Gläser | Wissenschaftliche Produktionsgemeinschaften | Buch | 978-3-593-38186-2 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 906, 421 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 215 mm, Gewicht: 587 g

Reihe: Campus Forschung

Gläser

Wissenschaftliche Produktionsgemeinschaften

Die soziale Ordnung der Forschung

Buch, Deutsch, Band 906, 421 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 215 mm, Gewicht: 587 g

Reihe: Campus Forschung

ISBN: 978-3-593-38186-2
Verlag: Campus Verlag GmbH


Wissenschaftliche Gemeinschaften produzieren aufeinander aufbauende Beiträge, obwohl ihre Mitglieder nur unvollkommen übereinander informiert sind. Jochen Gläser erklärt dieses Phänomen damit, dass einzelne Wissenschaftler zwar autonom forschen, sich aber in ihren Entscheidungen am gemeinsamen Arbeitsgegenstand orientieren. Er rekonstruiert die Entstehung dieses Mechanismus in der Zeit der wissenschaftlichen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts und beschreibt sein Wirken in den Produktionsgemeinschaften des 21. Jahrhunderts.
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Inhalt

Vorbemerkung.9

1 Die soziale Ordnung wissenschaftlicher Gemeinschaften als Forschungsproblem.11
1.1 Eine nur scheinbar beantwortete Frage.11
1.2 Das Scheitern der klassischen Modelle sozialer Ordnung in der Wissenschaftssoziologie.15
1.3 Ist "wissenschaftliche Gemeinschaft" ein relevantes wissenschaftssoziologisches Konzept?.30
1.4 Neuere Modelle der Wissensproduktion.37
1.5 Sind "wissenschaftliche Gemeinschaften" Gemeinschaften?.44
1.6 Der Platz wissenschaftlicher Gemeinschaften in einer Theorie sozialer Ordnung.51
1.7 Präzisierung der Frage und Planung der Antwort.60

2 Wie wird wissenschaftliches Wissen produziert?.67
2.1 Analyserahmen.67
2.2 Wie entstehen Forschungsaufgaben für individuelle Produzenten?.73
2.3 Die Abgleichung von laufenden Arbeitsprozessen.100
2.4 Integration der Beiträge - Formulieren eines lokalen Angebots.120
2.5 Integration der Beiträge - Die Verwendung von Angeboten.132
2.6 Mitgliedschaft in wissenschaftlichen Gemeinschaften und die Lösung des Motivationsproblems.152
2.7 Idealtyp und Realität kollektiver Wissensproduktion.167

3. Wie entstehen wissenschaftliche Gemeinschaften?.187
3.1 Die Entstehung wissenschaftlicher Gemeinschaften als interdisziplinäres Problem.187
3.2 Ausgangssituation.199
3.3 Die Herausbildung der notwendigen Bedingungen für die kollektive Wissensproduktion.217
3.4 Die Entstehung gemeinschaftlicher Produktion.243

4. Verallgemeinerungen.260
4.1 Produzierende Gemeinschaften.260
4.2 Kollektive Produktionssysteme.284
4.3 Gemeinschaften.304

5. Anwendungen.317
5.1 Vergemeinschaftung durch "e-science".317
5.2 Hybridisierung von Produktionsgemeinschaften und Märkten durch intellektuelle Eigentumsrechte.331
5.3 Evaluationen als neue Rückkopplungsschleifen in der Wissenschaft.345

6. Zusammenfassung der Antwort und neue Fragen.358

Literaturverzeichnis.377
Stichwortverzeichnis.414


Mit dieser Arbeit wird eine Frage aus der Mottenkiste der Wissenschaftssoziologie beantwortet: Wie entsteht soziale Ordnung in wissenschaftlichen Gemeinschaften, und wie wird sie aufrechterhalten? Welcher soziale Mechanismus lässt Wissenschaftler, die nur unvollkommen übereinander informiert sind, gemeinsam ein solch einzigartiges Produkt wie wissenschaftliches Wissen hervorbringen? Diese Frage gilt als beantwortet: Wissenschaftler produzieren gemeinsam, und das produzierte Wissen ist gemeinschaftlicher Besitz. So sieht die moderne Wissenschaft sich selbst, wie wir bereits bei ihrem ersten Sprecher Bacon im Jahre 1620 nachlesen können:

