E-Book, Deutsch, 997 Seiten
Geiger George
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-347-77020-1
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 997 Seiten
ISBN: 978-3-347-77020-1
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carl Geiger ist ein Pseudonym. Eine Vita gibt es nicht; ergänzende Informationen sind ggf. unter www.bhernandez.de zu finden. "George" ist das erste Buch, dass Carl Geiger veröffentlicht. Das Buch soll im Vordergrund stehen, nicht der Autor. Besten Dank.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Das Abendessen mit Freunden
«George!» Izzy, die sich gerade neben mich an den Tisch gesetzt hat, rammt mir halbzärtlich ihren Ellbogen seitlich in die Brust.
«Was denn?» Ich sehe sie, unschuldig mit den Schultern zuckend, an. «Wie kann denn ihr Tag ‹schlecht› gewesen sein, wenn, ihre eigenen Worte: ‹das Übliche›, schlecht waren? Entweder war ihr Tag also völlig normal oder alle ihre Tage sind ‹schlecht›.»
Ich treffe mich ein paar Mal im Jahr mit meinem engeren Freundeskreis zum Essen. Es ist nett, diese Leute hin und wieder zu sehen. Damit will ich mitnichten sagen, dass die Betonung auf «hin und wieder» liegt. Aber allzu oft müssen diese Treffen für mich nicht stattfinden. Es wäre schließlich schade, sie würden zur Routine verkommen. Ich glaube, so freut sich jede und jeder, die anderen wiederzusehen und man hat sich auch das eine und andere zu erzählen. Nichts ist schlimmer als belangloses Geschwätz. Außer vielleicht das, was manchmal später an diesen Abenden passiert, wenn wir schon ein paar Biere und Härteres intus haben, wir rührselig werden und anfangen, uns die Geschichten «von früher» zu erzählen. Wäre ich da jeweils selbst nicht ein wenig angetrunken, würde ich wahrscheinlich aufstehen und nach Hause gehen. Es sind sowieso immer die gleichen Geschichten. Zwei, drei Ereignisse unserer gemeinsamen Vergangenheit, die sich offensichtlich hartnäckig in unseren Gedächtnissen festgesetzt haben und die wir einfach nicht loslassen wollen. Ich muss aber zugeben, mit ein wenig Alkohol übergossen wirken diese Erinnerungsfetzen angenehm und ich erkenne durchaus den Zauber solcher Gepflogenheiten. Es ist dann so, als würden wir in der Zeit zurückreisen und uns wieder «wie damals» fühlen.
Aber wir müssen ehrlich sein, sich Geschichten, und dazu immer wieder die gleichen, zu erzählen, ist auch ein Zeichen dafür, dass wir schon sehr alt sind. Und, viel schlimmer, dass wir es nicht mehr schaffen, neue gemeinsame erzählenswerte Vergangenheit zu erleben. Kein Wunder, die meisten hier sind seit Jahren wenigstens in festen Beziehungen, verheiratet oder haben sogar schon eines bis mehrere Kinder. Neue gemeinsame Vergangenheit erschaffen wir uns allesamt hauptsächlich mit anderen Menschen als mit jenen, mit denen wir hier im Restaurant am Tisch sitzen.
Trotzdem, und ich glaube, ich kann für alle hier sprechen, sind wir enge Freunde. Einige davon sind sogar meine besten Freunde. Ich bin immer wieder davon fasziniert, wie der Mensch funktioniert. Oder wie ich glaube, dass er es tut. Wir hier haben im Grunde seit Jahren kaum mehr miteinander zu tun, trotzdem haben wir uns über Jahrzehnte hinweg nie ganz aus den Augen verloren und fühlen uns trotzdem noch immer irgendwie miteinander verbunden. Die Vergangenheit scheint uns sehr geprägt zu haben.
Ich sehe immer noch Izzy an, während der Kellner unsere Getränke bringt.
Sie holt tief Luft und wirbelt mit ihren Armen herum. «Das sagt man halt so. Benimm dich gefälligst und sei nett zu Lisa», seufzt sie und deutet mit ihrem Kopf zu Lisa, die gegenüber von mir sitzt.
Lisa ist neu. Sie ist das erste Mal dabei. Izzy hat sie mitgebracht.
Ich zucke wieder mit den Schultern und schaue zu Max, der neben Lisa sitzt. Er ist Izzys Mann und grinst in sein Bierglas. Ihre beiden Kinder sind groß genug, um heute allein zu Hause zu bleiben.
«Schatz», sagt er ruhig, «DU hast gesagt, dass du Lisa überredet hast, hierher mitzukommen, weil sie einen «schlechten Tag» hatte und sie sich etwas Ablenkung gönnen sollte. George hat nur nachgefragt und Lisa hat geantwortet «das Übliche». So gesehen war es demnach schon ein üblicher oder eben normaler Tag für Lisa. Ganz normal schlecht, wie George gesagt hat.»
Izzys Augen werden groß.
«Max, verflixt nochmal, du sollst ihn nicht noch ermuntern. Hilf gefälligst MIR!»
Max sieht mich an und versucht ein ernstes Gesicht zu machen.
«George. Sei nett zu Lisa. Sie hatte heute einen schlechten Tag.»
Ich muss lachen. Max auch. Ich sehe, wie Lisa hinter vorgehobener Hand grinst. Izzy schüttelt ihren Kopf, aber sie muss auch mit grinsen.
