E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Greer Ein unmögliches Leben
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-402954-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-10-402954-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andrew Sean Greer hat einen eineiigen Zwillingsbruder, wuchs in einem Vorort von Washington D.C. auf und lebt mittlerweile in San Francisco. Schon mit seinem zweiten Roman »Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli« gelang ihm der internationale Durchbruch. Für »Mister Weniger« wurde Andrew Sean Greer 2018 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Auf Deutsch liegen außerdem die Romane »Geschichte einer Ehe«, »Die Nacht des Lichts« und »Ein unmögliches Leben« vor.
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Teil eins Oktober bis November
30. Oktober 1985
Das Unmögliche passiert uns allen ein Mal.
Bei mir war es 1985 kurz vor Halloween zu Hause am Patchin Place. Selbst für New Yorker ist die Häuserzeile schwer zu finden: eine schmale Gasse westlich der Sixth Avenue, wo die Stadt trunken ins Gefüge des achtzehnten Jahrhunderts kippt und Kuriosa hervorbringt, wie dass die West Fourth die West Eighth kreuzt und Waverly Place sich selbst. Es gibt die West Twelfth und die Little West Twelfth. Es gibt die Greenwich Street und die Greenwich Avenue; Letztere folgt als Diagonale dem einstigen alten Indianerpfad. Sollten dort noch Gespenster mit Maisbündeln umgehen, dann sieht sie keiner – oder sie bleiben einfach unter den vielen Spinnern und Touristen unerkannt, die zu jeder Tages- und Nachtzeit lachend an meiner Haustür vorüberziehen. Man sagt, die Touristen verderben alles. Man sagt, das sage man immer schon.
Aber ich verrate es euch: Stellt euch an die Ecke West Tenth und Sixth Avenue in den pagodengezackten Schatten des alten Jefferson Market Courthouse mit seinem hohen Turm. Dreht euch herum, bis ihr das schmiedeeiserne Tor im Blick habt, das man so leicht übersieht, späht durch die Stäbe: Das ist sie, kaum mehr als ein halber Block, von spindligen Ahornbäumen gesäumt, ein Halbdutzend Haustüren später einfach endend, nichts Besonderes, eine kleine, holprige Sackgasse mit dreigeschossigen, einst als Unterkünfte für die baskischen Kellner des Breevort errichteten Wohnhäusern aus Backstein, und dort, ganz am Ende, rechts, gleich hinter dem letzten Baum: unsere Haustür. Putzt euch die Schuhe an der alten Borstenmatte im Gehweg ab. Tretet durch die grüne Haustür und klopft links an der Wohnungstür meiner Tante Ruth oder steigt die Treppe hinauf und klopft bei mir. Am Treppenabsatz könnt ihr, wenn ihr wollt, stehen bleiben und die Größe zweier Kinder ablesen, meine in rotem Wachsstift und weit darüber in Blau die meines Zwillingsbruders Felix.
Patchin Place. Das Eisentor abgesperrt und schwarz gestrichen. Die Häuser geduckt und für sich. Der wuchernde Efeu nach jedem Schnitt wieder wuchernd, das Pflaster bucklig und voll Unkraut; nicht mal ein Bezirksbürgermeister würde auf dem hastigen Heimweg zum Essen den Kopf wenden. Wer käme auch drauf? Hinter dem Tor, den Haustüren, dem Efeu. Wo höchstens ein Kind nachsehen würde. Denn ihr wisst, so wirkt eben Zauber. Ohne Vorwarnung trifft er von uns allen die, bei denen man es am wenigsten erwartet, und das, wie und wann er will. Er macht ein Nussschalenspiel aus der Zeit. Und eben so kam es, dass ich an einem Donnerstagmorgen in einer anderen Welt aufwachte.
