Gardam Die Leute von Privilege Hill
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25900-3
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-446-25900-3
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jane Gardam, geboren 1928 in North Yorkshire, wurde für ihr viel bewundertes schriftstellerisches Werk mehrfach ausgezeichnet. Neben der BestsellerTrilogie um Old Filth erschienen zuletzt »Robinsons Tochter« (2020), »Mädchen auf den Felsen« (2022) und »Gute Ratschläge« (2024). Jane Gardam starb 2025 in Oxfordshire.
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Hetty, schlafend
Als sie den langgestreckten Rücken des großen Mannes bemerkte, schwindelte ihr kurz, und sie dachte: »Sieht aus wie Henekers Rücken.« Dann drehte er sich um, und sie stellte fest, dass es Heneker war.
Er stand auf einem blassen Sandstreifen am Meer und blickte in das kalte Wasser hinab, still wie immer, friedvoll, unverkennbar.
»Wie kann das sein?«, dachte sie. »So ein Unsinn! Er kann es ja gar nicht sein.«
Sie faltete weiter T-Shirts und Jeans, sammelte herumfliegende Sandalen ein, machte zwei ordentliche Stapel mit jeweils einem Handtuch zuoberst, für die Kinder, wenn sie aus dem Wasser kamen. Sie zog die Strickjacke aus, fuhr sich mit den Händen durchs Haar, hielt das Gesicht für einen Moment in die Sonne und sah dann noch einmal hin.
Sie sah ihre beiden Kinder mit trommelnden Füßen über den harten, weißen Sand rennen, an dem Mann vorbei ins Meer planschen und sich quiekend in die Gischt werfen. Dann betrachtete sie wieder den Mann.
Lange, braune Beine, langer, brauner Rücken. Er beobachtete die Bewegungen des Wassers und die darin spielenden Kinder mit der Konzentration eines Malers. Er war zwanzig, dreißig Meter entfernt, aber das träge Lächeln war unverkennbar, die Anerkennung der Wunder der Welt, als er die Augen verengte und Linien und Ebenen und Schatten aufnahm.
Also doch Heneker. Zehn Jahre älter, aber eindeutig niemand anderes als Heneker.
Er drehte sich um, kam den Strand hoch, ließ sich neben sie fallen und sagte: »Hallo.« Er trug eine schwarze Badehose und hatte einen Bart. »Komisch«, dachte sie. »Ich muss über Bärte im Meer immer lachen, aber er sieht ganz gut aus. Er sah immer gut aus, egal, wo er war.«
»Hallo«, sagte sie.
Er hatte sie nicht beim Namen genannt. Vielleicht hatte er ihn vergessen. Er hatte die Leute meistens nicht beim Namen genannt. Er war immer vorsichtig gewesen. Außer bei seiner Arbeit.
»Hallo, Hetty«, sagte er. »Lange her.«
»Komischer Ort«, sagte sie. Er lächelte und wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht ab. »Um sich wiederzutreffen«, sagte sie. »Ziemlich weit weg von Earl’s Court. Connemara.«
»Urlaub«, sagte er sanft und ließ Sand durch seine Finger rinnen. Wieder schlingerte ihr Herz, als sie seine Finger sah. »Ich kenne jeden Nagel«, dachte sie. »Jede Linie darin, jeden Halbmond. Oh Gott!«
Aus dem Meer ertönte Gequieke, und er sah über seine gebräunte Schulter zu den Kindern. »Deine?«, fragte er.
