Enard | Zone | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 608 Seiten

Enard Zone

Roman
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8270-7306-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 608 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7306-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Francis Mirkovic, alias Yves Deroy, sitzt im Pendolino von Mailand nach Rom, inkognito und erster Klasse reisend, und über ihm, mit einer Handschelle an der Gepäckstange gesichert, ein Metallkoffer voller Dokumente und Fotos - der »Koffer voller Toten«. Er enthält die Listen von Kriegsverbrechern, Waffenhändlern und Terroristen, die Francis als Agent des französischen Geheimdienstes in den Konfliktzonen des Mittelmeerraums zusammengestellt hat und an den Vatikan verkaufen will, um ein neues Leben zu beginnen. Erschöpft von Alkohol und Amphetaminen lässt er seinen Erinnerungen freien Lauf - an die Entsetzlichkeiten des Balkankrieges, in die er zwei Jahre als Söldner verwickelt war, an die Freunde, die neben ihm starben, an die Menschen von Algier bis Jerusalem, die er ausspionierte, an die Frauen, die er liebte: Stéphanie, die kein Kind »mit einem Barbaren wie ihm« wollte, oder Sashka, die vielleicht noch in Rom auf ihn wartet. In einem einzigen Satz des symphonisch gestalteten inneren Monologs, im Stakkato des Nachtzugs, mäandernd, sich wiederholend, springt der Erzähler von Ereignis zu Ereignis - vom Blutbad der christlichen Phalange in Beirut 1982 zu Mussolinis Nordafrikakrieg, vom Den Haager Kriegsverbrecherprozess zu seinem Vater, der auf französischer Seite im Algerienkrieg folterte -, benennt die Gräuel aus der Geschichte und Gegenwart des Mittelmeers, die sich zu einem homerischen Fresko der Gewalt formen. Mit seinem Roman Zone erweist der junge Autor Énard einem Epos über den Krieg Reverenz, das zur Gründungsakte der europäischen Literatur wurde: Homers Ilias.

Mathias Enard, geboren 1972 in Niort (Westfrankreich), Studium der Kunstgeschichte und orientalischen Sprachen, lebt, nach längeren Aufenthalten im Nahen Osten, heute in Barcelona, wo er Arabisch lehrt. Für »Zone« erhielt er in Frankreiche 2008 den »Prix Décembre« und 2009 den »Prix du Livre Inter«, in Deutschland den deutsch-französischen »Candide Preis 2008«. Für »Kompass« wurde Mathias Enard mit dem Prix Goncourt sowie dem Leipziger Buchpreis der Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
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I


