Epple / Erhart | Die Welt beobachten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 382 Seiten

Epple / Erhart Die Welt beobachten

Praktiken des Vergleichens

E-Book, Deutsch, 382 Seiten

ISBN: 978-3-593-43246-5
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Von der Entdeckung und Erforschung der einen einzigen Welt am Beginn der europäischen Moderne bis zur statistischen Vermessung und Vereinheitlichung von Wirtschafts- und Universitätssystemen: Die Praxis des Vergleichens hat sich in zunehmendem Maße als vorherrschendes Instrument zur Erfahrung und Herstellung von Weltwissen und -bewusstsein etabliert. Dieser Band versammelt Grundlagentexte zu einer bislang kaum ausgearbeiteten Theorie und Praxis des Vergleichens und erprobt die Geschichtsschreibung einer durch Vergleiche entstandenen, umkämpften Weltgesellschaft: am Beispiel der Weltreiseliteratur, der im 19. Jahrhundert erstmals zu beobachtenden Weltkriege und der Herausbildung des globalen Kapitalismus.
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Weitere Infos & Material


Inhalt

Die Welt beobachten - Praktiken des Vergleichens.7
Angelika Epple/Walter Erhart

I. Warum Praktiken des Vergleichens interessieren

Warum vergleichen?.35
Rajagopalan Radhakrishnan

Warum nicht vergleichen?.63
Susan Stanford Friedman

›Vergleich‹ - eine begriffsgeschichtliche Skizze.85
Willibald Steinmetz

Vergleichen als Praxis. Vorüberlegungen zu einer praxistheoretisch orientierten Untersuchung von Vergleichen.135
Johannes Grave

Doing Comparisons - Ein praxeologischer Zugang zur Geschichte der Globalisierung/en.161
Angelika Epple

II. Fallstudien zur Wirkmächtigkeit von Vergleichen

"Beobachtung und Erfahrung, Sammeln und Vergleichen" Adelbert von Chamisso und die Poetik der Weltreise im 18. und 19. Jahrhundert.203
Walter Erhart

Ludwig Leichhardts Vergleiche und Leichhardts Tagebuch einer Landreise in Australien von Moreton Bay nach Port Essington während der Jahre 1844 und 1845 im Vergleich.235
Helmut Peitsch

Das "Zeitalter der Vergleichung" -Philologie, Ethnographie, Literatur und Medien.265
Kerstin Stüssel

Krimkrieg und ›Indian Mutiny‹ als Anlass zum Kulturvergleich in viktorianischen Publikumszeitschriften.285
Barbara Korte

Kriegsbericht und Vergleich: Krimkrieg 1853-1856 - Deutsch-Französischer Krieg 1870/71 - Südwestafrikanischer Krieg 1904-1907.311
Frank Becker

Beobachtung und Vergleich in der Entwicklung von Luftkriegskonzeptionen - Das Beispiel von Giulio Douhet.337
Thomas Hippler

Nichtwestliche Wirtschaft im Vergleich - Anmerkungen zu Phyllis Deane.357
Daniel Speich Chassé