»Ja.« Sie plapperte drauflos. »Sie sind acht und vier. Andy und Sophie. Wir sind für vierzehn Tage hier. Wir haben ein Haus gemietet.«
»Und ihr Papa?«
»Kommt nach. Eigentlich sollte er mit uns zusammen herkommen, aber dann gab es irgendeine Krise, und wir sind schon mal vorgefahren. Wir hatten das Haus ja schon gebucht. The Pin.«
»The Pin? Das Haus von Lord Dings? Ballinhead?«
»Ja. Das ist ein Fischerhaus …«
»Ich weiß.« Er drehte sich auf den Bauch, griff nach ihren nackten Füßen und hielt sie fest. »Hetty«, sagte er und betrachtete ihre Zehen genau. »Wunderschöne Füße«, sagte er. »Schon immer. Einmal habe ich deine Füße gemalt. Dann hast du Kohle geheiratet?«
»Nein«, sagte sie. »Als wir geheiratet haben, war noch keine Kohle da. Er ist schlau. Und gut. In seinem Job. Hervorragend, wenn du es genau wissen willst.«
»Hohes Tier?«
»Nein, Quatsch. Ich war Malerin, hätte ich ein hohes Tier geheiratet?«
»Wenn du die Gelegenheit hattest, wärst du ja blöd gewesen, es nicht zu tun. Colonel und Lady Hohestier, V.C., X.Y.Z. und sonstige Orden. Bist du Lady Hohestier? Du siehst ein bisschen so aus, mit deiner weißen, weißen Haut.«
»Red nicht so einen Unsinn.«
Er hielt ihre Füße fest und legte die Stirn darauf. »Lord und Lady Hohestier und ihre kleinen Kröten.«
»Halt den Mund!« (Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wir sind gestern erst angekommen. Wir sind seit zehn Minuten hier! Heneker!) Sie versuchte, ihre Füße zu befreien, und kicherte. »Das kitzelt«, sagte sie. »Atme mich nicht so an!«
Er ließ ihre Füße los und sagte: »Was ist er denn?«
»Banker.«
»Himmel!«
»Kennst du irgendwelche Banker? Auf dem internationalen Parkett?«
»Gott sei Dank nicht. ›Internationales Parkett‹. Kennst du noch irgendwelche Maler?«
»Nein«, sagte sie.
»Malst du selbst noch?«
Nach einer langen Pause sagte sie nein.
Er lag jetzt flach auf dem Rücken im Sand, hatte die Arme weit ausgebreitet und die Augen geschlossen. Sein bärtiges, sanftes Gesicht, die schmale Nase und der friedliche Ausdruck wirkten wie gemeißelt. Sie dachte: »Er ist so schön, man müsste ihn mit Edelsteinen besetzen. Und so durchtrieben wie eh und je. Herrje, ich liebe ihn.« Sie stand auf, stopfte die beiden Kleiderstapel mit Schwung in die Strandtasche, nahm Strickjacke, Buch und Handtücher in die Hand und ging den Strand hinunter zum Wasser. »Ich gehe!«, rief sie den Kindern zu. »Ich gehe schon mal zum Auto. Macht nicht mehr so lange, ihr Süßen! Zehn Minuten.«
»Aber wir sind doch gerade erst ins Wasser gegangen! Wir wollten den ganzen Vormittag drinbleiben!«
»Es ist windig.«
»Aber es ist so schön!«
»Nein, es ist kalt. Ich gehe aus dem Wind.«
»Es bewegt sich nicht mal das kleinste Lüftchen«, rief Andy. »Kein Stück. Du spinnst. Es ist knallheiß!«
»Ich setze mich ins Auto.« Damit stapfte sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, allein den Strand hinauf und setzte sich beim Auto in das harte Gras zwischen weggeworfenen Picknickmüll, wo sie von roten Ameisen gebissen wurde und laute, wilde Hunde aus den Fischerhütten kamen und endlos bellend um Futter bettelten, während sie so tat, als würde sie lesen.
An diesem Abend in The Pin badete sie Sophie gerade in Wasser, das wie Guinness in der edlen alten Guinness-fleckigen Badewanne schäumte, als ein Geräusch wie donnernde Hufe die Badezimmerdecke erzittern ließ. Das Wasser aus dem Hahn tröpfelte nur noch, und dann kam gar nichts mehr.