Jasmin und Alex drehen sich zu uns um. Sie sind das andere Pärchen am Tisch und sitzen geschlechtersortiert neben Izzy und Max. Ihr erstes Kind haben sie bei den Großeltern von Jasmin deponiert. Das zweite ist unterwegs, deshalb gibt es heute keinen Alkohol für Jasmin. Alex verzichtet auch auf Alkohol. Wahrscheinlich wird der Abend heute also nicht allzu lange werden. Das ist mir auch recht.
«Was gibt es denn Lustiges?», fragt Jasmin neugierig.
Izzy rollt theatralisch die Augen.
«Wir hätten Lisa nicht zu George setzen sollen.»
«Ah», stöhnt Jasmin, «was hat er gesagt?»
«Hey, hey. Was soll denn jetzt diese Verschwörung?», protestiere ich. «Ich habe nur nach ihrem Tag gefragt.»
«Und dann hat er ihr gesagt, dass alle ihre Tage schlecht seien», ergänzt Izzy ganz ungefragt.
«Lisa hat gesagt, dass ‹das Übliche› schlecht gewesen sei und deshalb …», versuche ich zu erklären, aber Jasmin unterbricht mich.
«Oh, George. Lass die arme Lisa doch erst mal hier ankommen.»
«Aber…»
«Nein, George. Kein ‹aber›», unterbricht mich Jasmin wieder.
Dann wendet sie sich an Lisa.
«Du musst entschuldigen, Lisa, unser George ist nicht so gut in Small Talk. Du wirst dich daran gewöhnen.»
«Ts. Nicht gut in Small Talk», äffe ich Jasmin nach. «Ich bin super in Small Talk. Aber ich mag Small schlicht nicht.»
«Natürlich», höhnt Izzy und streichelt mir dabei mit ihrer Hand über den Kopf.
Wir müssen alle lachen.
Simon und Robert sind gerade angekommen, haben sich neben Lisa und mich gesetzt und je ein Bier bestellt. Simon befindet sich nach eigenen Angaben in einer On-Off-Beziehung und ist deshalb allein hier. Robert ist fest vergeben, aber seine bessere Hälfte Annabelle ist geschäftlich im Ausland unterwegs. Sie leitet Yogakurse und lässt sich gerade weiterbilden. «Aber sonst ist sie perfekt», pflegt Robert zu diesem Thema jeweils zu sagen.
«Um was geht’s?», will Simon nach einer kurzen Begrüßung wissen. «Elias lässt sich übrigens entschuldigen. Er ist auf Lesereise.»
«Es geht einmal mehr darum, mich fertig zu machen», gebe ich zu Protokoll.
«Oh, eine Runde Mitleid für George», lacht Jasmin.
«George mag keinen Small Talk», konstatiert Max nüchtern.
«Wieso nicht?», fragt mich Lisa.
Ich schaue sie an.
«Magst du denn Small Talk?»
Lisa wiegt ihren Zeigfinger hin und her.
«Nein, nein. Du kannst nicht einfach eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten.»
«Natürlich kann ich», antworte ich schulterzuckend.
«Ja, ok, du KANNST», bestätigt Lisa und rollt dabei mit den Augen. «Aber du sollst nicht.»
Ich ziehe die Augenbrauen hoch und will gerade antworten, als Izzy erneut meine Brust halbzärtlich mit ihrem Ellbogen bearbeitet. Wir tauschen einen kurzen Blick aus. Ich wende mich wieder Lisa zu und betrachte sie einen Moment lang.
Sie hat schönes, gepflegtes dunkles Haar, das sie heute Abend zurückgebunden trägt. Mir gefällt ihr Gesicht. Es ist unaufdringlich regelmäßig ohne ablenkende markante Stellen. Sie ist leicht geschminkt, aber nur die Sanftheit ihres Gesichts unterstützend, nichts hervorhebend oder markierend. Entweder ist sie bescheiden oder sie versucht unauffällig zu wirken. Bei ihrer Ankunft hat Izzy Lisa als Juristin, mit der sie zusammenarbeitet, vorgestellt. Vielleicht also deswegen. Sie kommt direkt aus dem Büro. Das würde auch ihre Garderobe und die strenge Frisur erklären. Sie trägt eine kleine Halskette und passende Ohrringe. Aber keine Schmuck- oder anderen Ringe an ihren Fingern.
«Weil Small Talk völlig überschätzt wird», antworte ich Lisa schließlich.
«Wie das?», insistiert sie sofort und bestimmt.
Ich finde es schwierig zu beurteilen, ob ihre Frage ehrliche Neugier ist, ob sie mich provozieren will oder ob sie nach einem schlechten Tag Dampf ablassen muss.
Halbherzig lächelnd hält sie meinem Blick scheinbar mit Leichtigkeit stand. Ich glaube, sie weiß es selbst nicht. Aber ich mag auf jeden Fall ihre Stimme. Fest, etwas rau und angenehm in der Tonlage.
«Wäre es jetzt nicht zuerst an dir, meine Frage zu beantworten, bevor du mir eine neue stellen darfst?», frage ich freundlich.
Lisa senkt ihren Blick auf die Menü-Karte, die vor ihr auf dem Tisch liegt.
«Ja, ich mag Small Talk. Das ist eine nette Art, das...