Harris Hannibal Rising
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-19754-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 352 Seiten
Reihe: Hannibal Lecter
ISBN: 978-3-641-19754-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Dämon erwacht: Thomas Harris führt uns in die Kindheit des genialen, äußerst kultivierten und monströsen Serienkillers. Er enthüllt den Albtraum, den Hannibal erlebt und der ihn bald zu eigenen Gräueltaten treibt. Das dunkle Trauma des Hannibal Lecter - die atemberaubende Vorgeschichte zu den Welterfolgen 'Roter Drache', 'Das Schweigen der Lämmer' und 'Hannibal'.
Thomas Harris, 1940 geboren, begann seine Karriere als Journalist und schrieb hauptsächlich über Gewaltkriminalität in den USA und Mexiko. Danach arbeitete er als Reporter und Redakteur bei Associated Press in New York. Von Thomas Harris sind bislang fünf Romane erschienen, die sich weltweit über 30 Millionen Mal verkauft haben und allesamt verfilmt wurden. Sein größter Erfolg war 'Das Schweigen der Lämmer', das wochenlang die Bestsellerliste der New York Times anführte und als Verfilmung einen Oscar für den besten Film erhielt.
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Familie Lecter überstand die fürchterlichen dreieinhalb Jahre von Hitlers Russlandfeldzug unbeschadet in ihrem Jagdhaus im Wald. Im Winter war der lange Weg durch den Wald tief verschneit, im Frühling mit Gestrüpp zugewachsen und im Sommer vom Regen so stark aufgeweicht, dass es für einen Panzer kein Durchkommen gab.
Die reichen Mehl- und Zuckervorräte im Jagdhaus brachten sie ohne Probleme durch den ersten Winter, zumal es dort auch mehrere Fässer mit Salz gab. Im zweiten Winter fanden sie ein erfrorenes Pferd. Es gelang ihnen, das erstarrte Fleisch mit Äxten zu zerteilen und in Salz einzulegen. Auch Forellen und Rebhühner pökelten sie.
Manchmal kamen nachts Männer in Zivilkleidung vorbei, um wenig später, lautlos wie Schatten, wieder im Wald zu verschwinden. Graf Lecter und der Stallknecht Berndt sprachen auf Litauisch mit ihnen. Einmal brachten sie einen Mann mit einem blutgetränkten Hemd, der auf einer Pritsche in der Ecke starb, während ihm das Kindermädchen Nana mit einem feuchten Tuch das Gesicht abtupfte.
An den Tagen im Winter, an denen der Schnee zu tief war, um im Wald auf Nahrungssuche zu gehen, erteilte der Hauslehrer Herr Jakov den Kindern Unterricht. Angepasst an ihre jeweiligen Fähigkeiten, brachte er Hannibal und Mischa Englisch und die Grundbegriffe des Französischen bei und unterrichtete sie und manchmal auch die Erwachsenen in römischer Geschichte, wobei er sich hier ganz besonders mit den Belagerungen Jerusalems befasste. Er fand in ihnen allen aufmerksame Zuhörer, denn er schilderte die historischen Ereignisse und biblischen Geschichten sehr spannend und anschaulich, und manchmal schmückte er sie in einem Maß aus, das nicht mehr unbedingt etwas mit Wissenschaft zu tun hatte.
In Mathematik unterrichtete er Hannibal allein, weil hier kaum jemand mit dem Jungen mithalten konnte.
Unter Herrn Jakovs Büchern im Jagdhaus befand sich eine ledergebundene Ausgabe von Christiaan Huyghens’ Abhandlung über das Licht, die es Hannibal besonders angetan hatte. Wenn er Huyghens’ Gedankengängen Schritt für Schritt folgte, hatte er das Gefühl, sich auf geistiges Neuland zu begeben. Er brachte die Abhandlung über das Licht mit dem Funkeln des Schnees und mit den regenbogenfarbenen Schlieren in den alten Fensterscheiben des Jagdhauses in Verbindung. Die reizvolle Geradlinigkeit von Huyghens’ Gedanken erschien ihm wie die klaren und einfachen Linien des Winters, wie die Struktur unter den Blättern. Wie ein geheimnisvolles Kästchen, das sich mit einem leisen Klicken öffnete und den Blick freigab auf das Prinzip in seinem Innern, das sich auf alles anwenden ließ. Dieser verlässlich sich einstellende Kitzel war ihm vertraut, seit er lesen konnte.