Doch lasst mich neun Monate früher beginnen, im Januar, als ich mit Felix zusammen Alans Hund ausführte. Wir hatten die grüne Haustür hinter uns verschlossen und zogen durch das eisstarrende Tor am Eingang zum Patchin Place; die Hündin, Lady, beschnüffelte jeden freien Fleck. Kalt, kalt, kalt. Wir hatten die Krägen unserer Wollmäntel hochgeschlagen und teilten uns Felix’ Schal, der unsere Hälse je einmal umschlang und verband, meine Hand in seiner Manteltasche und seine in meiner. Er war mein Zwilling, aber kein Double, denn er besaß zwar die gleichen roten Backen und gebogene Nase, mein rotes Haar und den blassen Teint, meinen blauen Silberblick – »fuchsgesichtig« nannte uns unsere Tante Ruth –, aber er überragte mich und war auch sonst größer, irgendwie. Ich musste Felix auf dem Eis stützen, und doch hatte er darauf bestanden, an diesem Abend ohne Stock auszugehen; es war einer seiner guten Abende. Ich fand ihn mit seinem neuen Schnurrbart immer noch albern. In seinem neuen Mantel so dünn. Es war unser einunddreißigster Geburtstag.
Ich sagte: »Es war eine schöne Party.«
Rings umher die fröstelnde Stille eines New Yorker Winters: über uns erleuchtete Apartments, auf den eisigen Straßen ein Glanz, in den Restaurants zu dieser späten Stunde gedämpftes Licht, an den Straßenecken Schneepyramiden, die Müll und Münzen und Schlüssel bargen. Der Hall unserer Schritte auf dem Bürgersteig.
»Weißt du was?«, sagte er. »Wenn ich tot bin, musst du allen sagen, sie sollen sich an unserem nächsten Geburtstag zur Party als ich verkleiden.« Immer die nächste Party im Sinn. Als Kind war er, meiner Erinnerung nach, herrschsüchtig und selbstgerecht tugendhaft gewesen, einer, der sich zum »Feuerwehrhauptmann« ernannte und die Familie zu lächerlichen Übungen zwang. Nach dem Tod unserer Eltern allerdings, und besonders nachdem er unserer armseligen Pubertät entschlüpft war, schmolz das ganze Eis auf einmal – er lief sozusagen zur anderen Seite, der Seite des Feuers, über. Er wurde unruhig; wenn der Tag kein besonderes Ereignis parat hielt, dann plante er es oft selbst und schmiss für alle und jeden eine Party, solange damit Drinks und Kostüme einhergingen. Unsere Tante Ruth hieß das gut.
»Ach, hör doch auf«, sagte ich. »Es tut mir leid, dass Nathan früher wegmusste. Aber er hat in der letzten Zeit viel gearbeitet, weißt du.«
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Ich sah ihn an, das sommersprossige Gesicht, den roten Schnurrbart. Die dunklen Kommas unter den Augen. Mager und bange und still, das ganze innere Feuer erloschen. Statt zu antworten, sagte ich: »Sieh mal das viele Eis an den Bäumen!«
Er ließ Lady an einem Zaun schnüffeln. »Du wirst dafür sorgen, dass Nathan mein altes Halloweenkostüm trägt.«
»Das Cowgirl.«
Er lachte. »Nein, Ethel Mermaid. Du setzt ihn in einen Sessel und versorgst ihn mit Drinks. Das wird ihm gefallen.«
»Hat dir unser Geburtstag denn nicht gefallen?«, fragte ich ihn. »Ich weiß, dass es nicht gerade berauschend war. Kannst du Alan nicht endlich mal beibringen, Kuchen zu backen?«
»Unser Geburtstag muntert mich auf.« Wir gingen die Straße entlang und schielten nach Silhouetten oben in den Fenstern. »Du darfst Nathan nicht vernachlässigen.«
Das Licht erfasste die vereisten Bäume und elektrifizierte sie.
»Es sind jetzt zehn Jahre. Vielleicht tut ihm ein bisschen Vernachlässigung ganz gut«, sagte ich und packte seinen Arm fester, um ihn zu stützen.
