E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Gemmel Marvin
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-646-93022-1
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Buch aus Feuer und Freundschaft
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-646-93022-1
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stefan Gemmel, geb. 1970 in Morbach, schreibt erfolgreiche Kinder- und Jugendbücher (übersetzt in 24 Sprachen) und leitet auch Literaturprojekte und Schreibwerkstätten für Kinder. Für seine ungewöhnlichen Lesungen, Lesenächte und Workshops, die er in Schulen und Büchereien durchführt, erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter »Lesekünstler des Jahres 2011«. Mit dem ersten Band der »Zauberkugel«-Reihe erzielte er einen offiziellen Weltrekord mit über 80 Lesungen in 13 Tagen.
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Kapitel 2
VERSTECKT IM VERSTECK
Das Fidelio-Mädchen zitterte am ganzen Körper.
„Ach, mein Bruder! Ich habe solche Angst!“, sagte sie, doch ihre Stimme klang, als würde sie singen. Fidelio-Stimmen klangen immer wie reiner Gesang. „Warum haben wir uns nur verlaufen …“
„Fürchte dich nicht, Schwesterherz“, gab der Fidelio-Junge singend zurück. „Jetzt, da die Nacht überstanden ist, werden wir ganz bestimmt leicht zurückfinden.“
Das Fidelio-Mädchen blickte sich um. Aus allen Richtungen klangen die Geräusche von knackenden Zweigen und raschelnden Blättern zu ihnen her.
„Dieser Wald ist verzaubert. Es wimmelt hier von magischen Tieren, bei denen man nicht weiß, was sie können oder wollen oder müssen.“
Sie hatte noch kaum zu Ende gesprochen, da war ein lautstarkes Rums aus dem Wald zu hören. Die Fidelio-Geschwister blieben erschrocken stehen.
„Da ist jemand!“, wimmerte das Mädchen melodisch. Ihr Bruder nahm sie schnell an der Hand und zog sie mit sich hinter einen Baum, um sich zu verstecken. Kurz darauf waren auch schon mächtige Schritte zu hören und ein Ohrelofant trat auf die Waldlichtung. Ein riesiges Tier, dessen Ohren genauso groß waren wie sein Rüssel lang. Weshalb der Ohrelofant auch ständig überall gegenstieß, da ihm die Ohrlappen bei jedem Schritt über die Augen fielen.
„Wir haben Glück“, flüsterte der Fidelio-Junge. „Es ist nur ein Ohrelofant. Der wird uns nichts tun, denn Ohrelofanten sind ganz friedliche Wesen.“
„Ja, solange wir hier versteckt bleiben“, gab das Mädchen zurück. „Sonst tritt er aus Versehen noch auf uns drauf, wenn ihm seine Ohren wieder einmal die Sicht verdecken.“
In diesem Moment ertönte das nächste Rums, weil der Ohrelofant erneut gegen einen der Bäume gelaufen war. Er trötete genervt und schnaufte einmal so heftig mit dem Rüssel, dass die riesigen Ohren wieder nach hinten flatterten.
Die beiden Fidelios hielten sich weiter fest an den Händen und beobachteten den Ohrelofanten, als sich plötzlich der Boden unter ihnen bewegte und etwas geschah, womit sie nicht gerechnet hätten: Die Wurzeln des Baumes zogen sich aus der Erde heraus und die Geschwister wurden auf den Rücken geworfen.
„Was … was ist denn das?“, rief der Fidelio-Junge aus. „Das finde ich nicht mehr fidelius!“
„Mir ist langweilig!“, brummte der Baum aus einem seiner Astlöcher. Er erhob sich auf seine dicksten Wurzeln und ging einige Schritte auf die Waldlichtung zu, um sich dort neben eine Tanne zu stellen. „Mach mal Platz!“
Die knarrte müde zwischen ihren Ästen hervor, doch dann zog sie die Wurzeln in die Höhe und rückte ein Stück zur Seite, gerade als der Ohrelofant an ihr vorbeitreten wollte.
