Ehrlich Urwaldgäste
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8321-8813-9
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8813-9
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman Ehrlich, geboren 1983 in Aichach, aufgewachsen in Neuburg an der Donau, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Freien Universität Berlin. Er war Stipendiat der Werkstatttage des Wiener Burgtheaters, nominiert für den open mike und Teilnehmer der Autorenwerkstatt Prosa am LCB. Für seinen Debütroman >Das kalte Jahr< (DuMont 2013) erhielt er den Automatische-Literaturkritik-Preis der Riesenmaschine, den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis sowie den Robert-Walser-Preis.
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Ich fühlte mich ohnehin in diesen Tagen als soziales Wesen, als Mensch unter Menschen, unanbietbar.
Ich hatte auf eine Stellenanzeige aus dem Internetportal des Studentenwerks, auf das ich durch ein Scheinstudium der Physik Zugriff hatte, mit einer schriftlichen Bewerbung reagiert und wurde prompt zum persönlichen Gespräch eingeladen. Tagelang hatte ich mit niemandem gesprochen. Es hatte mir überhaupt nichts ausgemacht, nichts zu sagen. Das Gefühl, überhaupt nichts zu sagen zu haben, hatte überwogen. Es hatte mir eine klare Handlungsanweisung übermittelt: Sprich nicht. Sag nichts.
Konkurrenz um die Stelle gab es offensichtlich nicht. Beim Bewerbungsgespräch wurde ich schon in die Details meiner Arbeitsabläufe eingewiesen, ich wurde gar nicht mehr gefragt, ob ich den Job überhaupt wollte. Es gab lediglich einmal eine sehr lange Pause, in die hinein ich hätte sagen können: Nein, ich möchte lieber nicht. Das ist mir aber auch erst im Nachhinein aufgefallen.
Man hatte mir schon am Telefon gesagt: »Sie werden hier die meiste Zeit alleine sein.« Die Person, die ich vertreten sollte, trat einen langen Schwangerschafts- oder Mutterschaftsurlaub an, ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Ich dachte: Prima.
Es ist unmöglich, genau zu sagen, wann das geschehen war – wann dieser Zustand begonnen hatte, in dem ich maulfaul, abwesend und auch taub für die Äußerungen meiner Umwelt wurde. Es war ein Vorgang wie die Ankunft des Winters.
Man wies mich ein in die Bedienung der vollautomatischen Kaffeemaschine und zeigte mir die Schublade mit den verschiedenfarbigen Espressopatronen. Man deutete auf frisch gekaufte Möbel aus furniertem Pressspan und auf Geräte, die mit ordentlich verlegten Kabeln verbunden waren und alles in allem ein vollständig wirkendes Büroumfeld ergaben. Die Person, die ich später vertrat, machte ein paar Probedrucke mit dem WLAN-fähigen Laserdrucker und zeigte mir dann, indem sie die Probedrucke herzhaft und lustvoll zusammenknüllte, wo sich der Papiermüll befand. Ich wurde in Serienbrieferstellung und Tabellenkalkulation eingewiesen, man zeigte mir, wo im Computer an meinem Arbeitsplatz noch ein freier Steckplatz für den kleinen USB-Weihnachtsbaum zu finden wäre, falls ich mir den grauen Tag durch sein buntes Aufleuchten etwas farbiger würde gestalten wollen, was allerdings, wie ich erfuhr, nicht jedermanns Sache ist und keinesfalls Vorschrift. Es roch neu und nach Anfang in den Räumen des Unternehmens. Die Recyclingtonnen waren vollgestopft mit Verpackungsmaterial, mit Einschweißfolie und Styroporteilen zum schadfreien Transport von Flachbildmonitoren. Aus dem kunstledernen Bürostuhl verdampften noch die Chemikalien zur Imprägnierung, in ihm zu sitzen fühlte sich an wie die Probefahrt in einem werksfrischen Kleinwagen.
