Bauscham, Enteignung und Flächenfraß: zur Neuauflage 2020
Daniel Fuhrhop
Vor fünf Jahren erschien »Verbietet das Bauen!«, doch das Bauen boomt jetzt erst recht: 2018 wurden mit 286.000 Wohnungen fast doppelt so viele gebaut wie die 159.000 in 2009. Gleichzeitig explodierten die Mieten in vielen Großstädten, und es fehlen bezahlbare Wohnungen. Das beweist: Neubau löst nicht die Probleme des Wohnungsmarktes, es schafft Probleme. Wohnungen fehlen, gerade weil viel gebaut und investiert wird.
Investification: Wo keine Menschen wohnen, sondern das Geld
Internationale Investoren schieben in politisch wechselhaften Zeiten mehr Geld in das stabile Deutschland und angesichts niedriger Zinsen gern in Immobilien. Doch in den neu gebauten Häusern wohnt oft keiner: Anleger leisten sich Zweit- und Drittwohnungen, und teure Neubauviertel bleiben abends dunkel. An manchen Ecken entwickeln sich Berlin und München wie New York. Dort dienen um die 80.000 Wohnungen nur als Geldanlage und stehen sonst meist leer.
1 Diese Veränderung ist nicht mehr die Gentrification, bei der reiche Menschen ärmere aus ihren Wohnvierteln vertreiben. Die entfesselte Kraft des Geldes sorgt für eine »Investification« – in den teuren Häusern wohnen keine Menschen mehr, dort wohnt das Geld. Wir können Wohnraum zurückgewinnen, wenn wir die Investification stoppen. Dabei helfen einige der »
100 Werkzeuge für Wohnraum« in dieser Neuauflage.
Die Unternehmen enteignen, dem Staat aneignen?
Der Wohnungsmarkt entwickelt sich extrem, wie das neu verfasste
dritte Kapitel beschreibt. Extrem reagieren darauf auch viele Menschen. Sie protestieren gegen Spekulation und fordern in Berlin: »Große Immobilienkonzerne enteignen!« Den Protest kann man verstehen, doch drei Details der Forderungen wecken Bedenken.
Erstens könnten von den Enteignungen öffentliche Wohnungsgesellschaften profitieren, denen die enteigneten Wohnungen übertragen werden. Oft kehrten damit früher privatisierte Häuser zurück, denn in den 1990er-Jahren verkauften Landespolitiker in Berlin etwa 200.000 Wohnungen öffentlicher Gesellschaften an private Konzerne. Diesen Fehler wieder rückgängig zu machen klingt verlockend, aber wollen wir öffentliche Wohnungsunternehmen wirklich immer größer machen? Das erinnert im Westen an die gigantische »Neue Heimat« der Gewerkschaften und im Osten an die bürokratische Kommunale Wohnungsverwaltung.
Außerdem wären die Enteignungen teuer: Die Privateigentümer müssten entschädigt werden. Schon jetzt werden früher verscherbelte Wohnungen zum Vielfachen zurückgekauft. Mit diesem Geld könnte man auf andere Arten vielleicht besser für gutes Wohnen sorgen.
Drittens wenden sich die Enteignungsfreunde meist nicht gegen das Bauen, sie fordern nur ein sozialeres Bauen. Die Forderungen nach deutlich mehr sozialem Wohnungsbau ähneln fatal den Forderungen bauwütiger Politiker und Immobilienleute, um jeden Preis mehr zu bauen.
Doch wir brauchen keinen Neubau, um soziales Wohnen zu ermöglichen. Zum einen schafft es Wohnraum, den Einfluss von Immobilienspekulanten zurückzudrängen, Investification zu beenden und Geldanlagen wieder in Wohnungen zu verwandeln. Zum anderen könnten alle Wohnungsunternehmen, öffentliche genauso wie private, ihren Mieterinnen ermöglichen, zusammenzuziehen oder sich zu verkleinern. So macht eine sozialere Wohnungswirtschaft Platz im Altbau und damit Neubau überflüssig.
Wie gut wir vorhandene Mietwohnungen nutzen, entscheidet nicht allein die Diskussion um Immobilienkonzerne: Sechzig Prozent der Wohnungen in Deutschland werden von Einzeleigentümern oder Eigentümergemeinschaften vermietet.
2 Bodenspekulation und Bodensteuer
Auch einzelne private Eigentümer profitieren vom Immobilienboom, und so mancher lässt moralische Skrupel hinter sich, vergoldet sein Erbe und überlässt langjährige Mieter ihrem Schicksal bei Aufkäufern und Aufteilern. Die explodierten Bodenpreise bringen Eigentümern unverdiente Gewinne. Wir brauchen eine neue Bodenordnung, sagt darum Hans-Jochen Vogel, ehemaliger SPD-Vorsitzender und früherer Bürgermeister von Berlin und davor von München: Großstädte sollten nach und nach Grundstücke kaufen oder notfalls enteignen, um dort Wohnungen zu bauen.
3 Die steigenden Bodenpreise würden dadurch den Städten zukommen. Wo Private davon profitieren, sollte man deren Gewinne unter anderem durch eine Bodensteuer abschöpfen. Die fordert auch das Bündnis »Grundsteuer zeitgemäß« mit Naturschützern, Bürgermeistern und dem Deutschen Mieterbund. Durch die von ihnen geforderte Steuer sollen teure Grundstücke dichter bebaut werden. So sollen ländliche Gegenden vom Druck befreit werden, und vielleicht blieben manche Äcker und Wiesen dadurch unbebaut. Doch je zentraler die Lage, je teurer der Grund und je höher die Bodensteuer, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass gebaut wird, dicht gebaut wird und vielleicht sogar alte Häuser dafür abgerissen werden.
