Geiger | Irrlichterloh | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Geiger Irrlichterloh

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-26160-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

ISBN: 978-3-446-26160-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein heißer Großstadtsommer, zu heiß für lange Haare. Doch als Ann-Kathrin plötzlich mit neuer Frisur daherkommt, weiß Jonas, daß Veränderungen vor der Tür stehen. Keine guten: Ohne ein Wort ist Ann-Kathrin auf und davon, und noch dazu in Begleitung von Jonas' Chef persönlich; im Reisegepäck ein Bild, das Jonas gehört, ein Mädchenporträt von möglicherweise großem Wert. So daß fraglich ist, ob die Galeristin Ira Constantin tatsächlich hinter Jonas her ist, und nicht nur hinter dem Bild ... Arno Geiger inszeniert eine immer schnellere Jagd kreuz und quer durch die Stadt und aus ihr hinaus: Auch ein moderner Taugenichts (und heimlicher Romantiker) wie Jonas möchte doch gerne wissen, warum seine Freundin lieber mit einem anderen auf Reisen geht ... Nicht nur aus Liebe und Melancholie fragt er sich das, denn am Ende ist es doch vor allem das Bild von sich selbst, das die jungen Rad- und Autofahrer in den anderen suchen und das im Tempo des unaufhörlichen Hin und Her immer wieder zu verwischen droht.

Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt 'Alles über Sally' (Roman, 2010), 'Der alte König in seinem Exil' (2011), 'Grenzgehen' (Drei Reden, 2011), 'Selbstporträt mit Flusspferd' (Roman, 2015), 'Unter der Drachenwand' (Roman, 2018), 'Der Hahnenschrei' (Drei Reden, 2019) und 'Das glückliche Geheimnis' (2023). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Johann-Peter-Hebel-Preis (2010), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011), den Joseph-Breitbach-Preis (2018), den Bremer Literaturpreis (2019), den in den Niederlanden vergebenen Europese Literatuurprijs (2019) und den Rheingau Literatur Preis (2023).
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4


Weiße Haarflocken wirbeln über das Parkett des Oberdecks. Scherben von einer Vase haben sich neben grünen Lackschuhen ausgebreitet. Die Schuhe gehören zu einer Frau, die auf dem zerfledderten Bett unter dem Heckfenster sitzt, wo früher die letzte Bank des Busses war. Alles an der Frau ist knallfarben, alles übertrieben, alles zuviel, zu grün, zu gelb, zu rot. Ihr Haar, ihr hinter einem scharfgezogenen Mittelscheitel zu einer Pyramide hochgeknotetes Haar: Es ist rot, wie es Rosen nur sind, wenn man sie auf dem Jahrmarkt schießt, und das ist allerhand.

Franziska nimmt verlegen die Scherben auf. Ira Constantin, Jonas Kreuzer, sagt sie. Ira Constantin grüßt höflich, lächelnd. Jonas erwidert das Lächeln, aber flüchtig aus abwartender Vorsicht, aus Angst vor dieser Durchsichtigkeit im ersten Blick, der nichts und alles offenläßt. Er wendet sich zu Franziska. Er habe sich Ann-Kathrin bei ihr ausgerechnet. Es entsteht eine Pause. Franziska schaut ihn mitleidig an, vorwurfsvoll, als wolle sie sagen, daß das kommt, wenn man Nacht für Nacht auf dem Besen ist. Und laut: Sie ist mit dem Bild unterwegs.

— Mit welchem Bild? fragt Jonas.

Franziska verzieht das Gesicht. Weiß er doch selber am besten, fällt ihm genau auf den Kopf, und jetzt das Bild, wie vor drei Jahren die Kartonrolle, in der das Bild war, genau auf den Kopf: Mit welchem Bild wohl? Mit dem Bild aus der Kulisse. Etwas Besonderes soll es sein.

— Das Rauchende Mädchen, ergänzt Ira Constantin.

Jonas: Keinen Pfifferling ist es wert.

— Im Gegenteil.

Ira Constantin schürzt ihre dunklen, ebenfalls plastikblumenfarbenen Lippen, kosmetisches Impasto. Sie füllt eine Kunstpause mit einem nachsichtigen Seufzer.

— Vermutlich ein Spätwerk, sagt sie — eine Botschaft vermeintlicher Überlegenheit, aufsteigend über dem fernen, mit teurem Lippenstift gezogenen Horizont.

— Unsinn, sagt Jonas und merkt, indem er redet, daß seine Berichtigungen bloße Floskeln sind: Das Bild ist falsch. Das Herz des Mädchens ist aus Pappmaché.