Auf dem Weg von meinem Haus zu diesem Büro fuhr ich zunächst einige Stationen mit einer die Stadt ringförmig umkreisenden Bahn, die immer nur links um die Kurven bog und dabei viele Werktätige in sich aufnahm. Sie standen dichtgedrängt beisammen, abwesend, müde, grimmig oder schläfrig, hielten sich an den Haltestangen fest, hörten Musik und starrten vor sich auf eine Jackennaht oder direkt ins Nichts. Zwei größere Umsteigebahnhöfe befanden sich auf meiner Strecke, das Wetter war meistens regnerisch und das Fahrgastaufkommen war groß. Aus den Fenstern heraus sah man die Stadt schemenhaft in einer gräulichen Suppe dastehen, versunken und irreal wie in einem Aquarium.
Am südlichen Rand der ringförmigen Zugstrecke stieg ich aus und lief durch ein Gewerbegebiet mit einem großen Ikeamarkt, Tankstellen und Zufahrtsstraßen zur vielspurigen Stadtautobahn, die ich auf einer Fußgängerbrücke überquerte. Auf der anderen Seite befand sich rechts ein Supermarkt mit weitflächigem Parkplatz, auf dem ich an meinem ersten Arbeitstag eine junge Mutter sah, die mit gesenktem Kopf übervolle Plastiktüten in beiden Händen über den Parkplatz trug und neben der ein dicker Junge aufgekratzt herumhopste und ihr die immergleiche Zeile aus einem Nonsenslied vorsang: JuLaLiLaLaLa. JuLaLiLaLaLa. JuLaLiLaLaLa. JuLaLiLaLaLa. Mein Hirn schwang sich sofort auf diese kurze Schleife ein und begann auf ihr zu rotieren, wie ein endlos in seine Umlaufbahn gezwungener Mond.
Ich hatte keine anderen Gedanken als diese Handvoll Silben, von der Stimme des Jungen in immergleicher Melodie vorgetragen, während ich in die Einfahrt des Gewerbehofes einbog, die gläserne Eingangstür öffnete und mit dem Fahrstuhl ins fünfte Stockwerk fuhr. Nach erfolgter Einweisung hatte ich meinen eigenen Schlüssel für die Büroräume erhalten. Man hatte mir gleich vollstes Vertrauen entgegengebracht und nochmals auf die Häufigkeit der hier von mir in Zukunft allein verbrachten Zeit in entschuldigendem Tonfall hingewiesen.
Ich erkannte die Tür zum Büro der Grinello Clean Solutions an dem kleinen Schildchen unterhalb der Klingel. Sie unterschied sich durch nichts sonst von den anderen Türen, die von dem langen, frisch mit blauem Teppichboden belegten Flur abgingen. Später wusste ich, nach dem Fahrstuhl ist es die achte Tür auf der rechten Seite, und wiederum etwas später wusste ich aus Gefühl und Gewohnheit, ohne zu zählen oder auf die kleinen Schildchen zu schauen, in welcher Tür sich das passende Schloss zu meinem Schlüssel befand. Sie hatte sich äußerlich nicht verändert, es war eher eine Art Verwandtschaft, die zwischen uns entstanden war und die sie für mich von allen anderen Bürotüren unterschied.
Die erste große Enttäuschung, am ersten Tag meiner Arbeit als Urlaubsvertretung, war festzustellen, dass ich meinen Schlüssel gar nicht erst benutzen musste, da die Tür bereits aufgeschlossen war und sich schon eine andere Person im Büro befand. In meinem Kopf rannte noch immer die Zeile aus dem Nonsenslied im Kreis, ich fühlte mich nicht imstande, ein Gespräch zu führen, ich wollte niemanden kennenlernen müssen, keine Auskunft geben über meine Vergangenheit oder meine Vorstellungen des weiteren Verlaufs. Der kleine Junge in meinem Kopf hopste und sang und ich sah noch den gesenkten Kopf seiner Mutter vor mir, als ich in das Büro eintrat.
