E-Book, Deutsch, 312 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Große Ein pensionierter Zerstörer
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2025
ISBN: 978-3-7873-4611-0
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Postscriptum zu Cioran
E-Book, Deutsch, 312 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-4611-0
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der rumänisch-französische Dichterphilosoph E. M. Cioran (1911–1995) ist bislang einerseits als Schriftsteller, andererseits als Denker wahrgenommen worden. Jürgen Große zeigt in seiner Studie hingegen, dass diese Trennung inadäquat ist und dass Ciorans Werk aus einer tiefen Vertrautheit mit der europäischen wie außereuropäischen philosophischen Überlieferung erwachsen ist.
Ziel des Buches ist es, Ciorans Denken vom Ruf des Exzentrischen, ja Launenhaften zu befreien. Cioran war einer der großen Leser des 20. Jahrhunderts. Noch dem kleinsten Essay gingen monate-, mitunter jahrelange Quellenstudien voraus. Ciorans Schreiben und Denken ist somit alles andere als spontan oder stimmungshaft, auch wenn es sich oftmals so gibt. Es ist dem akademischen Denk- und Darstellungsstil allerdings entgegengesetzt: Der affektive Gehalt von Metaphysiken und Moralsystemen wird nicht unterdrückt, um vermeintlich affektbefreite, objektive Erkenntnis zu gewinnen, sondern vielmehr explizit gemacht.
Cioran war, abweichend von dogmatisch-religiösen wie liberal-säkularen Geistestraditionen des Okzidents, kein Denker, der für richtig erkannte Ideen mit der Rhetorik des besseren Arguments lediglich illustrierte. Vielmehr wollte er 'Ideen in Manien verwandeln', sich 'der Mythologien und der Theologien für indirekte Vertraulichkeiten' bedienen. Der philosophische Schriftsteller im Sinne Ciorans macht sich selbst zum Austragungsort versteckter oder unentfalteter Ambivalenzen. Er nutzt seine Affekte, um den affektiven Gehalt philosophischer und weltanschaulicher Werte bloßzulegen.
Die Studie zeichnet Ciorans Denken und Schreiben anhand von 12 thematischen Brennpunkten nach.
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Prolog: „Das normalste Wesen aller Zeiten“
Von welcher Seite man sich Emil Cioran (1911–1995) auch nähert, stets findet man sich direkt ins Zentrum seines Denkens und Schreibens versetzt. Ein Schlüsselzitat kann es kaum geben, wo jemand in allen seinen Texten mit gleicher Intensität anwesend scheint. De l'inconvénient d'être né (1973) hat Cioran jedoch als das Buch bezeichnet, das ihn am meisten preisgebe. Dort heißt es: „Recht lange habe ich mit dem Gedanken gelebt, ich sei das normalste Wesen aller Zeiten. Dieser Gedanke gab mir den Geschmack, ja die Leidenschaft der Unproduktivität: Wozu sich in einer Welt voll von Irren, die in Banalität oder Fieberwahn versunken ist, zur Geltung bringen? Bleibt zu ergründen, ob ich mich von dieser Gewißheit völlig freigemacht habe, die im Absoluten das Heil bringt und im Unmittelbaren ruiniert.“ (N 24)
„Das normalste Wesen aller Zeiten“ – ist das mehr als eine Pointe, findet sich in Ciorans geistiger Biographie trotz allem eine Normalität? Ob eine Normalität im Sinne von Verallgemeinerbarkeit oder im Sinne von Vorbildlichkeit, müßte wohl sogleich die Frage lauten. Vielleicht im Sinne von beidem. Cioran hat die Norm eines intellektuellen Lebens auch darin übererfüllt, daß er es nicht als bürgerliche Normalität akzeptieren konnte oder wollte, ja, daß er nicht einmal eine Norm des Gelingens dafür benennen konnte. Zu einer normalen Intellektuellenexistenz – „normal“ gemäß der Alternative von bürgerlicher Berufsgeistigkeit und romantischem Geisteskünstlertum – gehört das Scheitern. Ein Scheitern im politischen, sozialen oder ökonomischen Sinne, eine notorische Unmöglichkeit, sich vollständig in der Welt zur Geltung zu bringen, sich dort „zu verwirklichen“, wie es bei Cioran so oft sarkastisch lautet. Ebenso gehört dazu die Vorliebe für das Extreme, zumindest das Einseitige als Preis intellektueller Konsequenz.
