Harris Das Schweigen der Lämmer
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-09665-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 3, 432 Seiten
Reihe: Hannibal Lecter
ISBN: 978-3-641-09665-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nur ein Mann kann dem FBI noch helfen, den geistesgestörten Frauenmörder 'Buffalo Bill' zu finden: Dr. Hannibal Lecter, der wegen einer Reihe von Verbrechen in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik verwahrt wird. Die junge FBI-Agentin Clarice Starling soll ihn verhören, ohne zu wissen, auf welch teuflisches Spiel sie sich einlässt.
Thomas Harris, 1940 geboren, begann seine Karriere als Journalist und schrieb hauptsächlich über Gewaltkriminalität in den USA und Mexiko. Danach arbeitete er als Reporter und Redakteur bei Associated Press in New York. Von Thomas Harris sind bislang fünf Romane erschienen, die sich weltweit über 30 Millionen Mal verkauft haben und allesamt verfilmt wurden. Sein größter Erfolg war 'Das Schweigen der Lämmer', das wochenlang die Bestsellerliste der New York Times anführte und als Verfilmung einen Oscar für den besten Film erhielt.
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1
Die Abteilung Verhaltensforschung, die beim FBI für Serienmorde zuständig ist, befindet sich, halb unter der Erde, im untersten Geschoß der Academy in Quantico. Nach einem raschen Fußmarsch von Hogan’s Alley auf dem Schießstand kam Clarice Starling mit rotem Kopf dort an. Weil sie sich auf dem Schießstand bei einer Festnahmeübung mit Feindbeschuß auf den Boden geworfen hatte, hatte sie Grashalme im Haar und Grasflecken auf ihrer FBI-Academy-Windjacke.
Im Vorzimmer war niemand, deshalb brachte sie sich anhand ihres Spiegelbilds in der Glastür rasch in Ordnung. Sie wußte, sie sähe, auch ohne sich groß zurechtzumachen, ganz passabel aus. Ihre Hände rochen nach Pulverdampf, aber um sie zu waschen, reichte die Zeit nicht – Abteilungschef Crawfords Anordnung hatte gelautet: sofort.
Sie traf Jack Crawford allein in der Bürosuite an. Er stand inmitten des allgemeinen Durcheinanders am Schreibtisch von jemand anderem und telefonierte, so daß sie zum erstenmal seit einem Jahr Gelegenheit hatte, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Was sie sah, beunruhigte sie.
Normalerweise sah Crawford aus wie ein sportlicher Ingenieur mittleren Alters, der sich sein Collegestudium mit Baseballspielen verdient haben könnte – ein geschickter Fänger, der an der Home Plate nichts anbrennen ließ. Doch jetzt war er mager, sein Hemdkragen war zu weit, und er hatte dunkle Tränensäcke unter den geröteten Augen. Jeder, der Zeitung lesen konnte, wußte, in der Verhaltensforschung war der Teufel los. Starling hoffte, Crawford hatte nicht zu trinken angefangen. Das schien hier höchst unwahrscheinlich.
Crawford beendete das Telefongespräch mit einem scharfen »Nein«. Er zog ihre Personalakte unter seinem Arm hervor und schlug sie auf.
»Starling, Clarice M., guten Morgen.«
»Hallo.« Ihr Lächeln war nur höflich.
»Es gibt nichts zu beanstanden. Hoffentlich haben Sie sich keine Sorgen gemacht, daß ich Sie herbestellt habe.«
»Habe ich nicht.«Nicht ganz wahr, dachte Starling.
»Ihre Ausbilder sagen, Sie machen sich gut, oberstes Viertel der Klasse.«
»Das hoffe ich, aber sie haben die Bewertungen noch nicht am Schwarzen Brett ausgehängt.«
»Ab und zu erkundige ich mich bei ihnen.«
Das überraschte Starling; sie hatte Crawford als einen Rekrutenwerber abgeschrieben, der sich einen Dreck um sie scherte.
