Feurer | Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Feurer Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-96140-091-1
Verlag: Brendow
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-96140-091-1
Verlag: Brendow
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Mitte des 22. Jahrhunderts, irgendwo in Nordeuropa. Die junge Mira lebt in einem streng autoritär geführten Staat. Als Tochter eines hohen Beamten ist sie privilegiert. Doch nachdem sie sich der verbotenen Untergrundorganisation der 'Fischerkinder' angeschlossen hat, ist ihr Leben in ständiger Gefahr. Als die Gruppe auffliegt, gelingt ihr mit dem geheimnisvollen Chas die Flucht. Ihr gemeinsamer Freund Filip jedoch wird verhaftet und verschleppt. Wider alle Vernunft entschließen sich Mira und Chas, in die Hauptstadt des Regimes zu reisen, um den verzweifelten Versuch zu wagen, Filip aus dem Gefängnis zu befreien. Doch schon bevor sie ihr Ziel überhaupt erreichen, droht ihre Reise ein jähes Ende zu nehmen ...

Melissa C. Feurer (24) lebt mit ihrem Mann in Würzburg. Sie ist angehende Grundschullehrerin und veröffentlichte bereits mit 18 Jahren ihr erstes Buch.
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Kapitel 2


In der Falle


Das Gesundheitszentrum war eine Festung. Mira hatte den gesamten Morgen und einen Großteil des Nachmittags damit zugebracht, das Gebäude und das rege Treiben außen herum zu beobachten. Da gingen wichtig aussehende Staatsgesundheitsbeamte ein und aus, wurden Kranke gebracht, Spaziergänge in Krankenhauskluft unternommen, Lebensmittel geliefert und Müllsäcke abgeholt.

Mira suchte seit Stunden fieberhaft nach einer Schwachstelle. Blieb die Tür hinter einem der Beamten länger als nötig offen, sodass sie hindurchhuschen konnte, ohne ihr Armband zu scannen? Gelangte jemand durch den Besuchereingang, ohne von der Frau hinter dem Schalter aufgehalten zu werden? Blieb der Lieferanteneingang unbeaufsichtigt offen stehen? Aber nichts davon war der Fall.

Mira überlegte, was die Helden in ihren Lieblingsromanen an ihrer Stelle getan hätten. Sich als Staatsgesundheitsbeamter ausgegeben vielleicht, eine Krankheit vorgetäuscht und sich selbst im Gesundheitszentrum aufnehmen lassen, um nachts aus dem Zimmer zu schleichen. Ein Fenster eingeschlagen, den Feueralarm ausgelöst, einen Tunnel gegraben. Aber all diese Ideen, die in Büchern so gut funktionierten, erschienen Mira für die Realität zu kurzsichtig. Zu viel konnte schiefgehen, zu viel stand auf dem Spiel. Mira konnte nicht riskieren, erwischt und eingesperrt zu werden.

Als es schließlich dämmerte, saß Mira immer noch auf einem Stein im Hinterhof und sprang jedes Mal in die Büsche hinter sich, wenn sich etwas regte. Doch auch das wurde seltener. Der geschäftige Tagesbetrieb hatte schon vor Stunden ein Ende gefunden. Die Besucher waren gegangen. Dort drinnen, hinter den hell erleuchteten Fenstern, wurden jetzt vermutlich Kranke versorgt, bekamen Brot und Suppe zum Abendessen, um wieder zu Kräften zu kommen, nahmen Medikamente ein und schliefen in weichen Betten.

An so einen Ort gehörte Chas. Nicht auf einen rostigen, schmutzigen Autofriedhof. Vielleicht war es dumm von Mira, ihn jetzt noch zu decken. Was, wenn er starb? Würde es wirklich so schlimm sein, wenn seine wahre Identität ans Licht käme? Ein Skandal wäre es natürlich - verschwundener Kronprinz wieder aufgetaucht! Aber konnten sie ihn wirklich als Verräter anklagen? Er war immerhin Nicholas Auttenbergs Sohn! Vielleicht sollte sie ihn einfach zum Gesundheitszentrum bringen. Chas hatte weder Kraft, Fragen zu stellen, noch, sich zu wehren. Und vielleicht rettete es ihm das Leben.