… what may be expected from […] cooperative labours and from the passage of time; especially on a road which may be travelled not only by individuals (as is the case in the way of reason), but where men's labours and efforts (particularly in the acquisition of experience) may be distributed in the most suitable way and then reunited. For men will begin to know their own strength when we no longer have countless men all doing the same thing, but each man making a different contribution. (Bacon 2000: 88).

Dieses Selbstbild hat im 20. Jahrhundert soziologische Verfeinerungen erfahren. Eine erste soziologisch ambitionierte Analyse der Produktion von wissenschaftlichem Wissen hat Fleck (1979) vorgelegt. Seine epistemologische und soziologische Analyse einer wissenschaftlichen Entdeckung illustriert die kollektive Natur der individuellen Wissensproduktion. Jede individuelle wissenschaftliche Arbeit erfolge, so Fleck, unter Anwendung eines "Denkstils", der einem "Denkkollektiv" eigen sei und die Wahrnehmungen und Herangehensweisen von dessen Mitgliedern präge (ebd.: 82-125). Ein Denkstil sei (die Bereitschaft für) gerichtete Wahrnehmung. Er beschränke das Individuum, indem er festlege, "was nicht anders gedacht werden kann" (ebd.: 99). Fleck hat als erster beobachtet, dass Wissen das Ergebnis eines kollektiven Konstruktionsprozesses ist. Eine zweite wichtige Präzisierung verdanken wir Polanyi, der die "Koordination " der kollektiven Wissensproduktion beschreibt:

Consider […] the effect which a complete isolation of scientists would have on the progress of science. Each scientist would go on for a while developing problems derived from the information initially available to all. But these problems would soon be exhausted, and in the absence of further information about the results achieved by others, new problems of any value would cease to arise and scientific progress would come to a standstill. This shows that the activities of scientists are in fact coordinated, and it also reveals the principle of their coordination. This consists in the adjustment of the efforts of each to the hitherto achieved results of the others. We may call this a coordination by mutual adjustment of independent initiatives - of initiatives which are coordinated because each takes into account all the other initiatives operating within the same system. (Polanyi 1962: 1)

Die Wissenschaftssoziologie hat zu beiden Aspekten wissenschaftlicher Produktion ähnliche Auffassungen. Ihr Begründer Merton hat die kollektive Natur wissenschaftlicher Arbeit mit der Norm des "Kommunismus" erfasst:

The substantive findings of science are a product of social collaboration and are assigned to the community. They constitute a common heritage in which the equity of the individual producer is severely limited. An eponymous law or theory does not enter into the exclusive possession of the discoverer and his heirs, nor do the mores bestow upon them special rights of use and disposition. (Merton 1973a: 273)

Auch die Soziologie wissenschaftlichen Wissens, die zu Beginn der achtziger Jahre das strukturfunktionalistische Paradigma ablöste und seitdem den mainstream der Wissenschaftssoziologie bildet, betont den kollektiven Charakter des Wissens. Für sie entsteht Wissen nicht nur in individuellen, sondern zugleich auch in kollektiven Konstruktionsprozessen, wie Latours Analysen der Entstehung wissenschaftlicher Fakten exemplifizieren:

To sum up, the construction of facts and machines is a collective process. (This is the statement I expect you to believe; its fate is in your hands like that of any other statements.) This is so essential for the continuation of our travel through technoscience that I will call it our first principle: the remainder of this book will more than justify this rather portentous name. (Latour 1987: 29)