Kennengelernt hatte sie Special Agent Crawford als Gastdozenten an der University of Virginia. Die Qualität seiner kriminologischen Seminare hatte maßgeblich dazu beigetragen, daß sie zum FBI gegangen war. Als sie die Zulassung zur Academy erhielt, schrieb sie ihm einen Brief, auf den er jedoch nicht antwortete, und in den drei Monaten, die sie inzwischen in Quantico in Ausbildung war, hatte er keine Notiz von ihr genommen.
Starling stammte aus einer Familie, in der man andere nicht um Gefallen bat oder sich aufdrängte, aber Crawfords unerklärliches Verhalten hatte sie ihren Schritt bedauern lassen. Doch als sie jetzt vor ihm stand, mochte sie ihn wieder, stellte sie zu ihrem Bedauern fest.
Offensichtlich stimmte etwas nicht mit ihm. Crawford war nicht nur intelligent, sondern hatte auch einen gewissen Stil, was Starling zum erstenmal an seinem Sinn für die Farben und Materialien seiner Kleidung aufgefallen war, und das selbst innerhalb der wenig Spielraum lassenden Kleiderordnung für FBI-Agenten. Jetzt war er korrekt, aber fad gekleidet, als sei er in der Mauser.
»Ich hätte da einen Auftrag, bei dem ich an Sie gedacht habe«, sagte er. »Eigentlich ist es gar kein richtiger Auftrag, eher eine interessante Nebenbeschäftigung. Nehmen Sie Berrys Sachen von dem Stuhl da und setzen Sie sich. Sie haben hier geschrieben, daß Sie sofort zur Verhaltensforschung wollen, wenn Sie mit der Academy fertig sind.«
»Das ist richtig.«
»Sie haben zwar viel forensische Praxis, aber so gut wie keine Erfahrung im Polizeidienst. Das Minimum sind sechs Jahre.«
»Mein Vater war Marshal, ich weiß Bescheid.«
Crawford lächelte verhalten. »Was Sie allerdings vorweisen können, sind zwei Hauptabschlüsse in Psychologie und Kriminologie. Und wie viele Sommer haben Sie in einer Nervenheilanstalt gearbeitet – zwei?«
»Zwei.«
»Ihre Therapeutenlizenz, ist sie noch gültig?«
»Sie ist noch zwei Jahre gültig. Ich habe sie gemacht, bevor Sie das Seminar an der UVA hielten – bevor ich beschloß, mich hier zu bewerben.«
»Sie gerieten allerdings in den Einstellungsstopp.«
Starling nickte. »Trotzdem hatte ich Glück – ich machte noch rechtzeitig meinen Abschluß in forensischer Chemie. Deshalb konnte ich im Labor arbeiten, bis in der Academy ein Platz frei wurde.«
»Sie haben mir geschrieben, daß Sie hierherkommen würden, aber ich glaube, ich habe Ihnen nicht geantwortet – ich weiß, ich habe nicht geantwortet. Ich hätte es tun sollen.«
»Sie hatten genug anderes zu tun.«
»Wissen Sie etwas über VI-CAP?«
»Ich weiß, es ist die Abkürzung für das Violent Criminal Apprehension Program. Im Law Enforcement Bulletin stand, Sie arbeiten an einer Datenbank, die aber noch nicht einsatzreif ist.«
Crawford nickte. »Wir haben einen Fragebogen entwickelt. Er eignet sich für alle bekannten Serienmörder der jüngsten Vergangenheit.« Er reichte ihr einen dicken, provisorisch zusammengehefteten Stoß Papiere. »Er besteht aus einem Teil für Ermittler und einem für überlebende Opfer, so vorhanden. Der blaue Teil ist für den Mörder, falls er die Fragen beantworten will, und der rosa Teil enthält eine Reihe von Fragen, die ein psychologischer Gutachter dem Mörder stellt, wobei er sowohl seine Reaktionen wie seine Antworten festhält. Es ist eine Menge Schreibkram.«
Schreibkram. Clarice Starlings Eigeninteresse schnüffelte los wie ein eifriger Beagle. Sie witterte ein Stellenangebot – vermutlich irgendeine stumpfsinnige Tätigkeit wie Basisdaten in ein neues Computerprogramm eingeben. Einerseits war es verlockend, schon mal, egal in welcher Funktion, ein Bein in der Verhaltensforschung zu haben, andererseits wußte sie, was mit Frauen passierte, die einmal als Sekretärin abgestempelt waren – man wurde diesen Makel bis an sein Lebensende nicht mehr los. Eine Entscheidung kam auf sie zu, und sie wollte sich gut entscheiden.