Je länger sie darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien ihr diese Idee. Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Kranken richtig versorgte - zumal sie nur eine vage Vermutung hatte, was Chas fehlte und dass das Fieber von einer Infektion seiner Wunde herrühren musste. Es sah auch nicht so aus, als hätte Gott vor, ihre verzweifelten Gebete zu erhören und ihr Zugang zu den Medizinvorräten des Zentrums zu verschaffen. Vielleicht weil er wusste, dass Chas dort draußen keine Chance hatte.

Mira erhob sich und streifte sich Staub und Steinchen von der Kleidung, da ließ das Knirschen von Reifen auf Asphalt sie zusammenschrecken. Abgesehen davon, bog der elektrische Lieferwagen nahezu lautlos in den Hinterhof ab. Miras angespannter Körper reagierte schneller als ihr müde gewordenes Gehirn: Sie sprang zurück in ihren Unterschlupf.

Aus dem sicheren Versteck hinter den Büschen beobachtete sie, wie ein glatzköpfiger Mann ausstieg und pfeifend den Laderaum öffnete. Er verschwand in dessen Innerem und schleppte bald darauf einen Stapel Holzkisten die Laderampe hinunter. Durch die Lücken zwischen den Latten konnte Mira silberne Dosen erkennen. Konserve an Konserve stapelten sich Lebensmittel in den Kisten.

Wenigstens das konnte sie tun. Chas würde all seine Kräfte für den Transport zum Gesundheitszentrum brauchen. Und Mira auch, denn wenn sein Zustand sich nicht auf wundersame Weise verbessert hatte, würde sie ihn wieder mehr tragen als stützen müssen. Ihnen beiden würde eine richtige Mahlzeit guttun.

Mira wartete, bis der Glatzköpfige mit den Kisten sein Armband gescannt hatte und durch den Lieferanteneingang verschwunden war. Noch während sich die Türen hinter ihm schlossen, schoss sie aus ihrem Versteck und geradewegs auf den weißen Lieferwagen zu. An den offenen Türen schlug ihr der berauschende Duft frischen Brotes entgegen. Schwindlig vom bloßen Gedanken daran, kletterte sie in den Laderaum.

Der schmale Durchgang war mit deckenhoch gestapelten Kisten und Boxen gesäumt. Und auf jeder einzelnen klebten Etiketten, deren Aufschrift Miras Magen zum Knurren brachte: „Eingelegte Pfirsiche“, „Laugengebäck“, „Essiggurken“, „Marmelade + Apfelmus“, „Fruchtsaft“, „Mehl“, „Zucker“ und „Räucherschinken“.

Mira zwängte sich zwischen die Stapel aus verpackten Lebensmitteln und riss den erstbesten Karton auf. Er war bis zum Rand mit kleinen Papiertütchen voller Milchpulver gefüllt. Mira griff mit beiden Händen hinein und stopfte sich ein gutes Dutzend davon in die Hosentaschen, ehe sie den nächsten Karton öffnete. Und dann den nächsten. Sie belud ihre Arme mit allem, dessen sie habhaft werden konnte: Konserven mit Bohnen, Pfirsiche und Brot - es war ihr egal, ob irgendetwas davon zusammenpasste.

Als sie beim besten Willen nicht mehr tragen konnte, erschrak Mira vor sich selbst. Sie hatte nicht gewusst, wie sehr Hunger einem Menschen zusetzen konnte. Aber nach Tagen mit nichts oder kaum etwas im Magen waren ihr beim Anblick des vielen Essens sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Sie hatte wie im Rausch Lebensmittel zusammengerafft und gar nicht auf die Zeit geachtet, die sie sich schon im Inneren des Lieferwagens befand.

Draußen schepperte es. Vor Schreck ließ Mira beinahe ihre Beute fallen.

„Der Rest kommt nach hinten in Lagerraum 3. Fahr rein!“, brüllte eine Männerstimme draußen, und zu Miras Entsetzen näherten sich nur einen Augenblick später knirschende Schritte. Sie wich an die Wand hinter ihrem Rücken zurück, so tief in eine der Lücken zwischen den Kistenstapeln wie nur irgendwie möglich. Aber die Tür am Ende des Lieferwagens hatte sie nach wie vor im Blick. Der Glatzköpfige erschien zwischen den offenen Türflügeln. Mira hielt den Atem an und schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel. Er durfte sie nicht sehen. Er durfte sie einfach nicht sehen. Aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, dass er es nicht tat.

