E-Book, Deutsch, 220 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 200 mm
Frisch Gott
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-290-18791-0
Verlag: Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ein wenig Theologie für das Anthropozän
E-Book, Deutsch, 220 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 200 mm
ISBN: 978-3-290-18791-0
Verlag: Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ralf Frisch, Dr. theol., Jahrgang 1968, ist Professor für Systematische Theologie und Philosophie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.
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Die Anderswelt und das Anthropozän
Das Wort Gott ist ein leichtes Wort. Vielleicht sogar das allerleichteste. Es ist ein Wort, das für Erleichterung sorgen könnte. Es zieht Menschen nicht hinunter, sondern hinauf. Es erdet sie nicht in der Welt. Es verankert sie in der Anderswelt. Wären wir wirklich Kinder Gottes, dann wären wir Kinder des Himmels, nicht nur Kinder der Erde. Wir wären nicht Biomasse, sondern Himmelskörper, Lichtgestalten gewissermassen. Man könnte auch den weisen Yoda aus «Star Wars» zitieren. Denn Mythenmund tut Wahrheit kund. Der sagt: «Luminous beings are we, not this crude matter.»
Auch das Wort Gott ist ein luminous being. Es ist ein leuchtendes Wort, das Augen zum Leuchten bringen könnte, weil in diesem Wort etwas zu sehen ist, was nirgendwo sonst auf Erden zu sehen ist. Oder besser gesagt: weil durch dieses Wort hindurch etwas zu sehen ist, was in keinem anderen Wort der Welt zur Welt und zum Vorschein kommt. Die Welt hinter der Welt. Die letzte Wirklichkeit. Die Anderswelt. Das Wort Gott ist durchsichtig für die Anderswelt, und es kann dünnhäutig für die Anderswelt machen. Wenn es diese Anderswelt gibt und wenn in ihr das Heil der Welt verborgen ist, dann ist das, was ist, nicht alles, und dann ist am Ende nicht alles nichts. Dann wird die Welt eines nahen oder fernen Tages zu einer anderen Welt werden, weil sie in einer anderen Welt aufgehoben ist. Und wenn die Welt in einer anderen Welt aufgehoben sein wird, dann wird sie gerettet sein. Und es wird auch dann, wenn alles verloren scheint, nicht alles zunichte. Mag sein, dass die Welt untergeht. Wenn es jedoch die Anderswelt gibt, dann geht die Anderswelt auf, wenn die Welt untergeht.
Das Wort, das die Kraft hat, zur Sprache zu bringen, dass am Ende kein Weltuntergang, sondern ein Weltaufgang steht, ist das mächtigste Wort der Welt. Das Machtwort schlechthin. Es hat die Macht und die Leichtigkeit, der Welt die Erdenschwere und das Gewicht zu nehmen, das sie selbst sich gibt und sich selbst aufbürdet. Das Gewicht, das zum Übergewicht zu werden und die Kraft des Menschen zu übersteigen droht. Zumal in einer Epoche, die seit einigen Jahren Anthropozän heisst, weil die Oberfläche der Erde immer sichtbarer die Züge des Menschen trägt.
Im Anthropozän macht sich der Mensch für alles verantwortlich, was das Antlitz der Erde versehrt und verstümmelt. Mitunter macht er sich sogar Vorhaltungen, wie er so unklug sein konnte, Gott zu erfinden und in dessen Namen noch mehr Gewalt auf der Erde zu säen.
Mag der Mensch im Anthropozän aber auch an allem schuld sein, so wird im Anthropozän doch allein dem Menschen auch die Heilung der Wunden der Welt zugetraut und zugemutet. Der Mensch ist die einzige Antwort, die im Anthropozän infrage kommt. Er spielt alle Rollen im Erddrama. Er spielt die Rolle des Schuldigen und des Richters, die Rolle des Verderbers und des Retters. Er spielt die Rolle des Teufels und die Rolle Gottes. Denn es ist der Mensch, der nicht nur den neuen Menschen erschaffen, sondern sich selbst zum Gott «upgraden»1, also Gott verkörpern muss. Weil sich der Mensch mit der Heilandsrolle aber heillos überfordert, ist das Anthropozän auch die Epoche des überschätzten Menschen.2 Und weil den Menschen genau dies dämmert, ist das Anthropozän auch eine Epoche der «melodramatischen […] Töne im Blick auf ein […] Ende, jenseits dessen keine Zukunft für die Menschen mehr vorstellbar ist»3.
Dass eine erdgeschichtliche Epoche den Namen Anthropozän trägt, signalisiert, dass Menschen mehr denn je glauben, der Mensch sei die Schicksalsmacht schlechthin und zu allem fähig – und zwar in jederlei Hinsicht. Schon vor zweieinhalb Jahrtausenden liess Sophokles den Chor seiner «Antigone» resümieren: «Ungeheuer ist viel und nichts / Ungeheurer als der Mensch.»4 Der bedeutendste Tragödiendichter der griechischen Antike wusste um die Grösse des Menschen und um das Grauen, das mit dem Menschen einhergeht. Er wusste, dass von allen Naturwesen allein die Menschen die Auslöschung ihrer selbst im Sinn haben und bewerkstelligen können – so sehr, dass man geradezu glauben muss, der Anfang der Kulturgeschichte sei der Anfang vom Ende aller Kultur. Angesichts der griechischen Tragödie scheint es, als stünde schon über der Wiege des Abendlands eine Sonne, deren Aufgang nicht von ihrem Untergang zu unterscheiden ist.5 Abendland, das heisst immer schon Untergang des Abendlands. Abendland, das heisst Dialektik der Aufklärung,6 des Humanismus und des technologischen Vernunftgebrauchs. Im Fortschreiten der Geschichte des Abendlands, namentlich im Anthropozän, wird offenbar, dass nichts «der absoluten weltlich-säkularen Selbsterhebung des Menschen deutlicher widersprechen [könnte] als eine Instanz, die seinen Möglichkeiten überlegen»7 ist. Doch wenn nichts und niemand den Menschen vor sich selbst und vor den Geistern, die er ruft, verschonen kann, dann stellt allein «der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt»8 dar.