Crawford wartete auf etwas – er mußte ihr eine Frage gestellt haben. Starling versuchte angestrengt, sich daran zu erinnern:
»Mit welchen Tests haben Sie schon Erfahrung? Minnesota Multiphasic, haben Sie den mal gemacht? Rorschach?«
»Den MMPI ja, Rorschach nie. Ich habe den TAT gemacht und mit Kindern auch Bender-Gestalt.«
»Sind Sie schreckhaft, Starling?«
»Bisher nicht.«
»Wissen Sie, wir haben versucht, sämtliche zweiunddreißig Serienmörder, die sich in Haft befinden, zu vernehmen und zu untersuchen, um für ungelöste Fälle eine Datenbank zur Erstellung von Psychogrammen aufzubauen. Die meisten haben mitgemacht – ich glaube, sie können gar nicht anders, als sich aufzuspielen, jedenfalls viele von ihnen. Siebenundzwanzig zeigten sich kooperationsbereit. Vier Todeskandidaten mit anhängigen Gnadengesuchen haben sich verständlicherweise gesperrt. Aber den, der uns am meisten interessiert, konnten wir bisher noch nicht rumkriegen. Ich möchte, daß Sie morgen in der Anstalt Ihr Glück mit ihm versuchen.«
Clarice spürte ein freudiges Klopfen in der Brust, aber auch eine gewisse Besorgnis.
»Wer ist der Kandidat?«
»Der Psychiater – Dr. Hannibal Lecter.«
Auf diesen Namen folgt unter zivilisierten Menschen immer ein kurzes Schweigen.
Starling sah Crawford unverwandt an, aber sie war eine Spur zu reglos. »Hannibal der Kannibale.«
»Ja.«
»Aha, hm – okay, gut. Ich freue mich über die Chance, aber ich sollte Ihnen vielleicht sagen, daß ich mich frage – warum ich?«
»In erster Linie, weil Sie abkömmlich sind«, sagte Crawford. »Ich rechne nicht damit, daß er mitmacht. Er hat bereits abgelehnt, aber das lief über einen Mittelsmann – den Leiter der Klinik. Ich muß sagen können, unser qualifizierter psychologischer Gutachter hat ihn aufgesucht und persönlich gefragt. Für diese Entscheidung gibt es Gründe, die nichts mit Ihrer Person zu tun haben. Ich habe in dieser Abteilung niemanden mehr, der es tun könnte.«
»Personelle Engpässe – Buffalo Bill – und die Geschichte in Nevada.«
»Ganz richtig, Starling. Das alte Lied – nicht genug Menschenmaterial.«
»Sie sagten, morgen – Sie haben es eilig. Irgendwelche Auswirkungen auf ein laufendes Ermittlungsverfahren?«
»Nein, aber ich wünschte, es wäre so.«
»Wenn er nicht mitmacht – möchten Sie trotzdem ein psychologisches Gutachten?«
»Nein. Ich stecke bereits bis zum Bauchnabel in Patientunzugänglich-Gutachten über Dr. Lecter, und jedes fällt anders aus.«
Crawford schüttelte zwei Vitamin-C-Tabletten in seine Handfläche und gab am Eiswasserspender noch ein Alka-Seltzer dazu, bevor er alles hinunterspülte. »Es ist wirklich lachhaft, wissen Sie; Lecter ist Psychiater und schreibt selbst für psychiatrische Zeitschriften – lauter hochkarätige Beiträge –, aber nie über seine eigenen kleinen Anomalien. Einmal tat er so, als ließe er sich von Chilton, dem Anstaltsleiter, verschiedenen Tests unterziehen – saß mit einer Blutdruckmanschette um seinen Penis da und sah sich Bilder von Autounfällen an –, doch dann veröffentlichte Lecter vor Chilton, was er über ihn herausgefunden hatte, und stellte ihn in aller Öffentlichkeit bloß. Er antwortet auf ernsthafte Zuschriften von Psychiatriestudenten...