Autorinnen und Autoren.381


Die Welt beobachten - Praktiken des Vergleichens
Angelika Epple/Walter Erhart

Auf seiner zweiten Südseereise (1772-1775) wurde Kapitän James Cook nicht nur vom preußischen Naturforscher Johann Reinhold Forster und dessen siebzehnjährigem Sohn Georg Forster begleitet, sondern auch von dem Maler William Hodges. Die Britische Admiralität hatte das Unter-nehmen finanziert, und Hodges sollte die während der Reise angefertigten Skizzen nach seiner Rückkehr zu Ölgemälden für eine Ausstellung in der Londoner Royal Academy ausarbeiten. Die dazugehörigen Stiche waren für die Bebilderung des offiziellen Reiseberichts vorgesehen. Als die großen weltumspannenden Forschungs- und Entdeckungsreisen des 18. Jahrhunderts dem europäischen Publikum präsentiert werden sollten, kam den Schriftstellern und Malern eine ganz besondere Rolle zu: Ihnen oblag es, die auf den Reisen erstmals beobachtete außereuropäische Welt detailliert darzustellen - als greifbar gemachtes Erlebnis für die Zuhausegebliebenen, als Einladung, die unbekannte Welt so zu sehen, wie sie wirklich war.
Hodges' Stiche und Ölgemälde hatten eine prägende Wirkung auf die europäische Imagination des Pazifiks, insbesondere jenes paradiesischen Ortes, der von dem französischen Weltreisenden Louis-Antoine de Bou-gainville 1768 entdeckt worden war und im 20. Jahrhundert noch in den Gemälden Paul Gaugins seine fortgesetzte Faszination entfaltete: Tahiti. Im Jahr 1776 beendete Hodges die Arbeit an dem unter dem Kurztitel "Tahiti Revisited" bekannt gewordenen Gemälde "A View taken in the bay of Oaite Peha [Vaitepiha] Otaheite [Tahiti]". Den von weichem Son-nenlicht beschienenen Frauen im Fluss hat er dabei noch eine als Bildsäule drapierte Totemfigur hinzugefügt, die, neben den Badenden postiert, an griechisch-antike Statuen erinnert. Hodges erzeugte damit den Eindruck einer vom europäischen Kontakt noch unberührten Natur sowie einer gänzlich fremden Kultur, zugleich stilisierte er die Szene als einen locus amoenus, der in einer vertrauten Bildersprache Anklänge an die Antike mit der europäisch-männlichen Sehnsucht nach verführerischen, sich wie Nymphen darbietenden weiblichen Naturwesen kombinierte. Der dargestellte Ort, immerhin einer der betriebsamen Hauptanlegeplätze der europäischen Ankömmlinge, zeigt sich auf dem Gemälde von allen Spuren der Seefahrt und des Kulturkontakts gereinigt, gleichzeitig aber wurde die auf solche Weise als ursprünglich vorgeführte Welt einem vorgängigen interpretativen Rahmen eingefügt: Erkennbar ist eine Bucht auf Tahiti, aber auch eine europäisch-antike Phantasie; die dargestellten Südseefrauen sind tätowiert, aber hellhäutig; die Landschaft ist pazifisch, aber gerahmt von durchaus alpin anmutenden Bergen. Die Welt beobachten heißt hier eben auch, sie der europäischen Vorstellungsart anzugleichen, sie dadurch erst vergleichbar zu machen. Auf diese Weise wird das von Hodges präsentierte Wissen über die noch unbekannte südpazifische Welt mit vorgefertigten (Vergleichs-)Maßstäben versehen, die einerseits eine neue Sicht auf die europäischen Sehnsüchte eröffneten, andererseits aber auch die Insel Tahiti bereits im Moment ihrer Entdeckung (um-)interpretierten.
Das Vergleichen des Fremden, Anderen, Neuen, so machen die Bei-spiele deutlich, orientiert sich an bekannten Mustern, wiederholt, variiert oder transformiert sie. Es ist dadurch eng mit dem je spezifischen histori-schen Kontext verbunden, innerhalb dessen verglichen wird. Das Verglei-chen ist keine aus sich zu bestimmende, rein individuelle Tätigkeit, viel-mehr ist es eingebettet in soziale Praktiken, die bestimmte Vergleiche nahe legen und andere verhindern. Die Beispiele zeigen nicht nur die prägende Wirkung vorgängiger Praktiken, sondern sie zeigen auch, wie die Beteiligten die Praktiken des Vergleichens selbst verändern, indem sie neue Arten und Weisen des Vergleichens erproben. Dabei können ganz neue Vergleichsgegenstände erzeugt werden oder bereits bekannte in neuem Licht erscheinen.
Der schöpferischen Imagination kommt dabei eine wichtige Rolle zu. So beschrieb Bougainville Tahiti kurz zuvor in seiner Voyage autour du monde (1771) als eine Insel, auf der die Freimütigkeit des Goldenen Zeitalters ("la franchise de l'âge d'or") herrsche. Kein Wunder also, dass in seinem Reisebericht kurz darauf ein junges, sich entblößendes Mädchen in den Augen aller wie eine Venus erschien, die sich dem phrygischen Hirten zeigte ("et parut aux yeux de tous comme Vénus se fit voir au berger phrygien") . Kaum betraten die französischen Welteroberer die Küste Tahitis - so führt es Bougainville zumindest vor -, bot die fremde Welt sich an, nicht nur wahrgenommen, sondern auch verglichen zu werden: Ein Inselbewohner habe ein anakreontisches Lied gesungen, "une chanson, sans dout anacréontique", die "charmante" Szene sei des Pinsels eines Boucher würdig" gewesen ("scène charmante et digne du pinceau de Boucer") , und Bougainville habe sich geradewegs in den Garten Eden zurückversetzt gefühlt ("Je me croyais transporté dans le jardin d'Eden") . Folgerichtig erhielt die Insel zunächst - wie in einem Gemälde des französischen Rokoko-Malers François Boucher - den antikischen Namen "Nouvelle-Cythère".