Es gibt also eindeutige Aussagen zum kollektiven Charakter der wissenschaftlichen Produktion, die jede weitere Antwort auf unsere Frage redundant erscheinen lassen. Dieser Eindruck ist aber nur so lange richtig, wie man sich mit allgemeinen Aussagen wie "kollektive Produktion/Konstruktion", "wechselseitige Abstimmung" und "gemeinsamer Besitz" zufrieden gibt. Versucht man dagegen herauszufinden, wie die kollektive Produktion von Wissen funktioniert, findet man keine befriedigenden Antworten. Es gibt bis heute keine theoretische Beschreibung eines Produktionsmechanismus, die das Zustande- kommen des besonderen Produkts "wissenschaftliches Wissen" zu erklären vermag. Polanyis Darstellung kommt der Beschreibung eines Mechanismus noch am nächsten. Sie ist aber durch die Wissenschaftssoziologie weder empirisch geprüft noch theoretisch eingeordnet worden. Deshalb bleiben wichtige Aspekte des Produktionsmechanismus unverstanden. Insbesondere ist nicht klar geworden, wie die Kollektive aussehen, in denen der Mechanismus wirkt (offensichtlich stimmen sich nicht alle Wissenschaftler mit allen ab), und wie die Abstimmung im Alltag der Wissensproduktion funktioniert. Die beiden großen wissenschaftssoziologischen Strömungen zeigen bei der Behandlung der sozialen Ordnung kollektiver Wissensproduktion ihre charakteristischen Schwächen, die sich bereits in den oben stehenden Zitaten andeuten. Die strukturfunktionalistische Wissenschaftssoziologie hat nur die Makroebene wissenschaftlicher Gemeinschaften analysiert und auf dieser Ebene keine besonderen Mechanismen der Wissensproduktion identifiziert. Sie erklärt die Wissensproduktion aus Normen und Belohnungssystemen, die zwar einen wissenschaftsspezifischen Inhalt hätten, sich aber in ihrer Wirkungsweise nicht von analogen Mechanismen in anderen Bereichen unterschieden. Die Besonderheit wissenschaftlichen Wissens wurde auf ein Mikrophänomen zurückgeführt, das nicht weiter empirisch untersucht wurde. Die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse im Labor und in wissenschaftlichen Diskursen, so lautete die Annahme, sei von einer besonderen wissenschaftlichen Rationalität getragen. In den siebziger Jahren setzte sich in der Wissenschaftssoziologie die Auffassung durch, dass die Produktion wissenschaftlichen Wissens selbst zum Gegenstand soziologischer Analysen gemacht werden müsse. Die neuen mikrosoziologischen Analysen vermochten bald zu zeigen, dass die alltäglichen Praktiken der Wissenschaftler genau das sind - alltäglich eben und nichts epistemologisch Besonderes. Woolgar hat diese Position folgendermaßen charakterisiert:

The instrumental ethnographer tends to be on the look out for news. This ethnographer is concerned with finding things to be other than you supposed they were. In the case of science, this translates into a concern to demystify, to argue that science is "in fact" quite an ordinary enterprise, not to be feared, and essentially similar to the work of non-science in most of its particulars - in the ways in which scientists argue with each other, in the kinds of petty disputes and other unsavoury activities which sometimes characterize laboratory work, and so on. The conclusion, which is surely by now unremarkable, is that scientific work can be shown to be similar to non-science. (Woolgar 1982: 485)

Damit wird aber das eingangs genannte Erklärungsproblem der Wissenschaftssoziologie nur umso drückender: Wie entsteht aus alltäglichen menschlichen Praktiken ein so wenig alltägliches Produkt wie wissenschaftliches Wissen? Whitley hat diese Schwachstelle der Soziologie wissenschaftlichen Wissens frühzeitig identifiziert, als er schrieb:

The many case studies which litter the literature seem satisfied with demonstrating that scientists are human and social creatures who are subject to similar explanatory structures as any other occupation. What they don't do is to suggest how such people manage to produce and change some thing called scientific knowledge, largely because they are so concerned to deny any special status to it. (Whitley 1983: 681)