alles ist schwieriger im Mannesalter, alles klingt falscher ein wenig metallisch wie das Geräusch zweier Bronzeschwerter die gegeneinanderschlagen, sie werfen uns auf uns selbst zurück ohne uns irgendeinen Ausweg zu lassen ein schönes Gefängnis ist das, man reist mit allerhand Zeug, einem Kind das man nicht getragen hat einem kleinen Stern aus böhmischem Kristall einem Talisman, entlang der Schneefelder die man schmelzen sieht nach der Umkehr des Golfstroms Präludium zur Eiszeit, Stalaktiten in Rom und Eisberge in Ägypten, in Mailand hört es nicht auf zu regnen, ich hatte das Flugzeug verpasst vor mir lagen eintausendfünfhundert Kilometer Zugfahrt jetzt sind es noch fünfhundert, heute Morgen glänzten die Alpen wie Messer, ich zitterte vor Erschöpfung auf meinem Sitzplatz und konnte kein Auge zutun, ich bin völlig zerschlagen wie ein Drogensüchtiger, im Zug habe ich ganz laut mit mir selber geredet, oder ganz leise, ich fühle mich uralt, ich möchte, dass der Zug weiterfährt weiterfährt dass er bis nach Istanbul oder Syrakus fährt dass er wenigstens bis zum Ende fährt dass er bis zum Ziel der Reise fahren kann ich dachte oh ich bin wirklich zu bedauern ich habe Mitleid mit mir bekommen in diesem Zug dessen Rhythmus einem zuverlässiger die Seele öffnet als ein Skalpell, ich lasse alles an mir vorbeirauschen alles flieht alles ist schwieriger in diesen Zeiten entlang der Bahngleise ich würde gerne einfach von einem Ort zum nächsten fahren wie es für einen Reisenden selbstverständlich ist gleich einem Blinden den man am Arm nimmt wenn er eine gefährliche Straße überquert, aber ich fahre nun einmal von Paris nach Rom, und im Mailänder Hauptbahnhof, in diesem Echnaton-Tempel für Lokomotiven, in dem trotz des Regens noch etwas Schnee liegt, drehe ich mich im Kreis, betrachte ich die riesigen ägyptischen Säulen, die die Decke stützen, sitze ich auf einer Caféterrasse mit Blick auf die Schienen wie andere mit Blick aufs Meer sitzen und trinke ein Gläschen aus Langeweile, es tut mir überhaupt nicht gut, für ein Besäufnis war es nicht der richtige Zeitpunkt, es gibt so viele Dinge, die einen vom Weg abbringen, irreführen, und dazu gehört auch der Alkohol, der tiefer in die Wunden schneidet, wenn man sich allein auf einem riesigen eiskalten Bahnhof befindet und nur noch ein Ziel kennt, das zugleich vor und hinter einem liegt: der Zug fährt nun mal nicht im Kreis, sondern von einem Punkt zum anderen, ich aber kreise im Orbit wie ein Gesteinsbrocken, ich fühlte mich wie ein nahezu schwereloser Stein, als mich der Mann auf dem Bahnsteig ansprach, ich weiß dass ich Verrückte und Gestörte anziehe, in solchen Zeiten verfangen sie sich gern in meinen Schwächen, finden sie in mir einen Spiegel oder einen Waffenbruder und he der ist echt verrückt Priester einer unbekannten Gottheit er trägt eine Narrenkappe und hält eine Schelle in der linken Hand, die rechte streckt er mir entgegen und schreit auf Italienisch: »ein letzter Handschlag noch, Kamerad, vor dem Weltuntergang«, ich wage es nicht einzuschlagen aus Angst, er könnte recht behalten, er dürfte ungefähr vierzig sein, nicht älter, und er hat den scharfen und inquisitorischen Blick der Irren, die dich löchern, weil sie für einen Augenblick einen Bruder in dir entdeckt haben, ich zögere angesichts der ausgestreckten Hand starr vor Entsetzen wegen dieses irren Lachens und antworte ihm »nein danke«, als ob er mir eine Zeitung verkaufen oder eine Kippe anbieten wollte, woraufhin der Verrückte mit seiner Schelle klingelt mit seiner tiefen Stimme in ein finsteres Lachen ausbricht und auf mich zeigt mit dem Finger der Hand die er mir entgegenstreckt, dann spuckt er aus, geht weiter und der Bahnsteig ist wie leergefegt von einer gewaltigen fast hoffnungslosen Einsamkeit, in diesem Augenblick gäbe ich alles für Arme oder Schultern, sogar den Zug der mich nach Rom bringt, auf alles verzichten würde ich, nur damit jemand hier in der Mitte des Bahnhofs erscheint, zwischen den Schatten, unter den Menschen ohne Menschen den Reisenden, die sich an ihre Handys und Koffer klammern, unter allen, die während des kurzen Abstechers, der sie von Milano Centrale nach Fossoli Bozen oder Triest bringen wird, verschwinden und ihre Körper aufgeben, es ist schon lange her, Gare de Lyon in Paris, da hat mir ein verrückter Mystiker ebenfalls den Weltuntergang verkündet und er hatte recht, ich hatte mich damals im Krieg in zwei Teile gespalten und war zerschellt wie ein winziger Meteorit, einer von denen die nicht einmal am Himmel leuchten, ein natürliches Geschoss, dessen Masse den Astronomen zufolge lächerlich gering ist, der Verrückte auf dem Mailänder Bahnhof erinnert mich an den sanften Irren von der Gare de Lyon, ein Heiliger, wer weiß, vielleicht war es derselbe Mann, vielleicht waren wir im selben Rhythmus aufgewachsen jeder für sich mit seinen jeweiligen Wahnvorstellungen, die