Hannibal Lecter war ständig in irgendwelche Bücher vertieft, so erschien es zumindest Nana, dem Kindermädchen. Als er zwei Jahre alt war, hatte sie ihm noch vorgelesen, meistens aus einer Ausgabe der Grimm’schen Märchen, die mit Holzschnitten illustriert war, auf denen alle Figuren lange, spitze Zehennägel hatten. Hannibal hatte ihr dann, den Kopf an ihre Brust geschmiegt, fasziniert zugehört und dabei unablässig auf die Wörter auf den Seiten geschaut, bis sie ihn eines Tages dabei ertappte, wie er selbstständig in dem Buch las. Er drückte die Stirn auf die Seite, hob dann den Kopf auf Sichtweite und begann, in Nanas Akzent laut zu lesen.
Hannibals Vater hatte eine hervorstechende Eigenschaft – Neugier. Und diese Neugier veranlasste Graf Lecter damals dazu, dem Majordomus Lothar aufzutragen, Hannibal die schweren Wörterbücher aus der Schlossbibliothek zu holen – das englische, das französische, das deutsche und die 23 Bände des litauischen Wörterbuchs –, und dann wurde der Junge mit den Büchern sich selbst überlassen.
Als Hannibal sechs war, hatte er drei einschneidende Erlebnisse, die sich prägend auf sein ganzes späteres Leben auswirken sollten.
Zuerst stieß er in der Schlossbibliothek auf eine alte Ausgabe von Euklids Elementen. Er fuhr die von Hand gezeichneten Abbildungen mit dem Finger nach und drückte die Stirn auf sie.
Als Nächstes bekam er im Herbst seine kleine Schwester Mischa. Er fand, sie sah aus wie ein verschrumpeltes rotes Eichhörnchen. Insgeheim bedauerte er, dass sie nicht das Aussehen seiner Mutter hatte.
Als sich die Aufmerksamkeit der anderen plötzlich nur noch um seine kleine Schwester drehte, begann er sich zunehmend häufiger vorzustellen, wie schön es wäre, wenn der Adler, den er manchmal über der Burg kreisen sah, Mischa behutsam in die Lüfte höbe und in ein fernes Land mit glücklichen Gnomen trüge, die alle wie Eichhörnchen aussahen und bestens zu ihr passten. Zugleich stellte er jedoch auch fest, dass er Mischa über alles liebte, und er nahm sich fest vor, ihr, sobald sie alt genug wäre, sich eigene Gedanken zu machen, alle möglichen interessanten Dinge zu zeigen und sie mit dem Reiz des Forschens und Entdeckens vertraut zu machen.
Im selben Jahr bemerkte Graf Lecter, dass sein Sohn unter, wie Hannibal es ausdrückte, »Euklids persönlicher Anleitung« anhand der Länge ihrer Schatten die Höhe der Burgtürme berechnet hatte. Das veranlasste Graf Lecter, sich nach einem besseren Hauslehrer umzusehen – und keine sechs Wochen später traf Herr Jakov, ein bettelarmer Gelehrter aus Leipzig, auf Burg Lecter ein. Die Begegnung mit ihm führte zum dritten einschneidenden Erlebnis Hannibals.
Graf Lecter stellte Herrn Jakov seinen neuen Schüler in der Schlossbibliothek vor und ließ die beiden dann allein. An regnerischen Tagen hing ein Hauch von kaltem Rauchgeruch in der Bibliothek, der unauslöschlich in das uralte Gemäuer eingegraben schien.