Weltreisende erkundeten Vergleichshorizonte, die Welt beobachten hieß sie zu vergleichen: Selbst die scheinbar authentische Wiedergabe des Gesehenen auf den Bildern von William Hodges war nach den Maßgaben europäischer Vergleichspraktiken geformt, verändert und stilisiert. Noch expliziter sind die diskursiven Vergleichspraktiken in den korrespon-dierenden Darstellungen der Naturforscher und Schriftsteller. Der junge Georg Forster hatte in seinem nach der Expedition in englischer und deutscher Sprache veröffentlichten Reisebericht die von Hodges insze-nierte Bucht in folgender Manier beschrieben: Die um das Schiff herum-schwimmenden "Weibsbilder" boten sich als die "neuen Mätressen" der Matrosen an, die Seefahrer waren "bezaubert" beim "Anblick ver-schiedner solcher Nymphen", angesichts ihrer Schwimmkünste hätte man die Inselbewohner "fast für Amphibia halten" können. Auf unmerkliche Weise unterlegt Forster seine Tahiti-Darstellung mit einem immer dichter werdenden Netz europäischer Referenzen. Die "Frauenspersonen", die - an einer anderen Stelle, in einer anderen Bucht - "wie Amphibia im Wasser herumgaukelten" , wecken Assoziationen nicht nur in Bezug auf die antike Mythologie, auf Doppelwesen, halb Fisch, halb Landtier, auf Fabelwesen und Elementargeister, sie verweisen ebenso auf die Metropolen der europäischen Gegenwart, an die französischen "Mätressen" und die in England "nymphs" genannten Prostituierten. So von Verführungskunst - und von Vergleichen - gereizt, kann es Forster den Seeleuten nicht verübeln, wenn sie "sich den guten Willen dieser Schönen zu Nutze machten". Die zunächst noch als Wesen der antiken Mythologie und als zauberhaft beschriebenen Frauen wandeln sich nur wenige Zeilen später in Mitglieder einer Gesellschaftsschicht, die sexuell auszubeuten für Forster und die Seemänner kein Problem darstellt: "Ein Hemd, ein Stück Zeug, ein Paar Nägel waren zuweilen hinreichende Lockungen für die Dirnen, sich ohne Schaam preis zu geben."
(Welt-)Reisebeschreibungen und die ihnen häufig beigegebenen Illust-rationen präsentierten die fremde neue Welt, ihr Erfolg gründete in nicht unwesentlichem Maße auf den von den Autoren angestrengten und von den Leserinnen und Lesern nachvollzogenen Vergleichen mit der bekann-ten, der alten und der vertrauten Welt. Vergleiche und Vergleichen sind dabei analytisch von einander zu unterscheiden, auch wenn dies sprachlich häufig schwierig ist. Vergleiche werden durch die komparative Tätigkeit von Akteuren, mithin durch die Praktiken des Vergleichens, durch Wiederholungen und leichte Verschiebungen verfestigt, sie fügen sich häufig zu Stereotypen, ermöglichen Klassifikationen und erleichtern andere Zuschreibungen. Die Praxis des Vergleichens war die eigentliche wissenschaftliche Tätigkeit auf diesen Reisen, eine Art Arbeitsplatzbeschreibung der die Ergebnisse aufzeichnenden Naturforscher: Das genaue Beobachten und Beschreiben, das Sammeln, Sortieren, Klassifizieren, Aneignen, Einordnen und Benennen gehörten allesamt zu den von den empirischen Wissenschaften geforderten Tätigkeiten, denen die meist männlichen Forschungsreisenden, die Botaniker und Mediziner, die Geographen, Anthropologen und Geologen unermüdlich nachgingen. Das Beobachtete war deshalb - bei Hodges wie bei Forster - nicht nur implizit von europäischen Vergleichsmaßstäben umstellt, die das, was zu sehen war, erst beschreibbar machten; die weit ausgreifende Erforschung der Welt bestand zugleich darin, das durch Vergleichen gewonnene Wissen für weiter gehendes Vergleichen zu nutzen, vor allem wenn es darum ging, das Neue und Fremde in ein bestehendes Wertesystem zu integrieren und gleichzeitig der ständig wachsenden Vielfalt des Erlebten und Wahrgenommen gerecht zu werden. Sobald Forster versuchte, das Geschehen den eigenen Kategorien zuzuordnen, war er auf das Vergleichen angewiesen, und sobald er Ähnlichkeiten und Unterschiede etwa "in Betracht des anderen Geschlechts" reflektierte, "wegen dessen man zu allen Zeiten und in allen Ländern so sehr verschiedner Meynung gewesen ist", kamen die unter-schiedlichen und verglichenen Praktiken der ganzen Welt in den Blick:
"In einigen Gegenden von Indien wird kein Mann von Stande eine Jungfer hei-rathen; in Europa hingegen ist eine verunglückte Jungfer fast ohne Hoffnung, je wieder zu Ehren zu kommen. Türken, Araber, Tartaren treiben ihre Eifersucht sogar bis auf eingebildete Zeichen der Jungferschaft, aus welcher sich der Malabar so wenig macht, daß er sie seinem Götzen opfert."
Die auf die Kenntnis der gesamten Welt zielenden Forschungs- und Ent-deckungsreisen des 18. und 19. Jahrhunderts sind nur das sichtbarste Zei-chen in der Entwicklung einer europäischen Moderne, die das Vergleichen zunehmend als ein selbst weltumspannendes Verfahren etablierte. Im Kontext einer erstmals "globalen Komparatistik" wurden nun auch die am weitesten auseinander liegenden Entitäten - Völker, Nationen Religionen, Vergangenheiten und Lebensformen - miteinander verglichen.