Den Befunden der vorkonstruktivistischen und der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie zufolge vollziehen sich weder auf der Makroebene noch auf der Mikroebene der Produktion wissenschaftlichen Wissens Prozesse, die die besondere Natur des Produkts erklären. Keine dieser beiden Perspektiven ist weit genug, um den kollektiven Prozess der Erzeugung von Wissen zu erfassen, weil jede von ihnen nur einen Teil des Problems zum Gegenstand hat: "The relativist school is primarily concerned with the nature of human knowledge, whereas the Mertonian researchers, as I see it, are primarily concerned with the nature of the scientific communities." (Collins 1982b: 300) Nunmehr wird auch Kuhns Klage verständlich: "We simply no longer have any useful notions of how science works or of what scientific progress is." (Kuhn 1986: 33). Ein solches Konzept müsste den sozialen Prozess der Erzeugung von Wissen in der Wechselwirkung von Mikro- und Makroprozessen erklären, was den Rahmen beider Ansätze überschreitet. Es scheint eine Theorie "mittlerer Reichweite" (Merton 1968) zu fehlen, die die Produktion wissenschaftlichen Wissens zu erklären vermag. Eine solche Theorie muss unter anderem den Mechanismus spezifizieren, der die Bedingungen wissenschaftlicher Produktion kausal mit dem spezifischen Produkt verknüpft. Letztlich kann nur die Angabe eines Kausalmechanismus als befriedigende Erklärung gelten, da Kausalbeziehungen zwar verursachende Faktoren und Wirkungen miteinander verknüpfen, aber keine Informationen darüber liefern, auf welche Weise die interessierenden Phänomene zustande kommen (Mayntz 2004; Hedström 2005: 11-33). Eine solche Theorie wäre zugleich eine Theorie der sozialen Ordnung wissenschaftlicher Gemeinschaften. Die Annahme, wissenschaftliche Gemeinschaften würden kollektiv produzieren, impliziert einen geordneten Produktionsprozess, der im Rahmen einer Theorie kollektiver Produktionssysteme anderen kollektiven Produktionsprozessen vergleichend gegenüber gestellt werden kann. Wenn sich wissenschaftliche Gemeinschaften durch eine spezifische soziale Ordnung auszeichnen, dann müssen sie sich überdies in einer Theorie sozialer Ordnung positionieren lassen. Es scheint also mehr zu fehlen als nur eine Erklärung, wie wissenschaftliche Gemeinschaften ihr besonderes Produkt hervorbringen. Ich werde in den folgenden Abschnitten zunächst im Einzelnen zeigen, woran die Versuche der Wissenschaftssoziologie, die soziale Ordnung wissenschaftlicher Gemeinschaften zu identifizieren, gescheitert sind (1.2 bis 1.4). Danach werde ich mich den beiden theoretischen Kontexten zuwenden, die für eine Einordnung wissenschaftlicher Gemeinschaften in die allgemeine Soziologie relevant sind. Eine erste Frage lautet, ob die Anwendung des Gemeinschaftsbegriffes auf Kollektive von Wissenschaftlern theoretisch berechtigt ist, oder ob wir es mit einer in die Irre führenden Übernahme des Wortes "Gemeinschaft" aus der Alltagssprache zu tun haben und nach ganz anderen Begriffen suchen müssen (1.5). Die zweite notwendige Einordnung betrifft die soziale Ordnung kollektiver Produktion (1.6). Welche konzeptionelle Unterstützung bietet die vergleichende Behandlung von Typen sozialer Ordnung und hier speziell kollektiver Produktionssysteme? Die Analyse dieser Perspektiven ermöglicht es, die Frage nach der sozialen Ordnung wissenschaftlicher Gemeinschaften zu präzisieren und einen Plan für ihre Beantwortung zu entwickeln (1.7).


Jochen Gläser, Dr. habil, forscht als Soziologe an der Australian National University.


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