Zu dieser Vorliebe hat Cioran sich immer wieder bekannt, bis in seine späten Jahre. Damit scheint er freilich ein typischer Intellektueller des 20. Jahrhunderts zu sein, von dem man zuweilen pauschal und doch nicht falsch als von einem Jahrhundert der Extreme gesprochen hat. Die allermeisten der intellektuellen Zeitgenossen Ciorans empfanden Geistigkeit, den Schmerz der Reflexion oder der Entzweiung zwischen Ich und Welt, als einen peinlichen Zwischenzustand, den es „in einem katastrophalen Ja“ (N 95) zu überwinden gälte. Diese Situation des Denkers, der endlich zum Täter werden will, ist Cioran vertraut. Als ganz junger Mann hatte er sein rhetorisches Talent der großrumänischen Garda de Fier und ihrem radikalnationalistischen Machtwillen angetragen. Schon damals allerdings hatte ihn auch die Frage geplagt, wie man die moderne – bei Nietzsche und auch bei Marx erlernbare – Geste eines intellektuellen Ermächtigers der Macht mit intellektueller Selbstachtung vereinen könne.
Zunächst versuchte Cioran es mit Frivolität. Er gab den Intimkenner der Gewaltpolitik, der zynisch-offenherzig aus ihrem Nähkästchen plaudert; während seiner rumänischen und deutschen Jahre für ihn die einzige Haltung, sich als Intellektueller nicht vor sich selbst lächerlich zu machen. Aus dem jugendlichen Schauzynismus wird im Pariser Exil eine so penetrante wie subtile Selbstironie, eine Erhebung über die eigene Lebenspraxis als „Gelegenheitsdenker“. Jemand also, der nicht immer denken will, der nicht methodisch vom Denken her das Leben meistern kann, der aber eben deshalb vielleicht beidem gerecht wird, dem Denken wie dem Leben – im Modus ihrer Unversöhnbarkeit. Was Cioran „das Heil im Absoluten“ nennt, letztlich seine Religiosität, das ist von seinem Dualismus untrennbar, von der Gewißheit, daß dem Heiligen in dieser Welt kein sichtbares Symbol entsprechen kann. Die religiöse Idee der Inkarnation habe sich in all ihren Nachfolgeideologien, den politisch-revolutionären wie den lebensreformerischen, restlos erschöpft.
Ciorans vielzitierter Extremismus bekundet sich im Unglauben an symbolische Vermittlungen, an Vermittlungen überhaupt – ob im Künstlerischen, Philosophischen oder eigentlich Religiösen. Keine Synthesen also, statt dessen Extreme, wohin man auch blickt. Auch als Schriftsteller schwankte Cioran zwischen der Suada und der Sehnsucht nach dem Verstummen, zwischen endlos wuchernder Assoziation und aphoristischer Verknappung. „Empfindungen eines armen Teufels – und Empfindung eines Gottes – ich habe keine anderen gekannt. Punkt und Unendlich, meine Dimensionen, meine Existenzarten.“ (Notiz vom Februar 1958) Das Einseitige und dadurch extrem Wirkende ist für Cioran der irdisch zugängliche Ausdruck eines Unendlichen, das sich in keine Endlichkeit religiöser, sozialer, politischer Bekenntnisse bannen läßt. Es bleibt ein ambivalentes Unendliches, das sich im Menschen als Sinnentrieb, Geistesehrgeiz, Erlösungsstreben wie auch als Langeweile bemerkbar machen kann.
Die Ablehnung des Werkes im Künstlerischen – man denke an den Kult ums autonome Kunstwerk noch im ersten Jahrhundertdrittel! – korreliert der Ablehnung des Systems im Philosophischen. Beides kommt aus der Selbsterfahrung des reflektierenden Intellekts, daß er aus eigenen Mitteln nicht über sich hinausgelangt, daß alle Positivitäten, auf die zu hoffen ist, nicht-reflexiver, nicht-bewußter Natur sein müssen und vor allem nicht durch individuelle Schöpfungsakte erzeugbar sind. Solch radikaler Dualismus zwingt zur Wahl zwischen Selbstauslieferung an ein ungeistiges (geistloses, geistfeindliches) Äußeres oder einer rücksichtslos vorangetriebenen Erschöpfung der Reflexion selbst, und zwar einer seelischen gleichwie leiblichen Erschöpfung.