Allein schon ein Hinweis auf die frühneuzeitliche "Querelles des an-ciens et des modernes" oder auf das Aushandeln einer "Balance of Power" auf der weltpolitischen Bühne nach dem Wiener Kongress verdeutlicht, welche Bedeutung dem Vergleichen insgesamt sowohl bei der Herausbildung einer europäisch modellierten Moderne als auch einer in Europa zentrierten politischen Weltordnung zukam. Als 1687 der Streit um die Vorbildhaftigkeit der Antike in der Académie Française ausbrach, trug Charles Perrault ein Gedicht vor, in dem er betonte, dass die "Alten" eben auch nur Menschen seien und dass man das Zeitalter Ludwigs mit dem des Augustus vergleichen könne. Zutreffend schreibt Heinz Dieter Kittsteiner in seiner umfassenden Darstellung der sich allmählich herausbildenden Moderne, dass das eigentlich Bahnbrechende und Skandalöse dieses Verses "in dem Vergleich" lag , genauer: in der Art und Weise, wie Perrault zu vergleichen wagte und wie er somit die zeitgenössischen Praktiken des Vergleichens herausforderte. Zwar unterlegte er seinen Ausführungen keine Fortschrittssemantik, er hob also nicht darauf ab, dass er und seine Zeitgenossen die Vorbilder aus der Antike übertrumpft hätten. Dennoch aber wurden mit der "querelle" allein durch das Vergleichen die hergebrachten Ordnungsschemata und Kategorisierungen in Unordnung und in Bewegung gebracht: Indem die Antike der Moderne ›gleich‹ gestellt wurde, verlor das Paradigma der Nachahmung antiker Vorbilder seine prägende Kraft; aufgrund der im Vergleichen neu hergestellten Ähnlichkeit musste sich die Moderne nun auf andere Art und Weise von ihrem einstigen Vorbild unterscheiden.
Wenig später sorgte der historische Fortschrittsgedanke dafür, dass solche Vergleiche auch temporalisiert werden konnten: So ließen sich zum Beispiel die auf den Weltreisen entdeckten und beobachteten, alsbald ›pri-mitiv‹ genannten Kulturen auf einer Vergleichsskala des zivilisatorischen Fortschritts einordnen. Der Vergleichsmaßstab, der Ähnlichkeiten und Unterschiede erst zu identifizieren half, orientierte sich dabei an den euro-päischen Ideen des Fortschritts, der Moral und der ›einen‹ Menschheit, er war jedoch keineswegs unverändert festgelegt: Wechselweise konnte ein in der Südsee beobachteter und vermeintlich vorzivilisatorischer ›Naturzu-stand‹ als paradiesisch oder als rückständig interpretiert werden.
Auf diese Weise wurde die Welt im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit immer vergleichbarer: Alles konnte mit allem in Beziehung gesetzt werden, die jeweils verglichenen und unter-schiedlichen Entitäten - alte und neue Welt, Antike und Moderne, in Zeit und Raum entfernte Zivilisationen, Moralsysteme, Staaten und Völker - konnten mithilfe einer nun verfügbaren Vergleichshinsicht immer auch ähnlich und ›gleich‹ gemacht werden. Dies rief bereits im 18. Jahrhundert eine Kritik hervor, die im Gegenzug auf der Unvergleichbarkeit der Epo-chen und der Kulturen insistierte: "im Grunde also wird alle Vergleichung mißlich", urteilte Herder in seiner kleinen Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit und versuchte der wissenschaftlichen Methode des Vergleichens im Interesse historischer Einzigartigkeit und Individualität Einhalt zu gebieten. Freilich wird schnell deutlich, dass Herder, um Individualität überhaupt behaupten zu können, selbst verglei-chen musste. Unterschiedliche Praktiken des Vergleichens können je nach Kontext entweder die Gleichartigkeitsannahme oder aber die Differenzbeobachtung stärker betonen. So ist es möglich, dass sich - im Urteil des vergleichenden Akteurs - am Ende eines Vergleichsprozesses ergibt, dass es für einen Gegenstand kein geeignetes comparatum bezüglich eines spezifischen tertium zu geben scheint. Mit guten Gründen könnte für diesen Gegenstand dann die Behauptung der Einzigartigkeit bzw. der Unvergleichbarkeit in dieser spezifischen Hinsicht aufgestellt werden. Die Einzigartigkeit kann aber nur beansprucht werden, wenn zuvor Vergleiche durchgeführt und insofern auch eine gewisse Vergleichbarkeit angenommen wurde. Diese dem Vergleichen innewohnende Ambivalenz machte es für die Relationierung einer europäisch modellierten Moderne mit anderen Weltregionen der Zeit so attraktiv. Durch Vergleichen ließ sich das Verhältnis von Gleichheit und Differenz, von Ähnlichkeit und Einzigartigkeit, von Rückständigkeit (ein Weniger an Geschichte) und Fortschrittlichkeit (ein Mehr an Geschichte) immer wieder neu aushandeln.
Der Prozess und die Praxis des Vergleichens ließen sich daher kaum aufhalten: In den um 1800 zahlreich entstandenen ›vergleichenden Wissenschaften‹, aber auch in der kulturellen Alltagswahrnehmung erhielt das Vergleichen einen unbestritten zentralen Stellenwert innerhalb der sich herausbildenden modernen Gesellschaften. Die im 19. Jahrhundert in allen Teilen der nunmehr gänzlich entdeckten Erde einheitlich eingeführte Weltzeit ließ den einen eurozentrischen Zivilisationsprozess auch im Alltag spürbar werden, die vormals abgeschiedenen Gesellschaften wurden aus ihren zumeist noch zyklisch und kosmologisch organisierten Zeitrhythmen gerissen und in ihren Besonderheiten vergleichend erfasst: "Die standardisierte Weltzeit, die Vorstellung von Fortschrittlichkeit und Rückständigkeit sowie die Erfindung der historischen Tiefenzeit katapultierten Gesellschaften aus ihren kosmologischen Nischen und machten sie vergleichbar."