Der Glatzkopf kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Dann griff er mit beiden Händen nach den Türen und zog sie mit einem heftigen Ruck zu.

Dunkelheit und Stille umhüllten Mira. Ihr eigener Herzschlag kam ihr unnatürlich laut vor, und sie wagte nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

Draußen schepperte es wieder, und mit einem sanften Vibrieren erwachte der Lieferwagen unter ihr zum Leben und setzte sich fühlbar in Bewegung.

Endlich fiel die Starre von Mira ab. Lauter, als es vermutlich klug war, ließ sie die gesammelten Lebensmittel in eine der aufgerissenen Kisten sinken. Möglicherweise konnte sie die Türen von innen öffnen und entkommen. Vielleicht …

Mira hielt in der Bewegung inne, als die Erkenntnis durch die Panik zu ihr hindurchsickerte: Sie steckte nicht in der Falle. Jedenfalls nicht ausschließlich. Sie befand sich auch auf dem Weg hinter die unüberwindbaren Mauern der Festung.

Woher wussten die Helden in Romanen immer, wann der richtige Moment für den tollkühnen Sprung ins Ungewisse da war? Mira lauerte in der Dunkelheit des Lieferwagens, während ihre Gedanken sich überschlugen. Sollte sie die Tür aufstoßen und hinausspringen? Aber was, wenn sie mitten in eine Halle voller Menschen platzte? Sollte sie warten, bis der Glatzköpfige die Türen öffnete? Aber wie sollte sie dann an ihm vorbei nach draußen gelangen? Was, wenn er den Laderaum betrat und ihr den Weg zur Tür versperrte?

Wie sollte sie das entscheiden? falscher Schritt, unüberlegter Atemzug, und alles flöge auf. Es stand zu viel auf dem Spiel, um es einfach darauf ankommen zu lassen!

„Zeig mir den richtigen Moment“, betete sie. Konnte Gott nicht eine Kiste geradewegs von ihrem Stapel fallen lassen, als Zeichen, dass die Luft jetzt rein war? Mira starrte die Kartons an, während das Klopfen ihres eigenen Herzens ihr in den Ohren dröhnte. Aber nichts geschah.

Um ganz genau zu sein, überhaupt nichts. Es blieb totenstill um den Lieferwagen. Der Motor war abgestellt worden, alle Schritte, alles Scheppern, alle Geräusche waren verstummt.

Es kostete Mira eine gefühlte Ewigkeit in der beengenden, stillen Dunkelheit, um endlich ganz sicher zu sein: Sie war alleine. Jetzt oder nie musste sie es wagen, die Türen zu öffnen, um zu entkommen.

„Bitte, bitte lass sie nicht verschlossen sein!“ Mira drückte eine schwitzige Handfläche gegen das Metall, und die Tür gab unter dem Druck nach.

Im ersten Moment brannte das helle Licht mehrer Neonröhren zu sehr in Miras Augen, als dass sie sich hätte umsehen können. Dann suchte sie die Umgebung hastig mit ihren Blicken ab. Eine Lagerhalle, klein, unordentlich und verlassen.

Auf zittrigen Knien ließ Mira sich aus dem Laderaum gleiten, verschloss die Türen hinter sich und sah sich ausgiebig um. Das metallene Tor zum Hof war wieder fest verriegelt. Zwei weitere Türen mündeten in den Lagerraum. Türen, die tiefer in das Gesundheitszentrum führen mussten. Mira befand sich hinter den feindlichen Linien. Jetzt musste sie nur noch den Ort finden, an dem die Medikamente aufbewahrt wurden.

Ihre Schritte, sich öffnende und schließende...


Melissa C. Feurer (24) lebt mit ihrem Mann in Würzburg. Sie ist angehende Grundschullehrerin und veröffentlichte bereits mit 18 Jahren ihr erstes Buch.



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