„Rums-TRÖÖT-Schnauf!“, erklang es durch den Wald, als der Ohrelofant ins Straucheln geriet, hintenüberkippte und dicht neben den Fidelios auf seinen Po purzelte.
Das Fidelio-Mädchen schrie vor Angst und sprang erschrocken auf. „Es ist zu gefährlich hier. Wir müssen den Weg nach Hause finden. Schnell!“
Auch ihr Bruder sah sich immer wieder ängstlich um, während sie durch den Wald liefen. Bis er plötzlich innehielt, mit vor Erstaunen weit geöffneten Augen. „Sieh nur da! Was ist denn das?“
Über das Gesicht seiner Schwester zog sich ein freudiges Lächeln. „Was für ein fidelioses Glück – ein Einhorn! Wir sind gerettet.“
Doch ihr Bruder stutzte. „Ein Einhorn? Ich denke, es gibt keine Einhörner mehr.“
Da wurde das Fidelio-Mädchen ebenfalls nachdenklich. „Du hast recht. So hat man es uns gesagt. Dass sie alle im Streit der tausend Seelen vertrieben worden sind.“
„Und dennoch … Dort steht eines, direkt vor uns.“
„Und es wird uns helfen. Fi-Fi-Fidelio!“, sang seine Schwester überglücklich und trat mit federleichten Schritten auf das Wesen zu.
„Ganz sicher. Fi-Fi-Fidelionino“, fügte der Fidelio-Junge hinzu und folgte ihr.
„Von allen Wesen, die uns im Wald hätten begegnen können, ist ein Einhorn der größte Glücksfall für uns.“
„Das ist es! Die freundlichsten und hilfsbereitesten Tiere unserer Welt. Wir sind gerettet!“
Zusammen traten sie näher an das Einhorn heran.
Es stand auf einer Lichtung, hatte den Geschwistern den Rücken zugekehrt und bemerkte die beiden gar nicht.
„Sei gegrüßt“, versuchte der Junge es anzusprechen, aber das Einhorn reagierte nicht. Es schien mit irgendwas beschäftigt zu sein.
„Entschuldigung?“, wagte jetzt das Mädchen. Noch immer reagierte das Einhorn nicht. Es stand an einer Brombeerhecke vor einem Baum und schien dort etwas in den Stamm zu ritzen – so viel konnten die Fidelio-Geschwister mittlerweile erkennen.
Da nahm der Junge all seinen Mut zusammen und stupste das Tier mit einem Finger vorsichtig an. „Verzeihung?“
Bei der Berührung fuhr das Einhorn so heftig herum, dass selbst die Bäume aufgeregt ihre Äste schüttelten und die beiden Fidelios erschrocken aufschrien.
Denn so etwas wie dieses Einhorn war ihnen noch nie begegnet. Statt einer silbernen Mähne und einem glänzend weiß schimmernden Fell war dieses Wesen hier furchtbar struppig. Auch das Horn an seiner Stirn war nicht kerzengerade und silbrig-weiß, sondern kurz und krumm und ganz schmutzig von der Baumrinde. Und statt des gütigen Gesichtsausdrucks, den man Einhörnern nachsagte, schaute es überaus grimmig drein. Allerdings nur aus einem Auge! Das linke Auge war von einer schwarzen Klappe aus Leder bedeckt.
„Seid ihr verrückt?“, polterte das Einhorn los. „Wie könnt ihr mich so erschrecken?“
Die beiden Fidelios zitterten vor Aufregung und stotterten so um die Wette, dass sie kaum zu verstehen waren: „… aber gar nicht gewollt …“ und „… sehr leid …“ und „… uns verlaufen …“ und „… brauchen Hilfe …“ und „… bitte, bitte …“
Das Einhorn schüttelte erst den Kopf, verdrehte dann genervt die Augen und drehte ihnen schließlich wieder den Rücken zu, um mit dem weiterzumachen, wobei es gestört worden war.