"Es ist das Zeitalter der Vergleichung!", so lautete Friedrich Nietz-sches emphatische Diagnose am Ende des 19. Jahrhunderts, und sie wurde seitdem von vielen Theoretikern der Moderne wiederholt. Michel Foucault beschrieb den Übergang zur neuzeitlichen und modernen Wissensordnung als einen Wandel im Umgang mit Vergleichsoperationen: vom Denken in Analogien und Ähnlichkeiten zur Klassifizierung von Identität und Differenz. Die Moderne - so Niklas Luhmann - zeichne sich in erster Linie durch ein spezifisches "Vergleichsinteresse" aus; insbesondere der sich im 18. Jahrhundert herausbildende Begriff der Kultur sei aus einer "intellektuellen Praxis des Vergleichens" hervorgegangen, die seitdem nicht aufgehört habe, die gesellschaftlichen Teilsysteme einer funktional differenzierten Moderne miteinander in Beziehung zu setzen. Mittlerweile werden fast sämtliche soziale, politische und wirtschaftliche Prozesse - Staaten, Volkswirtschaften, Universitäten, Erziehungssysteme, Bevölkerungen und Einkommensverhältnisse - miteinander verglichen und einem globalen Maßstab, zumeist einem durch Vergleichen erst ermöglichten und nicht selten als ›neoliberal‹ klassifizierten Wettbewerb unterworfen. Derartige Praktiken des Vergleichens haben in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Globalisierungsprozesse begleitet und vorangetrieben, sie waren - so lautet der neueste soziologische Befund - an einer bestimmten Form der "Welterzeugung" unmittelbar beteiligt: So wie in der (Welt-)Reiseliteratur um 1800 die europäischen Vergleichsmaßstäbe das Bewusstsein der ›einen‹ gemeinsamen Welt herstellten, so scheinen Zahlen und Statistiken heute die Idee (und die Illusion) einer sich immer mehr angleichenden Weltgesellschaft in die Wirklichkeit zu überführen.
Zumeist wird dabei jedoch ausgeblendet, wer wen vergleicht und wer ein Interesse an solchen Vergleichen hat, auch wird bei der Herstellung von Ähnlichkeiten oftmals übersehen, dass die zumeist implizit ins Spiel gebrachten Gemeinsamkeiten und Vergleichshinsichten, die tertia compara-tionis, nicht selbstverständlich und schon gar nicht ›natürlich‹, sondern in hohem Maße konstruiert und interessegeleitet, gegebenenfalls auch fraglich und manipuliert sein können. Der Vergleich ist keineswegs nur eine wissenschaftliche Methode, als die er bislang vorrangig untersucht worden ist, er ist auch ein Herrschaftsinstrument. Aus diesem Grund erscheint es notwendig, auch das wissenschaftliche Vergleichen genauso wie die komparativen Praktiken von Bougainville, Forster und Hodges, als eine vielgestaltige historische Praxis zu untersuchen, die bei näherer Betrachtung ihre vermeintliche Neutralität und Unschuld gänzlich verliert. Stellt man das Vergleichen ins Zentrum des Interesses, wird der ›wissen-schaftliche Vergleich‹ ein Untersuchungsgegenstand neben anderen Ver-gleichspraktiken.
In den letzten Jahren geriet jedoch nicht nur die häufig problematisierte Methode des wissenschaftlichen Vergleichs, sondern auch das Vergleichen selbst in die Kritik (vgl. den im folgenden Band abgedruckten Beitrag von Rajagopalan Radhakrishnan). Eine vornehmlich postkolonial orientierte Theorie hat insbesondere die enge Verbindung zwischen einer vom Westen ausgehenden ›Modernisierung‹ mit der Praxis des Vergleichens für eine methodische, theoretische und inhaltliche Kritik des Eurozentrismus und dessen Geschichte in Anspruch genommen. Wie bei Hodges und Forster war das tertium comparationis beim Vergleichen ›vormoderner‹ und ›moderner‹ Gesellschaften ein gänzlich europäischer Vergleichsmaßstab; die postkoloniale Kritik ging deshalb sogar so weit, das Vergleichen als globalisierte Praxis moderner europäischer Dominanzbestrebungen grundsätzlich in Frage zu stellen.
Es scheint, als ob mit dem Ende einer strikt europäischen Moderne auch die damit verbundenen Ordnungen des Vergleichens auf dem Prüf-stand stehen, und mit den Vergleichsmaßstäben verändern sich auch die Praktiken, die Funktionen und die Ziele des Vergleichens selbst. "Warum nicht vergleichen?" - fragt Susan Standford Friedman in ihrem nachfol-gend abgedruckten Beitrag und begegnet der postkolonialen Kritik mit einigen Vorschlägen, um die komparativen Verfahren bewusst anders durchzuführen: als Gegenüberstellung und Kollision unvereinbarer Enti-täten, als Collage von frei verfügbaren comparata, als skeptische Weigerung, mit fixierten (Vergleichs-)Maßstäben unweigerlich doch wieder neue Hierarchien zwischen den Vergleichsgliedern herzustellen. Mittlerweile sind weitere Alternativen zur Methode des Vergleichs vorgestellt und erprobt worden: "comparativity" als offenes Konzept ohne hierarchisierende Festschreibung eines tertium comparationis, ein Bewusstsein darüber, dass Differenzen und Widersprüche durch Vergleichen gerade nicht zu überbrücken, sondern anders miteinander zu verbinden sind, "›connectivity‹ instead of ›comparison‹" , eine in solche Richtungen weisende neue "Politik", gar eine neue "Ethik" des Vergleichens. In Zeiten fortgeschrittener Globalisierung rückt die Welt derzeit aufs Neue in den Mittelpunkt philosophischer und theoretischer Reflexion; in besonderer Weise aber - so war jüngst zu lesen - kehrt dadurch auch eine Form des vergleichenden Denkens, le comparatism, in das Zentrum der intellektuellen Debatten zurück.
Die Welt beobachten, heißt immer auch anders vergleichen, und wenn die Aufklärer und Weltreisenden des 18. Jahrhunderts sich auf die Suche nach einer gemeinsamen, europäisch bestimmten Menschheit und einer einheitlichen (Welt-)Geschichte gemacht haben, steht heute durchaus in Frage, an welchen Maßstäben sich die Praxis des weltweiten Vergleichens ferner orientieren soll: in einer nunmehr anderen Welt, in der Europa auf-gehört hat, eine maßgebliche Rolle zu spielen, in einem Zeitalter, das gänzlich neue Ähnlichkeiten, etwa zwischen Menschen, Artefakten und Tieren, aber auch unvorhersehbare neue Differenzen zwischen globalen und lokalen Einheiten provoziert.