Auf der kalten Winterstraße hörte ich Felix flüstern: »Schau, wieder einer.«
Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Frisiersalon, der stets die Ecke markiert hatte. Im Fenster ein Schild: FÜR GESCHÄFTSVERKEHR GESCHLOSSEN. Mein Bruder blieb einen Augenblick stehen, Lady erwog den Baumstamm. »Gegangen«, sagte Felix schlicht.
Das war die gängige Wendung: Chronik eines Seuchenjahres. Der Hundesalon. Die Bäckerei. Der Barkeeper, der Schneider und der Kellner vom Village Gate. Die vielen Schilder: FÜR GESCHÄFTSVERKEHR GESCHLOSSEN. Wenn man nach dem Kellner fragte, hieß es »gegangen«. Der Barkeeper mit dem Vogel-Tatoo: »gegangen«. Der Junge von oben, der den Feueralarm ausgelöst hatte: »gegangen«. Danny. Samuel. Patrick. So viele Gespenster, dass die Indianer dazwischen nicht auszumachen wären, selbst wenn sie lauthals nach ihrem verlorenen Manahatta heulten.
Ein Türenknallen; eine Frau kam aus dem Gebäude geschossen – schwarzgefärbte Pudelkrause, Trench. »Ihr Arschlöcher macht die Bäume kaputt!«
»Tag auch«, sagte Felix freundlich. »Wir sind Nachbarn, schön, Sie kennenzulernen.«
Sie schüttelte den Kopf und fixierte Lady, die im Begriff war, sich ins gefrorene Gras zu hocken. »Ihr macht meine Stadt kaputt«, sagte sie. »Schafft den Hund da weg.«
Ihr barscher Ton verstörte uns beide; die Hand meines Bruders ballte sich in meiner Tasche zur Faust. Ich überlegte, was ich noch sagen oder tun könnte, ehe wir einfach kehrtmachten. Die Frau verschränkte feindselig die Arme.
Felix sagte: »Verzeihen Sie, aber … ich glaube, Hündinnen schaden den Bäumen nicht.«
»Schaffen Sie sie weg.«
Ich studierte das Gesicht meines Bruders. So ausgemergelt, ein Schatten nur des starken, grinsenden Zwillings, den ich mein Leben lang gekannt hatte, sein erhitztes Gesicht schrecklich verhärmt. Ich packte seinen Arm und wollte ihn weiterziehen, das brauchte er sich wirklich nicht anzuhören, nicht an unserem Geburtstag. Aber er war nicht zu bewegen. Ich sah förmlich, wie er den Mut zu einer Replik zu finden versuchte. Wo ich doch glaubte, er habe seine ganzen Reserven an Courage im Laufe des letzten Jahrs aufgebraucht.
»Na gut«, sagte er schließlich und riss Lady so heftig zurück, dass sie stolperte. »Eine Frage nur.«
Die selbstzufrieden feixende Frau hob die Brauen.
Felix rang sich ein Lächeln ab. Und dann sagte er etwas, was sie einen einzigen Schritt zurückweichen ließ, während wir schon um die Ecke verschwanden und an diesem kalten Abend unseres letzten Geburtstags losprusteten. Seine Worte trug ich während der folgenden schweren Wochen im Herzen, der Schreckensmonate, des halben Jahrs Hölle, das mich in tiefere Trauer stürzte, als ich sie je gekannt hatte. Stand da, ohne zu wanken, und stellte der Frau seelenruhig diese Frage:
»Als sie noch ein kleines Mädchen waren, Madam«, sprach er und zeigte auf sie, »war die Frau, die zu werden Sie sich immer erträumt haben?«
Es kam schneller, als wir Vorkehrungen treffen konnten. Am Vorabend hatte Felix noch munter über die Bücher geredet, die ich ihm gebracht hatte. Am Morgen erhielt ich einen Anruf von Alan, der sagte: »Wir verlieren ihn, es geht zu schnell, ich glaube, wir müssen –«, so dass ich hinstürzte in ihr Apartment, wo Felix zwischen Wach- und Dämmerzustand lag. Seine Gelenke waren so geschwollen, dass...