Die Fidelios verstummten. Sie verstanden, dass man so nicht mit einem Einhorn sprechen konnte. Also trat das Mädchen noch einen Schritt näher heran und sagte höflich: „Verzeih, du wertvolles Geschöpf, dass wir dich in dieser Form angesprochen haben. Du verdienst natürlich Besseres und wir entschuldigen uns in aller Form dafür. Doch leih uns für einen Moment dein geduldiges Ohr, geliebtes Wesen, damit wir …“
„Was für eine Krötengrütze!“, unterbrach sie das Einhorn und schüttelte seine zottelige Mähne. „Wie kann man in so kurzer Zeit solch einen verschwurbelten Wörterbrei verzapfen?!“
Die Geschwister zuckten zusammen und verstummten wieder, als das Einhorn sie erneut ansprach: „Na los – raus mit der Sprache! Wer seid ihr und warum stört ihr mich?“
Der Junge setzte zu einer Antwort an. „So höre, hohes Wesen aus …“
Das Einhorn stampfte ungeduldig mit dem Huf auf. „Schluss mit dem Geschwurbel! Sprich doch mal so, dass man dich auch versteht.“
Da ergriff die Schwester das Wort. „Wir sind Fidelios. Wir haben uns verlaufen und möchten zurück nach Hause. Und wir hatten gehofft, dass du uns hilfst, gutmütiges We… ich meine: du eben.“
Das Einhorn schnaubte. „Na endlich! Da weiß man doch, woran man ist.“ Es blickte die zwei an. „Danke für die Auskunft! Und jetzt macht, dass ihr davonkommt.“
Die Fidelios blickten das Einhorn mit aufgerissenen Augen an. „Aber … Du wirst uns nicht helfen? Solch harte Worte von einem edlen und gutmütigen Tier wie dir …“
Das Einhorn wirkte immer genervter. „Ich bin nicht edel. Und auch nicht gutmütig. Ich bin gefährlich und … äh, furchteinflößend … und …“
Die Geschwister schauten sich erstaunt an. Sie glaubten, sich verhört zu haben. „Das kann nicht sein! Du bist schließlich ein Einhorn. Großherzig und selbstlos, freundlich und liebenswert, gütig und …“
„Ah! Aufhören!“, brüllte das Einhorn. „Ich bin ein Pirat. Seht ihr das nicht? Ein Pirat. Alle Welt zittert vor mir!“
„Alle Welt?“, staunte das Fidelio-Mädchen. „Auch deine Freunde?“
Das Einhorn warf trotzig seine Mähne zurück. „Ich habe keine Freunde. Ich brauche auch keine Freunde. Ich bin ein verdammter Einzelkämpfer, klar?“
Der Bruder schaute fragend zurück. „Was ist das für ein Wort: verdammt?“
„Das ist wie ‚fidelio‘, nur andersherum“, grummelte das Einhorn und der Fidelio-Junge runzelte die Stirn.
„Und jetzt verschwindet endlich! Ich bin nicht zum Helfen hier. Ich muss Welten erobern und Schrecken verbreiten.“
„Wie denn?“, traute sich das Mädchen nachzuhaken. „Wie verbreitest du Schrecken?“
Ein stolzes Lächeln zog sich über das Gesicht des Einhorns. Es schaute hinter sich zu dem Baumstamm, an dem es zuvor gearbeitet hatte. „Durch so was zum Beispiel“, sagte es, gab aber die Sicht nicht frei. Die Fidelio-Geschwister reckten die Hälse, um einen Blick darauf zu erhaschen. „Vorsicht, Vorsicht! Leicht zu erschreckende Wesen wie ihr sollten so etwas gar nicht sehen. Ihr würdet schreien und rennen und rennen und schreien.“
Die Fidelios legten den Kopf schief.
„Wirklich?“, fragte das Mädchen.
„Kommt auf einen Versuch an“, sagte der Junge.
„Na gut! Ihr habt es nicht anders gewollt“, erklärte das Einhorn. „Was ihr gleich...