1. Doing Comparisons - ein interdisziplinäres Forschungsprogramm
Sowohl in der Theoriebildung über die europäische Moderne als auch in der darauf reagierenden Kritik an der eurozentrischen Vorstellung eines einzigen zielgerichteten Modernisierungsprozesses spielte das Vergleichen häufig eine grundlegende Rolle, wurde jedoch selbst kaum jemals einer genaueren Betrachtung unterzogen. Dass das Vergleichen trotz seiner vielfach tragenden Funktion in sozialen und historischen Prozessen nicht als Untersuchungsgegenstand eigenen Rechts in den Blick rückte, liegt nicht zuletzt daran, dass der Vergleich - im Gegensatz zur Tätigkeit des Vergleichens - als eine vermeintlich selbstverständliche elementare kogni-tive Operation kaum einer näheren Erklärung zu bedürfen schien. Übersehen wurde dabei jedoch, dass Vergleichen nicht nur ein durchaus komplexer und voraussetzungsreicher Vorgang ist, sondern zugleich eine vielgestaltige, historisch und sozial wandelbare Praxis, deren Geschichte und Tragweite bislang kaum erforscht worden sind.
Hier setzt das Anliegen des vorliegenden Bandes an: Zwischen der vornehmlich soziologischen Thesenbildung über die Entstehung einer auf Vergleichsinteressen beruhenden Weltgesellschaft einerseits und der Kritik des Vergleichs als einer wissenschaftlichen Methode und eines globalen Machtinstruments andererseits versuchen die nachfolgenden Beiträge erste geschichts- und kulturwissenschaftliche Forschungen über die vielfältigen Praktiken des Vergleichens überhaupt erst anzuregen und zu etablieren. Jenseits großflächiger Thesen und pauschaler Kritik wurde die Methode des Vergleichs bisher weder als eine Praxis analysiert, die Entitäten konstruiert, Vergleichshinsichten setzt und dabei oftmals nur schwer durchschaubare Objektivitätseffekte erzielt, noch wurde sie eingebettet in das Panorama unterschiedlicher sozialer und historisch variabler Arten und Weisen des Vergleichens.
Vergleiche wurden meist als eine grundlegende Form der Relationie-rung von Objekten beschrieben: Mindestens zwei Entitäten, die comparata, werden mittels einer Vergleichshinsicht, des tertium comparationis, auf Gleichheiten, Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten hin befragt. Vergleiche weisen demnach eine triadische Struktur auf, sie bestehen aus mindestens zwei Entitäten und einer Vergleichshinsicht. Da Vergleiche gerade nicht von den Eigenschaften der comparata her bestimmt werden können, wird jedoch deutlich, dass sich Vergleiche nicht hinreichend als "dreistellige Operation" bestimmen lassen. Tendenziell kann nämlich alles mit allem verglichen werden, sofern eben Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen mindestens zwei Objekten - Dingen und Lebewesen, historischen Ereignissen und aktuellen Geschehnissen - innerhalb bestimmter Kontexte erkennbar gemacht werden können; entscheidend sind daher die Situiertheit des Vergleichens, dessen Eingebundensein in bestimmte historische Kontexte sowie der Vollzug des Vergleichens - womit das Vergleichen untrennbar an vergleichende Akteure gebunden ist. Je nach situativem Kontext wählen sie eine Vergleichshinsicht, die dazu Anlass gibt, das zu Vergleichende und die zu vergleichenden Entitäten überhaupt erst vergleichend in den Blick zu nehmen. Die Wahl des tertium comparationis setzt dabei zum einen voraus, dass den comparata eine Gleichartigkeit unterstellt werden kann, die es erlaubt, ein und dieselbe Hinsicht auf sie anzuwenden; zum anderen impliziert sie eine gerichtete Aufmerksamkeit, ein Interesse und eine Absicht, bestimmte Vergleiche überhaupt erst durchzuführen. Das Vergleichen lässt daher bestimmte Eigenschaften der comparata als besonders bedeutsam in den Vordergrund, andere in den Hintergrund treten. Weder sind die zu vergleichenden Objekte im Akt des Vergleichens starr und in ihrer Verwendung fixiert, noch ergibt sich das tertium comparationis von selbst; vielmehr sind comparata und Vergleichshin-sichten je nach Situation höchst wandelbar, abhängig von der jeweiligen Perspektive der vergleichenden Akteure und den dabei oftmals nicht explizit gemachten Kontexten und Zwecken der Vergleichsoperation. Wenn Akteure vergleichen, ordnen sie die Welt, bringen zugleich aber - indem sie auf Ähnlichkeiten und Differenzen aufmerksam machen - eine Dynamik ins Spiel: neue Verknüpfungen, eine neue (Un-)Ordnung, ein neu gestaltetes Wissen. Sie setzen mit Hilfe des tertium comparationis die comparata ins Verhältnis, und die so vollzogenen Vergleiche können dazu beitragen, neue Erkenntnisse über die Objekte und ihre Beziehungen zueinander zu gewinnen oder bereits vorhandenes Wissen (neu) zu ordnen.
Vergleichen bemisst sich demnach nicht an den zu vergleichenden Objekten, sondern im Hinblick auf das ›Woraufhin‹. Sowohl die comparata als auch das tertium comparationis orientieren sich an einem situativen Rah-men, der die dreistellige Operation auf einen vielfältigen Kontext hin öff-net und dadurch den performativen Vollzug, die Pragmatik des Verglei-chens, eine "tetradische Struktur" des Vergleichens - "Vergleichsglieder, Vergleichshinsicht, Kontext der Hinsicht, Kontext der Glieder" - in den Blick rückt.
Trotz der Allgegenwart des Vergleichens wurde das, was Akteure tun, wenn sie vergleichen, in den Geschichts- und Kulturwissenschaften bislang kaum thematisiert. Um diese Voraussetzungen, Leistungen, Grenzen und Effekte des Vergleichens angemessen zu analysieren, bedarf es deshalb einer Untersuchungsperspektive, die das Vergleichen nicht auf eine logische Relation reduziert, sondern es als eine historische Praxis erst sichtbar macht. In Anlehnung an ein performatives Verständnis von Geschlecht - "Doing Gender" - hat sich der Begriff des doing auch im deutschsprachigen Wissenschaftsraum für einen Begriff von Praxis durchgesetzt, der auf die Dimension des Handelns in actu, also im Vollzug, abhebt. Die Welt beobachten, das Einüben sozialer Praktiken, doing culture - in solcher Weise und in diesem Zusammenhang lässt sich doing comparisons als eines der wichtigsten, bislang übersehenen Untersuchungsfelder der kultur- und geschichtswissenschaftlichen Forschung identifizieren. Dies gilt insbesondere mit Blick auf den vielgestaltigen historischen Wandel zwischen Vormoderne, früher Neuzeit und Moderne. Nicht der Vergleich an sich, sondern seine mit ihm durchgeführten, historisch vielfältigen und sich verändernden Praktiken, nicht der Vergleich, sondern das Vergleichen steht im Zentrum einer solch neuen praxistheoretischen und historischen Grundlegung komparativer Verfahren.
Der vorliegende Band eröffnet mit zwei hier wieder abgedruckten und übersetzten amerikanischen Beiträgen zur Aktualität und Kritik des Ver-gleichens in der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Debatte. Die di-rekt aufeinander bezogenen Beiträge von Rajagopalan Radhakrishnan ("Warum vergleichen?") und Susan Stanford Friedman ("Warum nicht vergleichen?") verweisen nicht allein auf die aktuelle politisch-soziale Be-deutung des Vergleichens sowie auf die damit verbundenen gegenwärtigen Fragestellungen geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen, sie ma-chen zugleich - eher implizit - auf die Notwendigkeit einer erst noch zu entwickelnden historischen und theoretischen Perspektive des Verglei-chens aufmerksam. Willibald Steinmetz legt aus diesem Grund in seiner begriffsgeschichtlichen Studie die ersten Fundamente für eine noch zu schreibende Geschichte und historische Epistemologie des Vergleichs ("›Vergleich‹ - eine begriffsgeschichtliche Skizze"). Johannes Grave situiert den wissenschaftlichen Gegenstand des Vergleichens in einem praxistheoretischen Feld. Wie andere Praktiken lässt sich das Vergleichen weder auf die Intention von Individuen noch auf vorgefertigte soziale Strukturen reduzieren, sondern entsteht jeweils in einem komplexen, in soziale und materiale Kontexte eingebetteten Vorgang. Erst wenn das Vergleichen als eine historische Praxis konzeptualisiert wird, öffnet sich der Blick für eine historische Typologie sowie für eine künftige Funktions- und Wirkungsgeschichte des Vergleichens ("Vergleichen als Praxis. Vorüberlegungen zu einer praxistheoretisch orientierten Untersuchung von Vergleichen"). Angelika Epple diskutiert die Chancen eines praxeologischen Zugangs zur Globalisierungsforschung, der das komparative Handeln von Akteuren ins Zentrum der Analyse stellt und so das Mikro-Makro-Problem auf eine neue Art und Weise löst. Da Vergleichspraktiken grundlegend sind für das Herstellen einer Ordnung, da sie gleichzeitig ungesteuerte Dynamiken freisetzen, zeigt deren Analyse, wie die schöpferische Kraft des Vergleichens größer angelegte historische und soziale Wandlungsprozesse bis hin zur Globalisierung initiiert. So lässt sich das Vergleichen in seiner Bedeutung für historische Transformationsprozesse erfassen und beschreiben ("Doing Comparisons. Ein praxeologischer Zugang zur Geschichte der Globalisierung/en").
Die Bedeutung der Praxis und des Kontexts für den Akt des Verglei-chens lässt sich bereits an einer seiner kleinsten sprachlichen-rhetorischen Formen beobachten, der Metapher, einem Vergleich, bei dem der Ver-gleichspartikel "wie" fehlt, der gerade deshalb aber die impliziten Grundla-gen und Funktionen eines solchen Vorgangs verdeutlicht. Die alltägliche rhetorische Praxis des Metaphorisierens ist sowohl kognitiv-sprachlich als auch kommunikativ-kulturell situiert, sie erzeugt - folgt man der neuesten Metapherntheorie - eine vom tertium comparationis angestoßene Bewegung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, in der die comparata immer auch verändert werden, in der neue Kontexte hervorgebracht und neue mentale und kulturell wirksame Wissensbestände produziert werden. Die in Metaphern und einfachen sprachlichen Vergleichen wirksame Übertragung semantischer Einheiten von einem Kontext in den anderen bewirkt eine Dynamik, die die Objekte einerseits aus ihrem semantischen Kontext herauslöst, andererseits in neue, oftmals überraschende Kontexte einfügt. Diese Wechselwirkung von Dekontextualisierung und Rekontextualisierung liegt auch den größeren und umfangreichen historischen Vergleichspraktiken zugrunde: den Kulturkontakten zwischen fremden Völkern und den Austauschbeziehungen zwischen alter und neuer Welt, dem Vergleichen von historischen Ereignissen und Epochen, zwischen Staaten und Nationen - bis hin zu den hauptsächlich durch Vergleichen produzierten globalen und lokalen Relationen einer sich im 20. und 21. Jahrhundert herausbildenden Weltgesellschaft.