— So kann man es sehen. Man kann es natürlich auch anders sehen. Wer entgeht schon dem Irrtum. Am Ende bleibt es allemal ein schönes Bild, ein schönes Mädchen, sagen Sie selbst, Herr Kreuzer, das Rauchende Mädchen, ich möchte es kaufen.

Verdutzt (gleichzeitig die Möglichkeiten erwägend, was die Frau mit dem Bild anfangen will, alleine daß sie etwas damit anfangen will, versetzt ihn in Unruhe) schaut Jonas Franziska an. Franziska stöhnt. Sie zuckt die Achseln. Es sei nicht ihre Schuld. Gestern, sie seien mit dem Abbau der Bühne fast fertig gewesen, er, Jonas, habe sie wie üblich im Stich gelassen, sei mit einmal Frau Constantin vor ihr gestanden. Sie habe ein Bündel Banknoten aufgefächert, ob das Geld für das Bild, das bei der Vorstellung in der Kulisse war, angemessen sei. Sie habe Frau Constantin die Besitzverhältnisse auseinandergesetzt, ihr seine, Jonas’, Adresse gegeben, und eine Stunde später sei Ann-Kathrin aufgekreuzt, gemeinsam mit dem Chef, Caspar. Sie habe Ann-Kathrin das Bild gegeben, sie habe gedacht …

— Logisch, fällt ihr Jonas ins Wort, Rußland ist Rußland, und Ann-Kathrin ist …

— Ist sie das wirklich? fragt Ira Constantin mit einem Fragezeichen, das sich in die Gerade streckt.

— Was geht das Sie an? erwidert Jonas. Und ehe Mißverständnisse entstehen, das Bild kann mir gestohlen bleiben. Lassen Sie mich aus dem Spiel.

— Liebend gern. Doch zuerst verraten Sie mir, wie ich das anstellen soll, denn die junge Frau, Ann-Kathrin? sagten Sie, daß sie heißt, behauptet, daß das Bild Ihnen gehört.

Die beiden, Jonas und Ira Constantin, sehen einander an. Wieder, in diesem Blickwechsel, wie schon von Anfang an, als würden statt Blicken Blüten gewechselt, fühlt sich Jonas herausgefordert, vielleicht von der mondänen Zutraulichkeit der Frau, von diesem Kopfschmerzen verursachenden Effekt ständigen Kippens, einmal alles von ihr zu wissen und im nächsten Moment wieder nichts.

— Am besten, sagt er, Sie fassen, was Ann-Kathrin sagt, als Lüge auf. Es ist einmal so, daß man gewissen Leuten gegenüber aus Reflex lügt. Sie entschuldigen. Und in dem Fall, wiederum, als einen ganzen Haufen Lügen, mit dem Sie es zu tun haben, eine Lüge in der andern, weil ich das Bild Ann-Kathrin geschenkt habe oder versprochen habe, es ihr zu schenken, ohne daß es mir gehört, was Ann weiß, was alle wissen, auch daß das Bild nicht echt ist. Also was interessiert mich das Bild. Mich interessiert, wo Ann-Kathrin geblieben ist.

Ira Constantin löst die übergeschlagenen Beine. Sie lächelt. Sie hat Freude an dem Wirrwarr. Nein, das stimmt nicht. Sie fühlt sich verletzt von der demonstrativen Verstocktheit des jungen Mannes, von seiner abweisenden, wegstoßenden Unhöflichkeit, die halb von der Straße kommt und halb aus dem Verstand.

Am liebsten würde sie ihm sagen, daß er voller Dünkel sei wegen ihres Geldes, für das sie nichts könne, und daß auch sie sich zuweilen wünsche, Hosen mit Kniebeulen zu tragen, ohne gleich ans Schneiden der Stockrosen denken zu müssen. Auch sonst allerhand, was für andere selbstverständlich ist, ließe sich wünschen und sagen. Aber woher die Kraft nehmen nach all den Mißerfolgen in ähnlichen Situationen.

— Ich weiß, sagt sie (sie redet, denkt Jonas, und wie sie redet, weder die Sängerin ist schön noch das Lied), in welchem Verhältnis Sie zu der jungen Frau stehen, in deren Besitz sich das Portrait befindet. Kurios ist übrigens, daß sich die beiden ähneln, zumal mit dem kurzen Haar, das blonde und das Rauchende Mädchen. Der liebe Herrgott hat schon einen seltsamen Zoo, Herr Kreuzer.