Das Wort Gott könnte den Menschen seiner Letztinstanzlichkeit entkleiden und ihm die Verantwortung für das eigene Schicksal von den Schultern nehmen. Es könnte sein Leben leichter machen. Ätherischer. Luminoser. Aber auch numinoser. Erstaunlicher. Es könnte dem Dasein nicht nur Leichtigkeit, sondern auch Gewicht geben. Ein Gewicht, das ihm kein anderes Wort der Welt geben kann. Das Wort Gott könnte die mit sich selbst überforderte Welt von sich selbst entlasten. Es könnte die entzauberte Welt wiederverzaubern und als geheimnisvolles Abenteuer erscheinen lassen. Als Gottesabenteuer.9
Leider ist das unmöglich. Denn das Wort Gott ist kein Wort des Anthropozän. Das Wort Gott hat im Anthropozän nicht die Kraft, die es eigentlich hat. Wenn, dann hat es nur noch negative, abstossende Kraft. Es ist keine höhere Gewalt mehr. Allenfalls eine niedere Gewalt. Die Idee von Rettung und Erhebung, die mit dem Wort Gott einst einherging, überlebt am ehesten noch in den Fiktionen der Populärkultur. Im schon erwähnten Weltraumepos «Star Wars» zum Beispiel, wo die göttliche Macht des Guten «Force» heisst. Die Segenssprüche dieser Fiktionen kann man auch im Anthropozän zitieren. Man kann auf T-Shirts drucken lassen: «Remember, the Force will be with you, always!» Man kann sich und andere daran erinnern, dass die Macht immer mit uns sein wird. Wenn man es aber tut, dann nicht ohne Augenzwinkern und Anführungszeichen, die gleichsam Vorsichtsmassnahmen gegen allzu unverhohlene metaphysische Gewissheiten und doch ihrerseits Ausdruck einer metaphysischen Gewissheit sind. Der Gewissheit nämlich, dass es nichts ist mit der Metaphysik und nichts mit der Anderswelt. In der aufgeklärten Welt herrscht die stillschweigende Übereinkunft, dass es die Macht, die immer mit uns ist, nur in illusionären Gegenwirklichkeiten, also nur scheinbar gibt. Aus Gründen der Psychohygiene und vielleicht auch aus Gründen der Sozialhygiene ist es gestattet, aus der säkularen Gesellschaft in diese Gegenwelten zu entrinnen, ohne sich um irgendeinen sozialen und gesellschaftlichen Relevanznachweis von Religion sorgen zu müssen. «Es gehört», so der Philosoph Peter Sloterdijk, «zu den Leistungen der Modernität, der Religion und den Religionen den Auszug in die virtuelle Asozialität zu gestatten».10 Die in die soziale Nutzlosigkeit des Imaginationsraums entlassene Religion ist frei. Aber diese Freiheit hat einen Preis. Der Auszug kann nur als ästhetischer, eben virtueller Auszug, als Exodus im Modus des Als-Ob11 für glaubwürdig gehalten werden. Die Überzeugung, dass es aus dieser Welt keinen Ausgang in eine heile oder heilende andere Welt gibt, ist mit der Textur dieser Zeit so verwoben, dass nichts und niemand ihr diese Überzeugung ausreden kann. Auch nicht Gott. Wer sie zu äussern wagt, erntet gewiss auch heimliche Bewunderung, häufiger jedoch verhohlenes oder unverhohlenes Mitleid. Die Gottsagerinnen und Gottsager müssen mit der spöttisch lächelnden Toleranz derjenigen leben, die es längst besser wissen und sich denken: «Wie kann man bloss noch an Gott glauben!»12
Das Wort Gott gehört je länger, je weniger zu den Worten, denen zugetraut wird, die Welt aufzuschliessen und die Anderswelt in diese Welt hereinscheinen zu lassen. Das Wort Gott ist ein kraftloses Wort geworden. Ein Wort ohne Erkenntnisgewinn. Allenfalls signalisiert es, wenn Menschen angesichts von Katastrophen hilflos nach ihm greifen, dass ihnen die Worte fehlen.
Wo es dagegen als Machtwort in Erscheinung tritt, steht es im Verdacht, Gewalt zu legitimieren. So wird es zum Synonym für die dunkle Seite des Menschen. Und so sinkt das Wort Gott ins Dunkel unserer Zeit wie der Eine Ring in J. R. R. Tolkiens Epos in den Fluss Anduin. «And some things that should not have been forgotten were lost. History became legend, legend became myth.»13
Gott beginnt also der Vergangenheit anzugehören – insbesondere im vormals christlichen Abendland, das das Weltbild des Anthropozän zunehmend verinnerlicht. Vor allem dort fällt Gott allmählich aus der Zeit. Dass es Gott geben könnte, ist in einer säkularen Kultur eine geradezu ungeheuerliche Vorstellung. Weder der aufgeklärten Welt noch der aufgeklärten Theologie dieser Welt wäre Gottes Existenz geheuer. Weil aber vielen Bewohnern der aufgeklärten Welt diese Welt selbst nicht geheuer ist,...