2. Dynamiken des Vergleichens im 18. Und 19. Jahrhundert - Fallstudien
Die Kontextabhängigkeit des Vergleichens historisiert nicht nur die unter-schiedlichen Vergleichsobjekte und Vergleichshinsichten, sondern auch die materiellen Grundlagen solcher Verfahren: Der Buchdruck als Kommunikationsform, die Seefahrten und vielfältigen (Mess-)Instrumente (Kompass, Sextant, Chronometer) zur geographischen Erfassung und Herstellung einer einheitlichen Welt sowie die modernen Distributionsmedien und Informationstechnologien haben das Vergleichen ebenso verändert wie die Herausbildung von Stereotypen in der (Fremd-)Wahrnehmung von Völkern und Nationen oder die im 18. und 19. Jahrhundert aufkommenden und heute ebenso bedeutsam wie alltäglich gewordenen Vergleiche von Zahlen und Statistiken. Von der Metapher bis zur Geschichte der Globalisierung, von der ethnologischen Bestimmung des Fremden bis zur Vorherrschaft der ›numerischen Differenz‹ lassen sich dabei sowohl unterschiedliche Praktiken als auch historische Konjunkturen des Vergleichens erkennen, deren Bedeutung für eine Theorie und Geschichte des historischen Wandels erst noch erforscht werden müsste.
Die Fallstudien des vorliegenden Bandes konzentrieren sich nicht von ungefähr auf das 19. Jahrhundert als das von Friedrich Nietzsche promi-nent proklamierte "Zeitalter der Vergleichung", in dem sich zugleich ein bedeutsamer historischer Wandel, die Herausbildung der europäischen Moderne, abzuzeichnen beginnt. Entgegen der in der Moderne-Forschung weit verbreiteten These, dass der Vergleich ein weitgehend neutrales, sich von selbst ergebendes und als selbstverständlich gehandhabtes Instrument in der Durchsetzung und Verbreitung dieser Moderne darstellt, verweisen die hier versammelten Detailstudien auf eine nicht selten widersprüchliche, jeweils durch vielfältige Praktiken des Vergleichens in Gang gesetzte Dynamik, die - wie in der Globalisierungsgeschichte - die Moderne sowohl vereinheitlicht als auch diversifiziert, sie anstößt und vollzieht, zugleich aber unterbricht und dadurch auch ihre Zielsetzung und Wirkung in Frage stellt.
Gerade eine Betrachtung der Vergleichspraktiken - so könnte die wei-terführende These dieser Fallstudien und eines davon inspirierten For-schungsprogramms lauten - wird deshalb einer derzeit höchst wider-sprüchlich und kontrovers diskutierten Moderne gerecht, die sich weder auf den Nenner eines zielgerichteten eurozentrischen Prozesses fortlaufender ›Modernisierungen‹ bringen noch in eine Pluralität lokaler, vermeintlich inkommensurabler Gegebenheiten und Entwicklungen auflösen lässt. Das Vergleichen selbst bringt die Moderne in Gang, verhindert freilich auch deren stromlinienförmige Bewegung. Die damit verbundenen Vergleichspraktiken kultivieren die scheinbare Ordnung, die Vereinheitlichung und auch den Anspruch dieser europäischen Moderne, das fortgesetzte Vergleichen aber arbeitet diesem Anspruch immer wieder entgegen: Die ins Spiel gebrachten comparata widersprechen der Vergleichshinsicht, die Vergleichsmaßstäbe ändern sich oder werden gegen die ursprüngliche Vergleichsabsicht ins Feld geführt.
Die hier vorgelegten Fallstudien markieren immer wieder eine solch doppelte Bewegung moderner Vergleichspraktiken. Bereits das auf den Welt- und Forschungsreisen des 18. und 19. Jahrhunderts praktizierte wis-senschaftliche Programm, die Welt unter den europäischen und wissen-schaftlichen Maßstäben gänzlich vergleichbar zu machen, konnte alsbald - so Walter Erhart in einer Betrachtung des Dichters, Naturforschers und Weltreisenden Chamisso - zu einer eigentümlichen Wendung führen, die das Unvergleichliche plötzlich in den Vordergrund stellte und die wissen-schaftlichen, durch Vergleichen gewonnenen Ergebnisse der Weltbeo-bachtung als unzureichend erkannte ("Beobachten und Erfahren, Sammeln und Vergleichen - Adelbert von Chamisso und die Poetik der Weltreise").
Statt der durch festgefügte Vergleiche etablierten Objektivität einer nun endgültig erschlossenen Welt beginnt sich das (Welt-)Wissen in ungeahntem Ausmaß zu diversifizieren. Die Welt beobachten hieß bereits im frühen 19. Jahrhundert, sie in ihrer Objektivität nicht mehr erfassen, sie kaum noch einem gemeinsamen Vergleichsmaßstab zugänglich machen zu können. Gerade deshalb konzentrierte sich die wissenschaftliche Erforschung des ›Anderen‹ im 19. Jahrhundert auf eine umso detailliertere Erfassung der zu vermessenden fremden Welt. Helmut Peitsch kommt in seiner Fallstudie zu den australischen Reisen von Ludwig Leichhardt in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu dem erstaunlichen Befund, dass Leichhardt den fremden Kontinent zumindest explizit kaum noch mit Europa vergleicht, sondern sich darauf beschränkt, lediglich die auf den Stationen der eigenen Reise beobachteten Details - Flora und Fauna, Sitten und Gebräuche - mitei-nander zu vergleichen ("Ludwig Leichhardts Vergleiche und Leichhardts Tagebuch einer Landreise in Australien 1844 und 1845"). Die Ähnlichkei-ten und Differenzen innerhalb des Landes werden wissenschaftlich be-schrieben und aufgelistet, auch hier aber erhalten die comparata ihre Ord-nung und ihre Funktion erst im Hinblick auf eine bestimmte Vergleichs-hinsicht: Dem über das Fachpublikum hinausgehenden general reader der Reiseberichte soll der allgemeine ›Charakter‹ dieses Erdteils nahegebracht werden; Leichhardts Erzählung versucht deshalb die beobachteten Ähn-lichkeiten und Differenzen zu einem stimmigen Kulturbild zu verknüpfen. Auch dieses tertium comparationis aber - das ›Australische‹ - bleibt gebunden an eine europäische Perspektive: Wie die von Leichhardt vergebenen Namen für australische Orte und Objekte deutlich zeigen, wird die so gewonnene Charakteristik des am weitesten von Europa entfernten Weltteils zu einem von Europa aus mit Bedeutung versehenen Objekt.
