatte Prügel verdient, und dann fielen mir endlich die Prügel ein, die ich von meinem Vater bekommen hatte, früher, als ich zu klein gewesen war, um mich zu wehren. Wie ich mich geduckt habe unter seinen Schlägen, mit dem Gürtel machte er es immer, über die Sofakante musste ich mich legen, oder über einen Stuhl, er zerrte mir die Hose herunter und sich selbst den Gürtel heraus, die Schnalle ließ er auf mein Fleisch sausen, und ich biss die Zähne zusammen, so fest, dass es in den Ohren...