»Was ist das denn?«, fragte Hetty und setzte sich auf die Fersen. »Sechzig Pfund die Woche! Sechzig Pfund die Woche! Das Telefon geht nicht, der Strom flackert, der fiese Torf … und jetzt das.«
»Was ist denn jetzt los?« Andy kam hereingestürmt.
»Keine Ahnung. Bestimmt der Boiler oder so. Er ist sicher leer.«
»Aber das Wasser ist knallheiß.«
»Ja, aber es kommt keins mehr. Wahrscheinlich ist der Tank leer. Das Wasser kommt aus dem modderigen Ding im Boden, das wir gestern gesehen haben. Kam mir schon ziemlich leer vor.«
»Vor allem ziemlich schmutzig«, sagte Andy. »Genau wie die Badewanne.«
»Nein, das ist wundervolles, braunes Wasser«, sagte sie. »Aber, oje!«
»Das explodiert gleich«, sagte Andy. »Soll ich den Hauptschalter ausmachen? Ist vielleicht sicherer.«
»Nein. Moment. Lass mich nachdenken.«
»Über der Küchentür. Dieses riesige, schwere Ding.«
»Nein. Jetzt sei doch mal still. Und lass mich nachdenken. Da ist doch eine Kneipe. Vielleicht gehen wir zur Kneipe und finden da jemanden.«
»Es ist schon jemand da.«
»In der Kneipe?«
»Nein, hier.«
»Hier?«
»Ja. In der Eingangshalle. Der Mann vom Strand. Er spielt mit unserer Knete. Ich frag ihn mal.«
Hetty hatte Sophie in ein Handtuch gewickelt, setzte sich mit ihr auf einen Rattanstuhl am Badezimmerfenster und sah Andy und Heneker nachdenklich nebeneinander herlaufen, Hand in Hand durch den verwilderten Garten zum Wassertank.
Das Bollern unter dem Dach hielt allerdings an.
Als sie mit Sophie die Treppe herunterkam, saß Heneker an dem großen Tapeziertisch in der Eingangshalle und knetete einen Dinosaurier. Ohne aufzusehen, sagte er: »Da schien alles in Ordnung zu sein. Wahrscheinlich ist ein Rohr verstopft.«
Sie setzte sich mit Sophie ans andere Ende des Tischs, und das Bollern wurde weniger, dann noch weniger und verschwand schließlich ganz. Ein herrliches Tröpfeln in den Boiler setzte ein.
Heneker sagte: »Irische Klempner.« Sophie knabberte an einem Keks, glitt dabei zu ihm und betrachtete seine Finger, und Andy, der jetzt ebenfalls gebadet hatte – sicherheitshalber einfach in Sophies Wasser –, kam wieder herunter, lehnte sich an Heneker und schaute zu, wie aus Knetgummi ein dickes Stachelschwein auf Elefantenbeinen entstand, mit einem Brustpanzer und einem Nashorn-Horn auf der Nase. Sophie trat näher heran und sah es ganz verliebt an.
»Kann ich das haben?«, fragte Andy.
»Einer kann es haben«, sagte Heneker. Er stellte es mitten auf den Tisch, die Nase in einen Topf Fuchsien gesteckt.
»Es hat Durst«, sagte Sophie. »Das arme Schwein.«
»Das ist doch kein Schwein. Das ist ein – was ist das, Heneker?«
»Ein Sumpfstreuner.«
»Was ist das?«
»Es streunt durch den Sumpf. Es patscht durch das Moor. Es bollert unterm Dach …« Die Kinder quiekten vor Vergnügen.
»Also dann«, sagte Hetty. »Ab ins Bett.«
Heneker machte ein brüllendes, donnerndes Geräusch. Sie klammerten sich an ihn. »Ab ins Bett«, sagte Hetty und bemerkte, dass sie nach Surrey klang. »Es reicht. Ihr seid...