E-Book, Deutsch, 176 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 200 mm
Frisch Widerstand und Versuchung
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-290-18793-4
Verlag: Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Als Bonhoeffers Theologie die Fassung verlor
E-Book, Deutsch, 176 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 200 mm
ISBN: 978-3-290-18793-4
Verlag: Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ralf Frisch, Dr. theol., Jahrgang 1968, ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Systematische Theologie Geschichte der Theologie, Einzelne Theologen
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Christentum und Weltreligionen, Weltethos
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Christentum und Gesellschaft, Kirche und Politik
Weitere Infos & Material
1
Dunkle Stunden und ihre theologischen Folgen
Annäherung an einen Unberührbaren
Dich wundern oder vielleicht sogar Sorgen machen würden dir höchstens meine theologischen Gedanken mit ihren Konsequenzen.1
Dietrich Bonhoeffer
Dieses Buch ist in einer Art Felsenhöhle entstanden, genauer gesagt im Corona-Lockdown. Wer sich in einer solchen Höhle befindet, denkt und schreibt anders als einer, der sich frei bewegt.
Er denkt und schreibt aber nicht nur anders, sondern womöglich gar nicht, weil die vielzitierte Muse ihn nicht küsst und weil die alles bestimmende Wirklichkeit der Pandemie ihn weder zu Wort noch zu einem unbeschwerten Gedanken kommen lässt.
Mir jedenfalls ging es lange so – so lange, bis ich mich lesend einem zuwandte, der seinerseits dazu verurteilt war, eingesperrt zu sitzen, zu denken und zu schreiben.
Gewiss dürfte Dietrich Bonhoeffers Haft in Berlin ungleich fürchterlicher gewesen sein als jedes noch so nervtötende Lockdown-Szenario unserer Tage. Aber interessant ist es ja doch, zu welchen Büchern und Denkern man in ungewohnt ernster Lage greift und welche Bücher und Denker schal, oberflächlich und uninteressant bleiben. Zu Beginn der Pandemie zog es mich eigentlich nur zu Bonhoeffer. Zu dem Mann in der Zelle. Und zum Denken, Glauben, Schreiben und Dichten dieses Mannes aus dieser Zelle heraus.
Dietrich Bonhoeffer bewegt bis heute die theologische und die kirchliche Welt. Und nicht nur sie. Er bewegt auch diejenigen, die fern von Kirche und Theologie vielleicht nur einen einzigen Theologen des 20. Jahrhunderts kennen. Eben Bonhoeffer. Den Feind Adolf Hitlers, den Widerstandskämpfer, den spirituell souveränen Christen, den Märtyrer,2 den Helden, den bahnbrechenden Theologen. Womöglich ist Bonhoeffers Gefängniskorrespondenz, die sein Freund und Gesprächspartner Eberhard Bethge 1951 unter dem Titel «Widerstand und Ergebung» publizierte, das bekannteste und breitenwirksamste theologische Buch der jüngeren Zeit.
Wer sich mit Dietrich Bonhoeffer beschäftigt, muss sich darüber im Klaren sein, dass den Gefangenen von Berlin eine Aura der Unberührbarkeit und Unfehlbarkeit umgibt. Bonhoeffer ist sakrosankt. Sein Wort gilt als letztes Wort, weil Bonhoeffer als letzte Instanz gilt. Und so trägt das, was über ihn geschrieben wird, nicht selten hagiografische und verklärende Züge.3 Ausnahmen sind rar, dafür umso wohltuender. Eine dieser Ausnahmen ist – erwartungsgemäss – Karl Barth. Am 22. Dezember 1952, also ein Jahr nach der Veröffentlichung von Bonhoeffers Briefen und Aufzeichnungen aus der Haft, gab er Landessuperintendent Walter Herrenbrück aus Aurich in Ostfriesland auf dessen Bitte hin eine Einschätzung zu Dietrich Bonhoeffer. Barth schrieb:
«Was für ein offener und reicher und zugleich tiefer und erschütterter Mensch steht da vor einem – ‹irgendwie› beschämend und tröstlich zugleich. So habe ich ihn auch persönlich in Erinnerung. Ein aristokratischer Christ, möchte man sagen, der Einem in den verschiedensten Dimensionen voranzueilen schien […] Er war ein – wie soll ich sagen: impulsiver, visionärer Denker, dem plötzlich etwas aufging, dem er dann lebhafte Form gab, um nach einiger Zeit doch auch wieder, man wusste nicht: endgültig oder nur bis auf Weiteres, Halt zu machen bei irgend einer vorläufig letzten These […] Musste man ihm nicht immer vorgeben, dass er sich gewiss ein anderes Mal und in anderem Zusammenhang noch klarer und konziser äussern, eventuell sich zurücknehmen, eventuell weiter vorstossen werde? Nun hat er uns mit den änigmatischen Äusserungen seiner Briefe allein gelassen.»4
Umso grösser erscheint daher das Bedürfnis nach Enträtselung, aber auch nach Verletztgültigung des in diesen Briefen Geschrieben. Der Wunsch, es möge sich dabei um zu Ende5 oder doch zumindest in die richtige Richtung Gedachtes handeln, ist weiter verbreitet als die Bereitschaft, sich nüchtern, neugierig und kritisch mit Bonhoeffer auseinanderzusetzen, sich von ihm anregen zu lassen, ihn gegebenenfalls aber auch zu hinterfragen.