So formt sich eine merkwürdige Allianz für Neubau: Spekulanten und Spekulationsgegner wollen bauen, private Einzelinvestoren ebenso wie Bodensteuerfreunde. In der Art des Gebauten unterscheiden sich die Ziele, aber das Dogma des Bauens vereint sie alle. Das aber ist heute verhängnisvoller denn je.
Bauen bringt wenig: Bauüberfluss 2018
Könnte es sein, dass zu wenig gebaut wird und es deshalb an Wohnungen mangelt, wie der überwiegende Teil von Politikern ständig wiederholt, wiederholt, wiederholt …? Trotz der ständigen Forderung, mehr zu bauen, würde das den Wohnungsmangel nicht beheben, denn rein rechnerisch werden bereits zu viele Wohnungen gebaut. Diese Behauptung mag überraschen, doch ein einfaches Beispiel kann sie erklären: In Hamburg etwa betrug im Jahr 2018 die Zahl der neu gebauten Wohnungen mit etwa 10.000 genauso viel wie der Zuwachs der Einwohnerzahl. Weil eine Wohnung im Schnitt zwei Menschen beherbergt, wurden in Hamburg also 5.000 Wohnungen zu viel gebaut.
So ähnlich sah es in ganz Deutschland aus. Im Jahr 2018 betrug der »Bauüberfluss« in erster Näherung 172.400 zu viel gebaute Wohnungen; mindestens aber um die 100.000 Wohnungen zu viel, wenn man zu ersetzende Abrisse einrechnet (mehr dazu in
Kapitel 3). Trotz dieser Bauwut suchen offensichtlich viele Menschen in Großstädten dringend Wohnraum, und darum bedeuten die Zahlen, anders gesagt: Neubau löst nicht die Probleme des Wohnungsmangels.
Das scheint absurd, zumal Analysten behaupten, wir müssten noch mehr bauen, jährlich an die 350.000 neue Wohnungen.
4 Man versteht die Widersprüche durch einen Blick in die Analysen zum Wohnungsbedarf. Diese Vorhersagen gehen von falschen Voraussetzungen aus, denn sie schreiben Trends der letzten Jahre unbeirrt in die Zukunft fort: Demzufolge ginge die Wanderung von schrumpfenden in boomende Regionen weiter, sodass eines Tages alle in Berlin, Frankfurt und München leben, während der Rest Deutschlands sich leert.
Wie beim »Wo« des Wohnens schreiben die Analysten auch beim »Wie« Entwicklungen unbeirrt in die Zukunft weiter: Die immer kleiner werdenden Familien und Haushalte würden noch kleiner – so gesehen, wohnt angeblich irgendwann jeder allein in drei Wohnungen.
5 Man kann Wohntrends nicht einfach linear fortschreiben. Aber immerhin benennen die Studien zum Wohnungsbedarf mit dem »Wo« und »Wie« des Wohnens zwei Ursachen, die (zusammen mit der Spekulation) dafür sorgen, dass Neubau nicht den Wohnungsmangel behebt. Stattdessen sollten wir die Ursachen direkt angehen. Darum geht es in
Kapitel 10 und
11 dieses Buches. Neubau jedoch behebt den Wohnungsmangel nicht, schadet hingegen ökonomisch und ökologisch.
Bauen schadet viel
Ökonomisch schadet die Bauwut, da nicht allein private Investoren die Kosten tragen, sondern die Allgemeinheit. Das zeigen die aktuellen Pläne für gigantische Neubaugebiete, die so groß sind wie ganze Städte: Auf den Äckern und Wiesen von Hamburg-Oberbillwerder und Freiburg-Dietenbach sollen jeweils an die 15.000 Menschen wohnen. Allein dort zu planen und zu erschließen kostet wohl je über sechshundert Millionen Euro, das sind 80.000 Euro je Wohnung allein für die Vorbereitung, ohne einen Stein gebaut zu haben! Wohnraum ohne Neubau zu schaffen kostet auch Geld, aber tendenziell weniger als diese 80.000 Euro. Dazu kommen die eigentlichen Baukosten.
Neubaustadtviertel für 15.000 Menschen wecken ungute Erinnerungen an Großsiedlungen der 1960er- und 70er-Jahre. Deren Bau hatte man aus gutem Grund beendet. Heute wird man zwar die Fehler von damals nicht wiederholen, aber sicherlich neue Fehler im großen Maßstab machen.
Ökologisch schaden bereits die Baustoffe: Allein die Zementindustrie verursacht etwa acht Prozent der weltweiten Treibhausgase. Obendrein wird der Sand knapp, und für Kies werden Wälder abgeholzt (siehe
Kapitel 2). Besseres Bauen löst diese Probleme nicht: Man kann zwar ökologischere Baustoffe wie Holz verwenden, das CO2 speichert, und bereits versiegelte Flächen in den Städten weiternutzen. Aber das Bauen selbst verbraucht auf jeden Fall Energie, um Glas und Stahl herzustellen, die Baustoffe zur Baustelle zu bringen und das Haus zu bauen. Selbst vermeintliche Energiesparhäuser sparen keine Energie, sie verbrauchen nur weniger Heizenergie als andere Häuser. Im gesamten Lebenszyklus erfordert bei modernen Häusern inzwischen das Bauen selbst den größten Anteil.
6 Darum bedeutet massiver Neubau massive Klimazerstörung.
Bauscham statt Bauland
Es ist schizophren: Die Bundesregierung investiert...