»Mein Vater sagt, Sie werden mir viel beibringen.«
»Wenn du viel lernen willst, kann ich dir dabei helfen.«
»Er hat mir erzählt, Sie sind ein großer Gelehrter.«
»Ich bin ein Lernender.«
»Meiner Mutter hat er erzählt, Sie wären von der Universität ausgeschlossen worden.«
»Ja, das stimmt.«
»Warum?«
»Weil ich Jude bin – Aschkenase, um genau zu sein.«
»Aha. Sind Sie unglücklich?«
»Dass ich Jude bin? Darüber bin ich froh.«
»Nein, ich meinte: Sind Sie traurig, nicht mehr an der Universität lehren zu können?«
»Ich bin froh, hier zu sein.«
»Fragen Sie sich, ob ich Ihre Zeit auch wert bin?«
»Jeder verdient es, dass man sich mit ihm beschäftigt, Hannibal. Wenn jemand auf den ersten Blick langweilig erscheint, musst du nur genauer hinsehen, du musst in ihn hineinsehen.«
»Hat man Sie in dem Zimmer mit dem Eisengitter vor der Tür untergebracht?«
»Ja.«
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen – es lässt sich nicht mehr abschließen.«
»Das habe ich zu meiner Beruhigung auch schon festgestellt.«
»In diesem Raum war früher einmal Onkel Elgar untergebracht.« Hannibal begann, seine Stifte vor sich aufzureihen. »Das war in den 1880er Jahren, lange vor meiner Zeit. Sehen Sie sich die Fensterscheibe in Ihrem Zimmer einmal genauer an. In das Glas ist mit einem Diamanten ein Datum eingeritzt. Das hier sind die Bücher, die Onkel Elgar geschrieben hat.«
Hannibal deutete auf ein Regal voll riesiger Lederfolianten, von denen einer stark verkohlt war.
»Wenn es draußen regnet, riecht es hier drinnen immer nach Rauch. Die Wände waren mit Heuballen verkleidet, um seine Reden zu dämpfen.«
»Seine Reden?«
»Ja, es ging darin um religiöse Fragen, aber … wissen Sie, was ›Unzucht‹ oder ›unzüchtig‹ bedeutet?«
»Ja.«
»Ich selbst weiß es zwar nicht so genau, aber ich glaube, es bedeutet Dinge, die man in Mutters Anwesenheit nicht sagen würde.«
»So könnte man es ausdrücken«, bestätigte Herr Jakov.
»Was das Datum auf der Fensterscheibe angeht – es ist genau der Tag, an dem jedes Jahr der erste Sonnenstrahl auf das Fenster trifft.«
»Onkel Elgar hat auf die Sonne gewartet.«
»Ja, und es ist auch der Tag, an dem er dort drinnen verbrannt ist. Sobald der erste Sonnenstrahl in sein Zimmer fiel, bündelte er mit dem Monokel, das er beim Verfassen dieser Bücher trug, das Licht und entzündete damit das Heu, mit dem die Wände ausgekleidet waren.«
Im Anschluss an dieses Gespräch zeigte Hannibal seinem neuen Lehrer Burg Lecter. Nach der Besichtigung des Hauptgebäudes überquerten sie den Hof mit dem mächtigen Steinblock, in dessen Mitte ein massiver eiserner Ring eingelassen war. Auf der flachen Oberseite des Steins waren die Scharten einer Axt zu erkennen.
»Dein Vater hat mir erzählt, du hast die Höhe der Burgtürme berechnet.«
»Ja.«
»Wie hoch sind sie?«
»Der Südturm genau vierzig Meter, der andere einen halben Meter niedriger.«
»Was hast du als Gnomon verwendet?«
»Den Stein hier. Ich habe die Höhe des Steins und die Länge seines Schattens gemessen und dann um die gleiche Uhrzeit den Schatten der Türme, und anhand dieser Längenverhältnisse habe ich anschließend mithilfe des Strahlensatzes die Höhe der Türme berechnet.«
»Die Seitenkanten des Steins sind aber nicht genau senkrecht.«
»Deshalb habe ich mein Jojo als Senkblei verwendet.«
»Konntest du die zwei Messungen gleichzeitig vornehmen?«
»Nein, Herr Jakov.«
...