Aus dem Bedürfnis nach Verehrung und Verklärung Bonhoeffers spricht zweifellos die menschlich-allzumenschliche Sehnsucht nach einer theologischen, christlichen und menschlichen Ausnahmeerscheinung, nach dem inspirierenden, über jeden Zweifel erhabenen ganz Grossen, dem heiligen Helden, mit dem man sich im Rückblick auf Kirche, Politik und Gesellschaft im Dritten Reich trösten kann und den man in der Gegenwart vergebens sucht. Bonhoeffer ist Identifikationsfigur und Stellvertreter, Vorbild und Ikone, Ideal und Idol, Märtyrer und Heiliger,6 unfehlbar und unanfechtbar – alles also, was es im Protestantismus eigentlich nicht gibt und nicht geben darf, was aber gerade deshalb umso heftiger herbeigesehnt wird. So heftig, dass man sich fragt: «Was wären wir ohne Dietrich Bonhoeffer?»7 Und so heftig, dass man sich zugleich fragen muss: «Wem gehört Dietrich Bonhoeffer? Wer darf ihn für sich reklamieren? Und wer nicht?»8
Wer also nach wiederholter Lektüre von Bonhoeffers Briefen und Aufzeichnungen aus der Haft von Zweifeln überfallen wird, ob die theologische Entwicklung des späten Bonhoeffer wirklich eine gute Richtung genommen hat oder ob Bonhoeffer nicht vielmehr aus der Bahn geworfen, auf das falsche Gleis gesetzt oder zumindest an einen Abgrund geführt wurde, muss sich in seiner Felsenhöhle warm anziehen.
Ich vertrete in diesem Buch die These, dass Dietrich Bonhoeffers Theologie im Jahr 1944 aus der Fassung geriet und ihre Fassung verlor, aber diese Fassung am Ende womöglich doch wiederfand. Man könnte es auch anders beschreiben und Bonhoeffers theologische Entwicklung seines letzten Lebensjahres als Versuchungsgeschichte erzählen. Genau das will ich tun und dabei mit Bonhoeffer gegen Bonhoeffer über Bonhoeffer hinausdenken.
Ich mache kein Hehl daraus, dass ich Bonhoeffers Versuchung im Blick auf sein Gesamtwerk und im Blick auf die Entwicklung des sich auf ihn berufenden Protestantismus unserer Tage für fatal halte. Dass Bonhoeffers Versuchung bis heute nicht als Versuchung erkannt, sondern als grosses theologisches Verdienst, als Aufbruch zu neuen theologischen Ufern und als zukunftsweisende theologische Problemlösung verkannt wird, ist bezeichnend, macht sie aber nur noch fataler.
Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich davon überzeugt bin, dass die theologische Lösung, zu der Bonhoeffer in Zeiten der Anfechtung und der Versuchung geführt wurde, gravierende neue theologische Probleme erzeugte. Sie entliess Geister aus der Flasche, welche die evangelische Theologie und die evangelische Kirche im Anschluss an Bonhoeffer bis heute nicht losgeworden sind – eben darum, weil sie sie nicht loswerden wollen und nicht zu sehen bereit sind, dass Bonhoeffers vermeintliche Lösung das eigentliche Problem des gegenwärtigen Protestantismus darstellt.
Dietrich Bonhoeffer glaubte vom April 1944 an, die «freie Luft der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt»9 zu atmen. Doch wenn man ihm beim Denken zusieht, zeigt sich zuweilen, dass seine Spättheologie eine theologische Hyperventilation darstellt. Oder nochmals anders gesagt: was Bonhoeffer dachte, ist Explosion und Implosion zugleich. Sein Denken explodierte im eruptiven Rausch eines Gott und die Welt ganz anders verstehen wollenden Neuanfangs. Zugleich implodierte es und brach in sich zusammen – sicherlich auch unter den Eindrücken einer Situation, die selbst an einem so sicher gefügten und gefassten Menschen wie Bonhoeffer nicht spurlos vorüberging. Womöglich sind dessen Gefängnisbriefe trotz ihrer augenscheinlichen Klaglosigkeit ja doch als theologische Theodizee10 lesbar – vielleicht auch als kontrollierter Ausbruch aus dem Korsett eines allzu ungebrochenen Glaubens an den Vatergott, der im Regiment sitzt.
Was Dietrich Bonhoeffers Klaglosigkeit anbelangt, so spiegelt sich in ihr einer der ausgeprägtesten und eindrucksvollsten Charakterzüge des jungen Theologen. Bonhoeffers Zurückhaltung im Blick auf das Nach-aussen-Kehren der eigenen psychischen Innenwelt und sein «Überdruss an aller Psychologie»11 waren erheblich. Nichts und niemanden verachtete Bonhoeffer mehr als Menschen, die die Beherrschung verloren, schamlos12 wurden und in Selbstmitleid verfielen. Und genauso wenig hatte er für diejenigen übrig, die es darauf anlegten, anderen in ihr Innerstes hinein hinterher zu schnüffeln, um Fragwürdiges oder Defizitäres daraus hervorzuzerren und psychologisches oder theologisches Kapital daraus zu schlagen. Fast hat es den Anschein, als habe Bonhoeffer seine Idee einer «Arkandisziplin […], durch die die Geheimnisse des christlichen Glaubens von Profanierung behütet werden»13 sollen, auch im Blick auf das Verhältnis zu den Geheimnissen, Tiefen und Abgründen seiner eigenen Innenwelt zu verwirklichen versucht. Bonhoeffers Biograf, Briefadressat und engster Vertrauter Eberhard Bethge schreibt denn auch über seinen Freund:
«Schon seiner ganzen Persönlichkeit nach war er im Bedürfnis nach dem Abschirmen zentraler Lebensvorgänge darauf angelegt, sich für die frühchristliche Praxis zu interessieren, die noch nicht Wissenden, die noch ungetauften...