Eine hochkonzentrierte Person schaute in den Bildschirm eines aufgeklappten Laptops, Energiestau im ganzen Körper, die linke Hand auf der Tastatur und die rechte schon an der oberen Bildschirmkante, jeden Augenblick zum raschen Zuklappen bereit. Ich wurde gesehen, erkannt und durch ein wortloses Werfen der rechten Hand in die Luft begrüßt. Die Person ließ mir Zeit genug, um meine Winterkleidung zur Hälfte abzulegen, und kam absichtlich genau dann um den eigenen Schreibtisch herum auf mich zu, um mir ihre Hand zur Begrüßung hinzustrecken, als ich, mit halb ausgezogener, in den Armbeugen hängender Jacke wie ein Festgebundener gegriffen werden konnte.
Die Person stellte sich vor als Doktor Henning Hollach, geschäftsführender Direktor der Grinello, hierarchisch gleichgestellt mit dem Herrn Filby in Düsseldorf. Von Herrn Filby hatte ich während meiner Einführung nur gehört, dass er in Düsseldorf sitzt, und mich damit begnügt. Der Herr Filby sitzt in Düsseldorf, meldete mein Kopf, der sich langsam von der Kindermelodie abzulösen begann, und der Herr Dr.Hollach sitzt hier. Sitzt aber tatsächlich eher selten hier, wie man mir im Vorfeld versichert hatte.
Dr.Hollach führte ein kurzes Gespräch mit mir, an dem ich selbst kaum teilnehmen musste, was mir sehr behaglich war. Er hatte scheinbar schon in den ersten Sekunden unseres Aufeinandertreffens entschieden, dass ihm mein Nachdenken und meine Antworten zu langsam und langweilig ausfallen würden, und stellte daher ausschließlich rhetorische Fragen, die er sich mit einem umwerfenden Arsenal von lebensklugen Aphorismen umgehend selbst beantwortete.
Offensichtlich hatte es ihn sehr befriedigt, ein wenig überschüssige Spannung durch meine Person in den Büroteppichboden abgeleitet zu haben. Er seufzte laut auf und bat mich, ihm ein Taxi zu rufen. Während ich telefonierte, klappte er seinen Laptop zu, verstaute ihn in einer gefütterten Transporthülle und danach in einer ledernen Aktenmappe, nahm seinen Mantel von der Stuhllehne und nutzte die verbliebene Zeit zwischen meinem Telefonat und der Ankunft des Taxis für die zweite große Enttäuschung meines ersten Arbeitstages.
Dr.Hollach sagte, da ja nicht so viel los gewesen sei hier in den letzten Tagen, könnte ich mir einmal diese Liste vornehmen, die er in einem Ordner auf meinem Desktop hinterlegt habe. Es handle sich um alte Kontaktdatenbanken, die uns aus der Zweigstelle in Düsseldorf zugespielt worden seien. Ich bekam die Aufgabe, jeden einzelnen Kontakt auf akuten Bedarf nach dem neuesten Produkt der Grinello, dem Aquionic Transformer, telefonisch durchzutesten.
Für den Anfang sollte ich die Funktionsweise des Geräts den Broschüren entnehmen, die neben der Tür in einem schlanken Aluminiumaufsteller steckten. In den kommenden Tagen werde mich dann entweder Dr.Hollach selbst oder einer der Außendienstmitarbeiter ordentlich briefen. Einfach einen Rückruf vereinbaren, sagte er noch, mehr brauchen Sie gar nicht zu machen. Den Rest macht der Aquionic Transformer, als unbestreitbar revolutionäres Produkt, dann schon fast allein.
Dr.Hollach verließ das Büro und ich hängte meine Sachen an die Garderobe, wie man es mir während meiner Einweisung gezeigt hatte, nahm den Kaffeevollautomaten in Betrieb und öffnete die Liste auf dem Computer an meinem Arbeitsplatz, eine Exceltabelle mit neunhundertvierundachtzig Einträgen.
Neben den Namen, den Adressen und Telefonnummern der...