Hier kommt Ciorans Verhältnis zur Skepsis ins Spiel. Das Etikett „Radikalskeptiker“ hat er ohne Widerspruch akzeptiert. Auch der Zweifel ist Cioran immer beides, zum einen Raserei der entfesselten Reflexion, zum anderen vitale Lähmung; manchmal Gleichgültigkeit, jedoch stets Distanz zu den anderen wie zu sich selbst. „Ich bin der am wenigsten Spontane der Rasenden, ich wohne so hellsichtig wie irgend möglich all meinen unüberlegten Taten bei. Aber das nützt mir nichts, da ich sie nicht verhindern kann.“ (zit. nach Mattheus 214) In keinem Fall ist die Skepsis eine Technik, durch die ein Geist Herr seiner selbst und des Seins wird. Im Gegenteil: Als endlose Befragung, „Unverträglichkeit mit dem Sein“ (AZ 50), ist sie eher eine angeborene Disposition. Über diese hat man so wenig Gewalt wie über eine körperliche Eigenschaft. Wenn Cioran seinen Zweifel einen physischen, ja organischen nennt, dann ist das keine herbeigezerrte Metapher. Zweifel ist die Natur des Geistes, der Cioran hauptsächlich als individuelles Bewußtsein und Reflexion, weniger als objektive Entität oder Institution interessiert. Geist als aktive, vermeintlich positiv-schöpferische Kraft scheint Cioran etwas durchaus Künstliches; Geistigkeit als literarisches, philosophisches Agens zumal, das bedeutet, die angeborene Lebensdistanz zum Lebensprinzip zu machen. Dergleichen birgt das Risiko, als Intellektueller Erfolg zu haben und das Heil im Absoluten zu verspielen, christlich gesprochen: die Seele dranzugeben. Das seelische, aber auch das leibliche Opfer, das dem professionellen Intellekt zu bringen ist, hat Cioran sein Leben lang mitgedacht, angesichts einer Reflexion, die von sich aus keine Ruhe finden kann. Die Weisheitsrezepte antiker wie moderner Lehrer der Ruhigstellung verfingen nicht bei diesem schlaflosen Denker. Sein Zweifel traf auch sie: Weisheit ist weder angeborene noch erlernbare Distanz zu jenem unweisen, weil unerfüllbaren Ehrgeiz des Geistes zur Weltaneignung, sie ist vielmehr erschöpfter Ehrgeiz. Das aber setzt dessen Entfaltung voraus. Man muß sich – ob als Künstler, ob als Intellektueller – verwirklicht haben; ein banalisierter Ausdruck deutscher Systemphilosophen und moderner Psychotherapeuten, den Cioran verachtete und doch oft benutzte. Erst dann könne man den Wert oder besser Unwert jener künstlich geschaffenen Wirklichkeit erkennen. Den Weisen findet Cioran nur als erschöpften, „pensionierten Zerstörer“ (N 110) überzeugend.
Auch im enger philosophischen Sinne schließt der Cioransche Zweifel jede Lenkbarkeit aus. Im antiken Pyrrhonismus hatte der Skeptiker gegenüber der Weisheitskonkurrenz etwa von Stoa oder Platonismus eine höhere Reflexionsstufe beansprucht, da philosophischer Zweifel nicht nur Heilsrezepte für die Übel der Welt, sondern auch für die Übel aus verfehlten Heilsrezepten verhieß. Diese Überlegenheit sollte im nicht-aggressiven, nicht-missionarischen, ja beinahe passiven Wesen der Skepsis gegründet sein. Der Preis dafür war eine Unbeherrschbarkeit des Zweifels selbst; Zweifel als Pathos und Passion. Die philosophische Neuzeit vermochte diese Eigendynamik des Zweifels auf dramatische Weise zu illustrieren. Ihre Erfahrung wurde es, daß Skepsis sich nicht zu Gewißheiten höherer Ordnung verbauen läßt, etwa dadurch, daß man cartesianisch an allen Weltgewißheiten zweifelt und die eigene Person (das ego cogitans) davon ausnimmt. Radikale Skepsis kann eine erneuerte Gläubigkeit befördern, aber auch eine Selbstrelativierung des Geistes. Diese letztere Konsequenz, eine Selbstbefragung bis zur Selbstuntergrabung, haben der westliche Rationalismus und die europäische Aufklärung nur ungern gezogen. Cioran stand in einer anderen intellektuellen Tradition, in jener, die von der französischen Moralistik ausgeht. Dort war ein Selbstmißtrauen zur intellektuellen Lebenspraxis sublimiert worden.
Für Cioran jedoch war der Selbstzweifel nicht allein ein Bedürfnis oder ein Resultat ausgeprägter Beobachtungsgabe, sondern die genuine Bestimmung aller Reflexion, welche...