Die im Rahmen des vergleichenden Wissens im 19. Jahrhundert ge-sammelten Nachrichten und Zeugnisse von so genannten primitiven Kul-turen sind nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, sondern auch Objekte fortgesetzter populärer und kultureller Faszination. Kerstin Stüssel untersucht die mediale Verbreitung eines Wissens über die außereuropäische Welt, das auf dem Weg über Zeitschriften, populärwissenschaftlichen Schriften und literarischen Texten permanent in den heimischen Bilder- und Wissensvorrat einfloss ("Das ›Zeitalter der Vergleichung‹ - Philologie, Ethnologie, Literatur und Medien"). Auch hier wurden fortlaufend Möglichkeiten produziert, neue Verknüpfungen der Wissensbestände vorzunehmen, einzelne außereuropäische Elemente durch den Vergleich zu dekontextualisieren und anschließend in einen gänzlich neuen Kontext einzufügen. Indem die vermeintlich archaischen Praktiken früher Kulturen medial zirkulierten und miteinander verglichen, d.h. auf ihre weltweiten Ähnlichkeiten hin untersucht wurden, verloren sie nicht nur ihre lokale Eigentümlichkeit, sondern fanden plötzlich Eingang in die scheinbar davon unberührte europäische Welt. Gerade an einem literarischen Beispiel wie Theodor Storms Der Schimmelreiter (1888) zeigt sich, wie die zunächst in die Ur- und Frühgeschichte sowie in die Praxis ethnologisch erforschter Eingeborenenstämme verbannten ›primitiven‹ Rituale - ein Zeichen radikaler Differenz zur europäischen Zivilisation - als ›Überbleibsel‹ einer vermeintlich überwundenen Welt im aufgeklärten Europa des 19. Jahrhunderts wieder auferstehen. Kaum sind die comparata geformt und in scheinbar endgültiger und sicher gestellter Vergleichshinsicht klassifiziert, entfalten sie ein Eigenleben, markieren Ähnlichkeiten, wo vorher Differenzen waren, verschieben die Vergleichshorizonte und bilden beunruhigend neue Vergleichsmaßstäbe.
Ähnliches lässt sich in den kriegerischen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts beobachten, bei denen die Staaten und Nationen - so zeigen es einige der nachfolgenden Beiträge - ihre militärischen Konflikte stets durch medial verbreitete Kulturvergleiche absicherten und forcierten. Der Nationalismus im 19. Jahrhundert entfaltete seine Wirkung vor allem darin, dass eine Betrachtung des Eigenen ohne den Vergleich mit dem Anderen kaum mehr möglich war; das "Gespenst des Vergleichs" bestand geradezu darin, ständig im Schatten einer solchen Vergleichshinsicht zu existieren: "Here indeed is the origin of nationalism which lives by making comparisons." Nationbuilding in der Moderne bedeutete in kriegerischen wie friedlichen Zeiten nicht nur, sich der zahlreich bereit liegenden, völkerkundlich infor-mierten Vergleiche zu bedienen, sondern war selbst eine aus Bildern, Me-taphern und Erzählungen geformte Praxis: "[…] imagining the nation is essentially a comparative process."
Das Vergleichen von Ländern, Völkern und Nationen diente im 19. Jahrhundert zunächst der Herstellung von Oppositionen und Hierarchien: Die fremde exotische Völkerwelt außerhalb Europas wurde mithilfe von Vergleichen und im Zuge des Kolonialismus als rückständig klassifiziert; die europäischen Kriegsgegner propagierten ihre jeweilige Überlegenheit im permanenten Vergleichen mit anderen Nationen. Außerordentlich viel-schichtig aber wurden die Vergleichspraktiken bereits in den ersten über Europa hinausgehenden (Welt-)Kriegen des 19. Jahrhunderts. Barbara Korte und Frank Becker zeigen am Beispiel des Krimkriegs, wie sich europäische Nationen, allen voran das britische Empire, als die zivilisiertere, die überlegene und historisch fortschrittliche Kulturmacht zu inszenieren wussten; zugleich aber setzte das Vergleichen auch hier einen Prozess in Gang, der die Variabilität und Künstlichkeit der Vergleichsmaßstäbe bereits für die Zeitgenossen sichtbar machte. Die sich über Allianzen jeweils zu kooperierenden oder zu feindlichen Einheiten zusammenschließenden Nationen wurden untereinander verglichen, die Vergleichshinsichten konnten sich jedoch schnell ändern, die comparata mussten dabei nicht selten umfunktioniert werden. Im Krimkrieg - so Barbara Korte in ihrer Untersuchung britischer Unterhaltungs- und Familienzeitschriften - wurde der im Falle von Frankreich stets aufwändige und erprobte Vergleich der Briten mit den stets unterlegenen und ›schwächeren‹ Franzosen allein deshalb verändert, weil England den einstigen Gegner Frankreich nun als Bündnispartner akzeptieren und entsprechen umdefinieren musste; dagegen wurde Russland im vergleichenden Verfahren als neuer Gegner nunmehr, zumindest in den populären Darstellungen, konsequent ›orientalisiert‹ ("Krimkrieg und ›Indian Mutiny‹ als Anlass zum Kulturvergleich in viktorianischen Publikumszeitschriften"). In der Bekämpfung des indischen Aufstands hingegen musste die weit zurückgehende und sich in prächtigen Bauwerken manifestierende indische Kultur mit wiederum neu etablierten Vergleichshinsichten als ›archaisch‹ und rückständig (um-)interpretiert werden; in Bezug auf die hierfür herangezogene Religion ließ sich in dieser neuen Vergleichsordnung der europäischen und außereuropäischen Kulturen Russland wiederum plötzlich als vergleichsweise europäisch klassifizieren.


Epple, Angelika
Angelika Epple ist Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Bielefeld. 2023 wurde sie Rektorin der Universität Bielefeld.

Erhart, Walter
Walter Erhart ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld.

Angelika Epple ist Professorin für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Bielefeld. Walter Erhart ist dort Professor für Germanistische Literaturwissenschaft.


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