Jonas: Was reden Sie da? Er steckt die Hände in die Hosentaschen. Er streckt die Arme durch: Ann und kurzes Haar? Sie irren sich.

— Aber nein, ihr Haar ist dreißig Zentimeter kürzer als zuletzt.

— Unmöglich, sagt er.

— Irrtum ausgeschlossen, sagt sie. Ich versichere es Ihnen, dreißig Zentimeter.

— Dreißig Zentimeter? stößt Jonas hervor. Hat sie es sich verbrannt? Hat ihr jemand Kaugummi hineingetan?

Ira Constantin lächelt, erneut, diesmal bei dem Gedanken, dem jungen Mann den Arm um die Schulter zu legen mit der Zärtlichkeit von jemandem, dem das sehr ferne liegt oder der sich selber in einen Arm wünscht: Gestern nachmittag war sie beim Friseur, schlicht und ergreifend, schnipp-schnapp.

Eine vollendete Tatsache? Jonas hebt den Kopf und spürt, wie sich Müdigkeit und Enttäuschung auf eine Reise unter seine Haut machen. Es wird wohl stimmen, daß Liebe das Blutbild verändert, und wenn seins vor einer Stunde naiver Malerei glich, hat mittlerweile ein Fauvist die idyllische Szenerie übermalt. Ein Schock? Eine Erleichterung? Was fühlt man? Nicht mehr? Wie auch? Ist doch alles verändert. Jonas ahnt, daß die Dinge in sich verstrickt sind, bislang undurchsichtig, unabsehbar, daß das Verschwinden Anns, des Rauchenden Mädchens, die Gegenwart Ira Constantins und wahrscheinlich manches andere, von dem er nichts weiß, unauflöslich verfilzt ist, und daß er in diesem Netz zappelt, von Faktoren hineingestürzt, die er nur schwer abzuschätzen weiß.

Ihm ist unbehaglich zumute, bei jedem Wort, er wünscht sich, ein anderer zu sein als der, dem er sich verpflichtet fühlt. Trotzdem sagt er: Ich will mit dem Bild nichts mehr zu tun haben, ein für allemal, ich hoffe, Ann-Kathrin wirft es zum Altpapier.

— Nichts dergleichen wird sie tun. Dieses schöne, dieses kluge und berechnende Mädchen. Vermutlich versteht sie besser mit Lineal und Bleistift umzugehen als Sie, Herr Kreuzer. Bei Ihnen ist es schließlich nur der Beruf. Ich hoffe, Sie verzeihen die Indiskretion, die ich mir gestatte. Was ich sagen will: Sie hat die vergangene Nacht in einem hellblauen Haus an der Dombrücke verbracht. Caspar Zelzer mag Hellblau, helle Töne, nicht diese schreienden Farben. Das ist eines seiner Erfolgsrezepte. Und da Ihre Freundin weiß, daß Geld allein nicht unglücklich macht, sollten Sie das Bild in Ihre Rechnung einbeziehen, sonst sind am Ende Sie es, der im Regen steht mit nur dem Nötigsten am Leib. Abgebrannt.

Die Frau redet wie Tango, mal mit steifen Schritten, die geradeaus führen, dann mit gewitzten Figuren, plötzlich mit Brüchen und Schnitten der Taktik, der Reue, der Haltlosigkeit. Sie sagt, daß es sich andererseits nicht lohne, mit Angelegenheiten wie diesen va banque zu spielen. Liebeschancen verpasse man ausführlich. Sie spreche aus Erfahrung. Wenn er klug sei und sie zwei Minuten anhöre, komme alles ins Lot.

Jonas: Wenn Sie unter einem der Rubbelbilder ein vierblättriges Kleeblatt finden, haben...


Geiger, Arno
Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wolfurt und Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt Alles über Sally (Roman, 2010), Der alte König in seinem Exil (2011), Grenzgehen (Drei Reden, 2011), Selbstporträt mit Flusspferd (Roman, 2015) und Unter der Drachenwand (Roman, 2018). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Hebel-Preis (2008), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011), den Alemannischen Literaturpreis (2017) und den Joseph-Breitbach-Preis (2018).

Arno Geiger, 1968 in Bregenz geboren, studierte Literaturwissenschaft und lebt in Wolfurt und Wien. Er ist Schriftsteller und Videotechniker bei den Sommerfestspielen Bregenz. 1997 erschien bei Hanser sein Debütroman Kleine Schule des Karussellfahrens. 1998 wurde ihm der New Yorker Abraham Woursell Award verliehen.



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