auf Bahnsteig 14 des Mailänder Hauptbahnhofs wieder zusammenfinden, in einer Stadt mit dem Namen eines Raubvogels und eines spanischen Generals, die am Rand der Poebene liegt wie auf einem Firn, den die Alpen langsam erbrochen haben, deren Gipfel ich sah, Feuersteinklingen, die den Himmel aufschlitzen und den Ton zur Apokalypse angeben, bestätigt vom Narren mit der Schelle in diesem Heiligtum des Fortschritts, den die Stazione di Milano Centrale darstellt, die in der Zeit verloren ist wie ich hier in dieser eleganten Stadt mit einer Augenklappe wie Millán Astray, der einäugige General, ein Raubvogel, fiebrig, bereit, zitternde Körper in Stücke zu reißen, kaum dass sie wieder im Licht von Raub und Gefahr erschienen ist: Millán Astray hätte es gern gesehen, wenn Madrid zu einem neuen Rom geworden wäre, in jenem großen kriegerischen Präludium der 40er Jahre diente er seinem glatzköpfigen Idol dem iberischen Duce Franco, dieser einäugige und kriegslüsterne Offizier war Fremdenlegionär und als guter Kriegsprophet rief er , und er hatte recht, noch in Polen würde man die Todesfuge spielen, würde sich eine riesige Welle von Leichen bilden deren Gischt schließlich in Triest oder Kroatien die Adriaküste umspülte: während sich die Reisenden auf dem Bahnsteig drängen um die Fahrt an das Ende der Welt anzutreten und in den Zug zu steigen, der sie geradewegs dorthin bringt, denke ich an Millán Astray und seine Kontroverse mit Unamuno, dem strengen Priester der Kultur, Unamuno war ein so klassischer und so erhabener Philosoph dass er das Blutbad nicht kommen sah, er konnte nicht zugeben, dass der einäugige General recht behalten würde, als er seinen Schäfchen zurief, denn dieser Falke hatte gespürt (Tiere zittern vor dem Gewitter) dass Kadaver sprießen würden, dass der Tod einige Jahre aus dem Vollen schöpfen würde, bevor auch er in einem Zug endete, einem Zug zwischen Bozen und Birkenau, zwischen Triest und Klagenfurt oder zwischen Zagreb und Rom, wo die Zeit stehenblieb wie sie für mich auf diesem von Waggons, von fauchenden und keuchenden Triebwagen gesäumten Bahnsteig stehengeblieben ist, eine Pause zwischen zwei Toden, zwischen dem spanischen Soldaten und dem gleichnamigen Bahnhof, so vernichtend wie der Kriegsgott Ares persönlich – gedankenlos zünde ich mir eine letzte Zigarette an, ich muss mich auf die Zugfahrt, den Ortswechsel einstellen wie alle Reisenden, die den Bahnsteig des Milano Centrale abschreiten auf der Suche nach einer Liebe, einem Blick, einem Erlebnis, das sie aus dem endlosen Kreislauf, dem Tretrad herausholt, nach einer Begegnung, irgendeinem Ereignis, um sich selbst, dem Geschäft mit dem Leben, der Erinnerung an Aufruhr und Verbrechen zu entkommen, aber es ist doch komisch, dass genau in diesem Augenblick keine einzige Frau auf dem Bahnsteig steht, und so steige ich angetrieben vom Gedanken an Millán Astray und seine Augenklappe meinerseits in den italienischen Schnellzug ein der vor zehn Jahren noch der Gipfel des Fortschritts und der Technologie gewesen sein muss, weil seine Türen automatisch schlossen und er bei gerader Strecke und schönem Wetter schneller als zweihundert Stundenkilometer fuhr und heute, da wir dem Weltuntergang ein Stück näher gekommen sind, ist er nur noch ein Zug, so geht es mit allen Dingen, mit Zügen wie mit Autos, Umarmungen, Gesichtern, Körpern: wenn sie nach einigen Jahren erst einmal faulig oder rostig sind, erscheinen ihre Geschwindigkeit ihre Schönheit oder ihre Hässlichkeit ganz und gar lächerlich, über das Trittbrett trete ich in eine andere Welt, der Velours verdichtet alles, die Hitze ebenfalls, mit dem Besteigen des Waggons habe ich sogar den Winter hinter mir gelassen, es ist eine Zeitreise, heute ist kein Tag wie jeder andere, der 8. Dezember ist ein besonderer Tag der Tag der Unbefleckten Empfängnis und nachdem mir soeben ein Irrer den Weltuntergang verkündet hat verpasse ich nun die Moralpredigt des Papstes auf dem Spanischen Platz, ein letztes Mal hätte ich den Pontifex sehen können, den spirituellen Nachfolger des ersten Palästinenserführers, den einzigen, der irgendetwas erreicht haben soll, dabei war das keineswegs von vornherein ausgemacht für den abgebrannten, schmächtigen levantinischen Jammerlappen der zeit seines Lebens keine einzige Zeile niedergelegt hat, draußen auf dem Gleis neben uns ist ein Zug eingefahren und hinter der Fensterscheibe hat ein hübsches Mädchen etwas im Blick, ich glaube sie spricht mit jemandem, den ich nicht sehe, sie ist mir sehr nahe tatsächlich höchstens einen Meter von mir entfernt nur zwei ziemlich schmutzige Scheiben trennen uns ich muss stark sein ich darf nicht bei den Gesichtern junger Frauen verweilen ich muss mich wieder zusammennehmen Schwung holen für die verbleibenden Kilometer für die Leere danach und das Grauen der Welt ich ändere mein Leben wechsle den Beruf besser nicht darüber...


Müller, Sabine
SABINE MÜLLER, geb. 1959 in Lauffen am Neckar, übersetzt seit 25 Jahre aus dem Englischen und zusammen mit Holger Fock aus dem Französischen u.a. Werke von Elie Wiesel, Andreï Makine, Cécile Wajsbrot, Erik Orsenna, Philippe Grimbert, Jean Rolin, Olivier Rolin, Patrick Deville, Alain Mabanckou, Pascal Quignard, Antoine Volodine und Mathias Énard. 2011 wurden sie und Holger Fock für ihr gemeinsames Werk mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Fock, Holger
Holger Fock, geb. 1958 in Ludwigsburg, übersetzt seit 30 Jahren französische Literatur u. a. von André Breton, Jacques Rigaut, Théophile Gautier, Pablo Picasso (Gedichte), Pierre Michon und Pierre Guyotat. 2008 erhielt er den Förderpreis des Europäischen Übersetzerpreises Offenburg, 2009 den Anerkennungspreis der Dialogwerkstatt Zug und jüngst, im September 2015 in Lausanne, den Prix lémanique de la traduction. Zudem ist er Präsident des Rats der Europäischen Literaturübersetzerverbände CEATL.

Enard, Mathias
Mathias Enard, geboren 1972 in Niort (Westfrankreich), Studium der Kunstgeschichte und orientalischen Sprachen, lebt, nach längeren Aufenthalten im Nahen Osten, heute in Barcelona, wo er Arabisch lehrt. Für »Zone« erhielt er in Frankreiche 2008 den »Prix Décembre« und 2009 den »Prix du Livre Inter«, in Deutschland den deutsch-französischen »Candide Preis 2008«.



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